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Die besten Flughäfen der Welt Falsche Sehnsüchte, Dorothy von Beroldingen und der Abschlussfilm des Hongkong Filmfestival 2010: lauter Faits divers auf der Suche nach Bedeutung. Eine Tatsachenerzählung aus dem Jet Set für jedermann

Von Matthias Dell

 

«Da capo», erklärt der «dtv-Altas Musik», Band 1, 18. Auflage Oktober 1998, heißt «von vorne, vom Anfang an nocheinmal, gleichbedeutend mit: da capo al fine, Wiederholung vom Anfang bis zum Ende bzw. zu der mit ‹Fine› oder einer Fermate bezeichneten Stelle. Die Teilwiederholungen innerhalb dieser Strecke entfallen dabei, was zuweilen durch da capo senza repetizione eigens angezeigt wird».

Die Vortragsangabe führt zurück in die Erinnerung an die Gitarrenstunden der Kindheit: zu den heißen Sommernachmittagen unter dem Dach der von der späten DDR mit Stolz und Aufwand renovierten Musikschule, in denen der leicht elefantenhafte Lehrer mit lustigem Schnauzbart und den goofygroßen Schuhen, der, während ich spielte, was die auf ältlich getrimmten, mildgrünen Notenhefte der Edition Peters von mir verlangten, nicht selten einen Schluck aus seiner riesigen, vom Tee bräunlich getönten transparenten Trinkflasche nahm. Mitunter verschluckte er sich fast, um dringlich und leicht vorwurfsvoll mit dem Bleistift auf den Notenständer zu schlagen, wenn ich das Spiel beenden wollte, ohne das «Da capo» berücksichtigt zu haben.

Heute denke ich, dass man das «Da capo» unbedingt berücksichtigen muss. Oder vielmehr: dass man das «Da capo» gar nicht nicht berücksichtigen kann. Es taucht in der Partitur des Lebens an Stellen auf, an denen man nicht mit ihm rechnen würde, und dann läuft, ob man es will oder nicht, eine Vergangenheit wieder ab, mal ferner, mal näher, und stellt Verbindungen her, über deren Sinn man sich den Kopf zerbricht.

Und das kam so.

Auf dem Album «Kapitel Elf» der Berliner Band Keimzeit, das 1991 erschien, gibt es ein Lied mit dem Titel «Singapur». Es handelt sich um eine so genannte Ballade, die neben einem Klaviersolo, das auch von Herbert Grönemeyer stammen könnte, ein Saxofon- und ein Gitarrensolo bereithält. Der Text, vorgetragen von der kindlich-heiseren Stimme des Keimzeit-Sängers Norbert Leisegang, moduliert ein Gefühl von tief empfundener Wehmut: «Wir legen ab und fahr’n nach Singapur || Mit ’nem Schiff aus schäbigem Holz.» Es geht um eine internationalisierte Schiffsbesatzung von Outlaws, die das Ziel ihrer gemeinsamen Sehnsucht eint, das eben Singapur heißt. 1991, als zumindest die ostdeutsche Nachwendejugend noch in so geringem Maße ausdifferenziert war, dass Keimzeit für eine relativ breite Masse konsensfähig war, stellte das Lied eine Art umgekehrtes Déja-vu dar: Es beschrieb eine Melancholie, die man erst Jahre später in vollem Umfang würde begreifen können. Was im Lied «Singapur» heißt, ruft aus heutiger Sicht eher nicht gehabte Erinnerungen an ein in seiner individuellen Freiheit disparates Slackerdasein in verfallenden Altbauten und verlassenen Hinterhöfen Ost-Berlins der späten 80er Jahre auf.

Dass dafür als Sehnsuchtsmetapher ausgerechnet Singapur herhalten musste, erklärt sich irgendwie von allein, ohne dass damit etwas erklärt wäre: Zum einen liegt es, von Europa aus gesehen, kurz vor dem anderen Ende der Welt, also sehr weit weg. Zum anderen lässt der Name an Bilder einer Geschichte denken, die man nicht kennen muss, um sie zu verstehen. Er führt zurück ins 19. Jahrhundert, als Kolonialismus eine verbreitete Praxis der westlichen Welt war und europäische Handlungskompanien ferne Orte in Beschlag nahmen, zu denen sich dann Aussteiger flüchten konnten, um sich ihre Hoffnungen von einem besseren Leben zu erfüllen. Das interessierte 1991 aber kaum, die Welt war, vor allem aus Sicht einer relativ homogenen ostdeutschen Nachwendejugend, noch groß und weit und nicht zurechtgestutzt auf die Praktikabilität einer Handy-Applikation durch Begriffe wie «Globalisierung» oder «Gentrifizierung».

