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Facing Russia In seinen experimentaldokumentarischen Arbeiten widmet sich Sergei Loznitsa den Gesichtern und Schlafhaltungen in der russischen Provinz – ein Werkportrait anlässlich des Kinostarts seines Spielfilmdebüts Mein Glück

Von Ekkehard Knörer

POLUSTANOK (2000)

© Deckert Distribution

 

Als einziges Debüt im diesjährigen Cannes-Wettbewerb wurde Sergei Loznitsas Schastye Moe (Mein Glück) manchmal bezeichnet. Das trifft bestenfalls zu im technisch engen Sinn, in dem man Schasty Moe als Spielfilmdebüt eines Regisseurs sehen kann, der da längst schon auf ein eindrucksvolles Werk zurückblickt. Keiner der neun zuvor entstandenen Filme, die ich (von insgesamt zehneinhalb) kenne, gleicht in seiner Form ganz einem der anderen, zueinander stehen sie aber in einem Verhältnis der Familienähnlichkeit, nicht zuletzt darin, dass sie sich alle – nur je verschieden – zur Grenze zwischen

Dokumentar- und Experimentalfilm positionieren. Genauer müsste man sagen: zu denkbaren Grenzen, denn mit der Stellung der Filme, ihren Stellungnahmen zur Wirklichkeit, verschiebt sich immer wieder auch diese Grenze. Ich möchte vor dem Blick auf den Spielfilm den Versuch unternehmen, dieses experimentaldokumentarische Werk nach Charakterzügen zu gruppieren, die sich dann, wenn auch in bezeichnender Weise verwandelt, im jüngsten Werk wieder auffinden lassen.

Mit Zhizn, osin (Leben, Winter, 1999), seinem Debüt als Allein-Regisseur, ist Loznitsa bereits an Ort und Stelle des kommenden Werks: in der russischen Provinz. Hier: unter (vor allem sehr alten) Menschen in karger Landschaft, die den Boden bearbeiten, in dem sie seit Generationen verwurzelt sind. Bei dem, was sie tun, beobachtet sie dieser Film, der die Episoden des Geschehens in Kapitel unterteilt und ihnen so Strukturen noch äußerlich anzeigt, die später ganz in die Bewegungen der Filme selbst verlegt sein werden. Etwas wie ein Remake nach der neuen Methode ist dann Poselenie (Die Siedlung, 2001), eine unkommentierte Abfolge insistenter Beobachtungen des Tuns der Bewohner einer Siedlung von Geisteskranken, auch auf dem Land. Eine quasi-narrative Ordnung ergibt sich aus der Komposition der durch Schwarzfilm voneinander getrennten Einstellungen. Hier wie da: Menschen bei der Arbeit, die sie tun und die auch ruht. Zeiten der Stille, der Blick in den Himmel, Tiere und Acker. Wenn man so auf die Menschen blickt, wie Sergei Loznitsa das tut, ist zwischen den alten «normalen» Menschen und der Siedlung der geistig Behinderten kein kategorialer Unterschied.

In Zhizn, osin fährt die Kamera einmal sehr ruhig die Gesichter der auf einer Bank sitzenden, ruhenden Alten entlang. Sie blicken sehr direkt zurück in die Kamera, weichen ihr nicht aus, erkennen ihre Gegenwart auch nicht ausdrücklich an. Nichts bestimmt diese Filme Loznitsas so sehr wie ihre Insistenz der Blicke aufs menschliche Antlitz. Verwittert, verpackt, Gesichter, in die sich die Arbeit, der Wind, die Armut, die Sonne, das Eis – kurzum: die Zeit und ihr Werk – gegraben haben. Gesichter, die in scharfen Zügen Grenzen markieren zwischen Innenleben und Außenleben, Gesichter, die wie Bäume und Häuser verwittert sind. Jedoch unternimmt Loznitsa, völlig anders als der Menschen-in-ihrer-Landschaft-Filmer Volker Koepp etwa, nichts, diese Gesichter und diese Menschen durch Nachfragen als Individuen in ihrem historisch-biografischen Zusammenhang noch einmal anders aufzuschließen. Die Zeit und der Ort und das Soziale erscheinen beinahe als Naturphänomene.