2010 war die ostdeutsche Nachwendejugend lange her. Und damit die Zeit, in der ich an den ersten warmen Sommerabenden aus dem leicht abseits und erhöht liegenden Neubaugebiet in die «Stadt», wie das Zentrum damals von allen nur genannt wurde, fuhr, ohne recht zu wissen, was ich dort eigentlich wollte und schließlich aus schüchterner Distanz auf das Treiben vor den provisorischen Orten jugendlichen Abhängens schaute.

Erstaunlicherweise begegnete mir «Singapur» in diesem Jahr gleich mehrmals. Das erste Mal, als ich eine Freundin aus den Tagen unter dem Dach der Musikschule wieder traf und auf ihrem Mp3-Player auf das Keimzeit-Lied stieß, das ich fast zwanzig Jahre nicht gehört hatte. Ein weiteres Mal, als Mitte des Jahres der Schauspieler Frank Giering starb und damit der Film, der von den Nachrufen als «sein» Film beschrieben wurde, wieder ins Bewusstsein drängte. Ich konnte mich, anders als fast alle anderen zu jener Zeit, für Absolute Giganten schon 1998 nicht recht begeistern, was mir damals einigen Verdruss bereitete. So schön die Bilder aussahen, so toll die Kickerszene gefilmt war, so sehr ich die Musik mochte und die Stimme von Frank Giering – alles zusammen kam mir übertrieben und pathetisch vor für das Leben von deutschen Jungs, die versuchten einer Sehnsucht nachzuhängen, die unbedingt größer als das eigene Leben sein sollte. Mir war die ungebrochen männliche Melancholie suspekt, mit der der Film von drei jungen Männern erzählte, die eine letzte gemeinsame Hamburger Nacht verlebten, als zögen sie morgen in den Krieg. Vielleicht hat zu dem Gefühl, dass an der behaupten Wehmut etwas nicht stimmte, dachte ich, als ich die Meldung von Frank Gierings traurigem Tod las, die Tatsache beigetragen, dass Frank Gierings Figur Floyd nach dieser letzten Nacht auf einem Containerschiff anheuern wollte, um erst nach Kapstadt und dann nach Singapur zu reisen: «Ich muss woanders hin, ich muss irgendwohin, wo ich wirklich hingehöre, ich weiß nicht, wo das ist, aber ich werd’s finden, und dann bleib ich da.»

Der Kritiker Rüdiger Suchsland schrieb damals über den Film, den er, etwas rätselhaft, «fast britisch» fand: «Bier, Fußball, Autos, wenig Frauen und dafür viel Langeweile – Hamburg ist offenbar auch nur Provinz, jedenfalls wenn man in seinen anonymen Vorstädten aufwächst. Aber rückblickend sieht das immer ganz anders aus. Und dann ist da noch die Musik.»

Ob Frank Gierings Floyd in Singapur das Zuhause gefunden hätte, das er in den Plattenbauten Hamburgs nicht hatte, ist nämlich genauso zu bezweifeln wie der Traum, den die zusammengewürfelte Schiffsbesatzung in dem Keimzeit-Lied träumte. Denn Singapur ist alles, bloß kein Sehnsuchtsort. Singapur ist das exakte Gegenteil dessen, was man sich als Platz vorstellt, an dem die Heimatlosen dieser Erde zum Glücklichwerden stranden. Dafür kommt eher vielleicht San Francisco in Frage, das zwar auch viel zu teuer ist für ein überkommen sentimentales Outlawtum, in dem es aber auch deshalb so viele Obdachlose gibt, weil die Politik dort liberaler ist als anderswo in Amerika und das Klima mild.

Dass Singapur zur Projektionsfläche nicht taugt, wurde mir bewusst, als mir Singapur das dritte Mal begegnete, als ich da war. Bewusstwerden ist vielleicht das falsche Wort für den Moment der Desillusionierung, die der Besuch im nachhinein für das Keimzeit- Lied und den Frank-Giering-Film bedeutete: Ich habe nicht einmal an die Bilder der Vergangenheit denken müssen angesichts der Realität einer wohlgeordneten, gut überwachten Büro- und Einkaufshölle, die Singapur tatsächlich ist. Sie hatten einfach nichts damit zu tun. Jede Form von Traum kann hier durch Konsum erstickt werden, die Stadt ist eine einzige Shopping Mall, durch die man sich in Taxis oder klimatisiert-cleanen High-Tech-Metros bewegt. In Singapur kann man Geld ausgeben, was das Leben angenehm macht. Wer aber kein Geld hat, lebt in Singapur nicht angenehm. So fuhr ich direkt zum Flughafen, um noch am Tag meiner Ankunft nach Hongkong weiterzufliegen und nicht, wie geplant, einen weiteren Tag dort zu verbringen.

Es war trotz der asiatischen Hypermoderne, deren Inbild Singapur ist, schwerer als gedacht, einen Platz im Flugzeug nach Hongkong zu buchen. Das letzte Flugzeug war schon weg und am Schalter konnte man kein Ticket für den Billigflieger am nächsten Morgen kaufen. Der einzige öffentliche Internetzugang im Changi Airport von Singapur befand sich allen Ernstes im Keller des Terminal 2 – in einem Waschsalon. «Systematic Laundromat» hieß das Geschäft, in dem kein Mensch saß; etwas unwillig kam die Angestellte aus dem Hinterzimmer an ihren Tresen, um mir einen Rechner zuzuweisen. Das wäre, scheint mir heute, eine Szene gewesen, die meine Vorbehalte gegen den Frank-Giering-Film hätte zerstreuen können: Ich saß in einem menschenleeren Waschsalon, in dem alle Maschinen stillstanden, um einen Flug nach Hongkong zu buchen, und las, nachdem ich den Vorgang abgeschlossen hatte und meine E-Mails anschauen wollte, in einer Nachrichtenmeldung meines Providers vom gerade veröffentlichten Skytrax-Ranking. Eine Umfrage nach den besten Flughäfen der Welt unter fast zehn Millionen Passagieren hatte ergeben, dass der Changi Airport von Singapur auf Platz 1 rangierte, jener Flughafen, in dessen «Systematic Laundromat» ich gerade saß. Die Gegenwart fühlt sich mitunter schäbig an, wenn man sie gerade erlebt. Aber rückblickend sieht das eben immer ganz anders aus. Hongkong belegte in der Liste der besten Flughäfen Platz 3 hinter Seoul.

Nach Singapur war ich nicht mit dem Schiff gekommen, sondern mit dem Zug aus Kuala Lumpur. Der leicht angejahrte Flughafen der Hauptstadt Malaysias, auf dem ich ein paar Tage zuvor gelandet war und auf dem überall stand, dass er in irgendwelchen Listen der vergangenen Jahre den Spitzenplatz als «World’s best Airport» behauptet hatte, nahm übrigens Platz 5 des Skytrax-Rankings ein (hinter München, was mir, obwohl ich noch nie auf dem Münchner Flughafen gewesen bin, absurd zu sein schien). Ein wenig kam ich mir vor wie das tapfere Schneiderlein, wie der Roger Federer eines nicht existierenden Grand Slam of Airports, der binnen weniger Tage drei der fünf weltweit besten Flughäfen durchschritt. Mich beschlich das Gefühl, dass dieses gerade veröffentlichte Skytrax-Ranking nur für mich gemacht worden war, der ich in dem «Systematic Laundromat» saß und mal eben einen Flug nach Hongkong buchte, was mir weitaus gewöhnlicher vorkam, als es sich auf dem Hintergrund der Liste anfühlte.

In Malaysia hatte ich eine ähnliche Entdeckung machen müssen, einen Moment erlebt, in dem die Unvorstellbarkeit der Weltgröße und all ihrer unüberschaubaren Bewegungen zusammenschrumpft auf eine Botschaft, deren einziger Adressat nur ich sein konnte. Im «Star», der führenden englischsprachigen Tageszeitung von Malaysia mit einer Auflage von 300 000 Exemplaren, entdeckte ich in einer Ausgabe, die ich mir nur wegen des Kinoprogramms gekauft hatte, den Artikel einer Autorin namens Evelyn Nieves, die davon berichtete, dass in den USA Obdachlose die öffentlichen Bibliotheken bevölkern. Illustriert war der Text mit einem Foto, das einen 40-jährigen Obdachlosen namens John Banks zeigte, der mit weißer Wollmütze und rotblondem, zauseligem Vollbart ratlos aus dem Fenster der Public Library von San Francisco schaute. John Banks saß in einem Rollstuhl, der auf so virtuose Weise mit seiner ganzen Habe bestückt war, dass ein abgewichster Kurator diesen samt John Banks sofort als Gastbeitrag in eine noch zu konzipierende Tracey-Emin-Look-alike-Schau der Berliner Guggenheim aufgenommen hätte.

Ich kannte John Banks nicht, aber ich erkannte seinen Rollstuhl wieder. Ende 2009 saß ich für zwei Stunden in der Public Library von San Francisco, um auf der Suche nach einer Nachricht vom Tod einer unbekannten Schauspielerin die Ausgaben des San Francisco Chronicle aus dem September 1980 auf Mikrofilm durchzusehen. Dabei stieß ich unter anderem auf die kuriose Meldung, dass die ehrenwerte Richterin Dorothy von Beroldingen in einer Mittagspause die Frage verhandelt hatte, ob die Bezeichnung «Frisco», die von Touristen benutzt wird, die Einwohner von San Francisco beleidige. Dorothy von Beroldingen, die dieser 22. Sitzung des so genannten Court of Historical Review vorsaß, befand nach Anhörung von sieben Zeugen, darunter ein Stadthistoriker, ein Fischhändler namens Joseph Tarentino und ein Folklore-Experte, dass es das tut. Die Strahlkraft dieses Urteils, das auf rührende Art und Weise mit falschen Zuschreibungen und ungenauem Mythologisieren aufräumen wollte, war vermutlich gering, was selbst der Schreiber der Meldung geahnt haben muss, der am Ende darauf verwies, dass die anwesenden High-School-Schüler erheitert reagierten. Vermutlich wäre Dorothy von Beroldingen die richtige Person gewesen, um in Sachen der deutschen Singapur-Sehnsüchte ein Urteil zu fällen. Sie ist aber 1999 im Alter von 84 Jahren gestorben.

Die Schwierigkeit beim Anschauen von Mikrofilmen besteht darin, die ideale Spulgeschwindigkeit zu finden. Sie liegt in der Mitte zwischen der Ungeduld, mit der man die seinerzeit noch üppigen Werbeseiten und epischen Wochenendbeilagen des «Chronicle» überfliegt, und jenem Punkt, an dem die Buchstaben so schnell vorüber jagen, dass der Versuch sie zu fixieren ein Gefühl von Übelkeit hervorruft. Diese Mitte verfehlte ich beständig, und so musste ich des Öfteren aufschauen, um mich nicht in der Public Library von San Francisco zu übergeben. Beim Aufschauen entdeckte ich den Rollstuhl von John Banks, von dem ich im letzten Jahr noch nicht wusste, dass er so heißt. Ich wusste noch nicht einmal, dass es ihn gibt, denn sein Rollstuhl stand verlassen in der Nähe der Internet-Arbeitsplätze der Bibliothek. Abgewichster Tourist, der ich war, fotografierte ich den Rollstuhl.

Ich habe in San Francisco viel fotografiert. Im Prinzip habe ich fotografiert, wo ich mich auch aufhielt: am Pier, in der Market Street, vom Coit Tower herunter, im Golden Gate Park, wo ein sehr schönes, von Herzog & de Meuron entworfenes Museum steht, vor dem der Bürgermeister von San Francisco, Gavin Newsom, gerade irgendein Einweihungsband zerschnitt, als ich mein Fahrrad abschloss. Im Mission District, am Dolores Park, im Bart-Schnellzug, der den Flughafen (Platz 20 des Skytrax-Rankings) mit der Stadt verbindet, in Chinatown, wo Madonna ein Haus besitzen soll, das so aussieht, als ob ein Praktikant von Friedensreich Hundertwasser es entworfen hätte. Als ich wieder zu Hause war und meine Fotos durchsah, entdeckte ich auf vier verschiedenen Bildern, die ich an vier verschiedenen Orten an vier verschiedenen Tagen aufgenommen hatte, den immergleichen Mann wieder: einen dicklichen, dunkel gekleideten Obdachlosen, der ähnlich wie John Banks seine ganze Habe in einem Wagen mit sich herumschob. Der Mann schaute so beiläufig und mit sich selbst beschäftigt aus meinen Bildern heraus, als wäre er ein eigens engagierter Komparse für den Film, der mein Urlaub war. Auf dem Foto, das ich von ihm im Bart-Schnellzug gemacht hatte, schlief er. Es war ein wenig wie beim Wettrennen zwischen Hase und Igel: Wo ich auch hinkam, der Mann war schon da gewesen. Ich beschloss, beim nächsten Mal, wenn ich nach San Francisco führe, seine Geschichte herauszufinden. Stattdessen entdeckte ich ein Frühjahr später in Kuala Lumpur John Banks.

Man kann sich die Stellen, an denen das «Da capo» steht, nicht aussuchen. Man muss sie aber berücksichtigen. Im Nachhinein ergibt selbst Widersprüchlichkeit einen Sinn. 1991, als das Keimzeit-Lied «Singapur» mich mit einem Gefühl erfüllte, das ich genau genommen erst Jahre später verstand, hatte ich keine Ahnung von dem globalisierten Leben, das ich 2010 führen würde. Ein Leben, das mich innerhalb weniger Tage zu drei der fünf besten Flughäfen der Welt führen würde und das die große Welt, mit der mich an den betörenden, aber unentschiedenen Sommerabenden meiner Nachwendejugend allenfalls eine falsche Sehnsucht verband, so klein machen würde, dass ich in malaiischen Tageszeitungen Menschen aus San Francisco wiedererkennen und spontan aus der realen Hölle Singapurs nach Hongkong fliehen konnte. Weil meine Kreditkarte den in dem «Systematic Laundromat» annoncierten Billigflug deckte und weil dort, in Hongkong, Marie wohnte, auf deren Dachterrasse ich tagsüber Bücher lesen und meinen Gedanken nachhängen konnte, während sie an der Universität die Geschichte Europas unterrichtete.

Abends gingen wir ins Kino, in Hongkong fand gerade das Internationale Filmfestival statt, dem die Stadt wenig Beachtung schenkte. Bei dem ich aber ein paar Filme sehen konnte, die ich auf der Berlinale 2010 verpasst hatte, den Eröffnungsfilm ApartTogether etwa, der von der schwierigen Versöhnung zwischen Taiwan und «Mainland China» handelte und der in Hongkong den Wettbewerb beschloss. In einem in seiner Effizienz atemberaubenden Prozedere wurden in einer halben Stunde vor der Vorführung alle Preise verliehen. Dazu trug auch die Jury des internationalen Filmkritikerverbands bei, zu der Rüdiger Suchsland gehörte, der bei der Aufstellung zum finalen Foto mit den anwesenden zumeist asiatischen Jurymitgliedern und Prämierten ob seiner Größe alle anderen überragte. Rüdiger Suchsland hatte ich, wenn er nicht gerade in Jurys auf internationalen Filmfestivals abhing, schon ein paar Mal am Berliner Weinbergsweg gesehen; von meinem Sitzplatz im Hongkong Cultural Centre Grand Theatre vermittelte er mir nun das eigenartige Gefühl von Vertrautheit. Ich kam mir nicht vor wie ein Tourist, der sich zufällig auf das Hongkonger Filmfestival verirrt hatte, sondern wie auf einer lausigen Party, auf der man immer jemanden kannte, der jemanden kannte, der den Gastgeber kannte. Ich überlegte kurz, Marie vorzuschlagen, dass wir Rüdiger Suchsland nach einem Platz auf der Gästeliste für die Abschlussparty fragen sollten, zu der nach der Vorführung eigens bereitgestellte Busse fuhren. Wir sind dann aber in eine Bar gegangen.

Als ich aus der Hitze Fernostasiens wieder zurück in Berlin war, hoffte ich, auf den Frühling zu treffen. Der Frühling ließ in diesem Jahr auf sich warten. An einem der ersten Tage, die eine wohlige Ahnung des Sommers versprachen, weil sie eine Jacke überflüssig machten, lief ich durch die Kastanienallee in Prenzlauer Berg auf dem Weg zu einem Geldautomaten. Es herrschte eine eigenartige, befreite wie anregende Stimmung, wie sie immer herrscht, wenn der erste warme Abend des Jahres die Menschen auf die Straßen treibt. Man vergisst dieses Gefühl schnell, wenn der Sommer kommt, und es an jedem Abend warm ist auf den Straßen, dabei ist es, gerade nach einem endlos scheinenden Winter, eigentlich das schönste Gefühl, weil man an diesem Abend denkt, dass alles möglich sein könnte, weil man die Wärme noch zu schätzen weiß und nicht wie später, wenn der Sommer endlich da ist, über sie klagt. Als ich von der Oderberger Straße auf das letzte Stück der Kastanienallee einbog, bevor sie auf die Hochbahn an der Eberswalder Straße trifft, tönten Klänge aus ferner Zeit herüber. Vor einem Plattenladen saßen ein paar in die Jahre gekommene Slacker, die Boxen auf den Bordstein gestellt hatten. Das allein war schon ungewöhnlich, wie man nicht nur an der plaudernden Normalität der Gäste in der gegenüberliegenden Szenekneipe erkennen konnte. Man stellt im ausgehzivilisierten Berlin unserer Tage, in dem sich gerade in Prenzlauer Berg eine Kneipe an die andere reiht, nicht ohne Weiteres Boxen auf den Bordstein, um ungefragt die Straße mit seiner Musik zu beschallen. Noch ungewöhnlicher war aber die Musikwahl: Aus den Boxen erklang, allen Ernstes, das Keimzeit-Lied: «Wir legen ab und fahr’n nach Singapur || Mit ’nem Schiff aus schäbigem Holz.» Irritiert und glücklich blieb ich stehen.

Zum wiederholten Mal in kurzer Zeit hatte ich das Gefühl, dass sich Gott oder wie immer der Reiseleiter meines Lebens hieß, eine schöne Pointe überlegt hatte; dass das, was ich für den Gang der Dinge hielt, ein Alltag, den ich mir mit unzähligen Anderen teilen musste, eigens für mich inszeniert war: Dass ich Anfang des Jahres die Freundin aus den Tagen unter dem Dach der renovierten Musikschule wieder getroffen hatte, deren Mp3-Player mich an das tief vergrabene Lied «Singapur» erinnerte. Dass ich, mehr unbewusst als gezielt, vor wenigen Wochen in das real existierende Singapur gereist war. Dass jetzt, in diesem Moment, da ich die Kastanienallee durchquerte, das Lied «Singapur» erklang.

Wie unglaubwürdig solche Koinzidenzen auf den Außenstehenden wirken, hatte ich gerade bei der Lektüre des Liebesromans Treffen sich zwei von Iris Hanika gemerkt. Die Freundin aus den Kindheitstagen unter dem Musikschuldach hatte mir das Taschenbuch zum Geburtstag geschenkt, und darin gibt es eine Stelle, an der das Liebespaar Senta und Thomas am Kreuzberger Rauch-Haus entlangspaziert, aus dem gerade die Nationalhymne der DDR ertönt. Da ich um die Begeisterung von Frau Hanika für die Dichtkunst Johannes R. Bechers wusste («der größte Erste-Zeilen-Dichter!»), vermutete ich hinter diesem Fait divers eine Erfindung, die allein dazu diente, Johannes R. Bechers Dichtkunst in einem Witz über die Sonne und damit die tändelnde Schüchternheit zweier Gerade-Verliebter in dem Buch unterzubringen («dabei scheint die doch gerade schön wie nie über Deutschland»). Frau Hanika bekräftigte auf Nachfrage aber, dass sich diese Szene mit der überraschenderweise ertönenden DDR-Hymne auf einem Recherche-Spaziergang in der Mitte der Nullerjahre des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert tatsächlich zugetragen habe. Sie sei schließlich Chronistin und keine Schriftstellerin in dem Sinne, wie man sich Schriftsteller in der Nachfolge Karl Mays immer vorgestellt hat, nämlich als Erfinder und Ausdenker von Geschichten.

Es schien in Berlin also nicht ganz unwahrscheinlich zu sein, dass einem Musik aus fernerer Zeit begegnete, da man öffentlich allenfalls mit übersexualisierten Songtexten eines schlichten Hiphops aus den auf laut gestellten Handys pubertierender U-Bahnfahrer rechnen konnte. Dennoch erschien mir der Moment, in dem ich «Singapur» hörend am ersten warmen Frühlingsabend auf der Kastanienallee verharrte, zauberhaft. Das Lied war falsch und richtig zugleich, es erfüllte die Straße mit der Erinnerung an eine putzbröckelnde Vergangenheit, um die sich weder der durchreisende Hostel-Mob scherte, noch der süddeutsche Wohlstand, der Konsum in den Straßencafés des Prenzlauer Berg für ein angemessenes Leben hielt. Aber das Lied verwandelte, für einen Augenblick zumindest, die alltägliche Szenerie in etwas Surreales, weil es eine Ahnung davon verbreitete, dass das, was ein angemessenes Leben sei, womöglich auch ganz anders aussehen könnte.

Der Plattenladen, vor dem die Boxen standen, aus denen «Singapur» erklang, hieß übrigens «Da capo».