Stehen, Sitzen, Liegen

Nicht Gesichter, sondern ganze Körper sind es, die in Portret (2002) in die Landschaft gestellt sind. Innehaltende, aber nie in inszenatorischer Absicht dorthingesetzt wirkende Körper, oft noch mit den Insignien der Arbeit, aus der sie die Kamera gerissen hat: Schaufel, Eimer, dergleichen. Kaum bewegte Filmstills, die ihre Affinität zur Fotografie keinesfalls leugnen. Loznitsa stemmt die Männer und Frauen mittig ins Bild, stehend und sitzend, der Einzelne als von der Zeit individuell ausgegerbter Typus (à la August Sander), nicht als Gegenstand einer am Politisch-Sozialen interessierten Reportage (à la Walker Evans). Das alles in Schwarz-Weiß. Erst in Peyzazh (Landschaft, 2003) und Fabrika (2004) kommt, wie jetzt im Spielfilm, Farbe ins Bild. Fabrikaist in zwei Hälften geteilt, eine mit großer Lust an Rhythmus und Licht und eingeübter Bewegung gefilmte Beobachtung von Menschen und Maschinen bei der Arbeit in zwei Fabriken (Stahl – Männer, Ziegel – Frauen); eigentlich fast zu schön.

Arbeiten, Ruhen. Stehen, Sitzen, Liegen: Der quasi-anthropologische Blick erfasst das Gesicht in seinen ihm ein- und aufgeprägten Zügen und er erfasst den Körper als ganzen in seinen Haltungen. Polustanok (Der Haltepunkt, 2000) ist entsprechend ein Schlafhaltungsfilm. Ein Jahr hat Loznitsa dafür immer wieder auf einem winzigen Provinzbahnhof gedreht. Man sieht Menschen, die warten und schlafen. Ganz selten erwacht einer mal. Unschärfe ist Prinzip: geradezu wie filmischer Piktorialismus nehmen sich die wattig-weichgezeichneten, von licht nach dunkel diffundierenden konturübergängigen Bilder aus. Es ist, als träumte der Film selbst, es ist Loznitsas vorläufig weiteste Entfernung vom dokumentarischen Pol – in Richtung Fotografie, Gemälde, Bild.

Loznitsa ist kein Strukturalist, obwohl es manchmal so aussieht. Peyzazh beginnt mit einer Serie von 360°-Schwenks, die jeweils auf eine künstliche Schwarzblende zulaufen, aus der heraus dann der nächste Schwenk durch beinahe menschenleere Stadtszenerien folgt. Kaum hat sich das zu einem klar erkennbaren Prinzip verfestigt, treten Veränderungen und Differenzierungen ein. Der Film wandelt seine Gestalt, man sieht immer mehr Menschen, denen die Kamera immer näher kommt, man hört einen fortlaufenden Kommentar gemischter Dialogstimmen aus dem Off (dem Off des Bildes mutmaßlich, kein Voice-Over – ganz klar wird es nicht). Dann eine Menschenansammlung auf einem Platz, der sich als Bushaltestelle entpuppt, die Kamera schwenkt immer noch nach rechts (mit Abweichungen, plötzlich ein Innehalten, kurze Zurückbewegung nach links), das alles in der anderen Loznitsa-Signatur-Form: nah an russischen Alltagsgesichtern. Als ganzes ist Peyzazh in seiner strukturell nicht vorhersehbaren Bewegung vom abgezirkelten Rechtsschwenk zum Schauplatz der Haltestellengesichter seiner eigenen Formbewegung nach sozusagen ein Zoom. Dann kommt der Bus.

Found Footage Collagen

Eine andere Werkgruppe, die in den Spielfilm allerdings kaum hineinspielt, besteht aus bislang drei Found-Footage-Collagen. Blokada (2006) remontiert die Geschichte der mehrjährigen Belagerung Leningrads durch die deutsche Armee zu einer realistischen Chronik, auf den Straßen der Alltag, die Flak und immer mehr Leichen, durch die Straßen gezogen auf Schlitten, in Särgen oder hingeworfen wie Puppen in Haltungen, die nur der Tod formt. Ein Soundtrack, der einzelne Geräusche quasi-naturalistisch unter das Bild legt, macht einen gespenstischen Eindruck. Es ist der einzige Film, indem eine russische Großstadt der Schauplatz ist. Sweet Sixties (2008), den Film über eine russische Kleinstadt in den 60ern, kenne ich nicht. Durchaus an Andrei Ujicas jüngste große Ceausescu-Montage erinnert dann das längste und jüngste Werk dieser Serie, Predstavleniye (Revue, 2008), eine von Tanz, Theater und Gesang zäsurierte Bildfolge mit recht rasant neu geschnittenem Wochenschaumaterial über die Tauwetterperiode der späten 50er, frühen 60er Jahre: alles Aufbruch, mitunter fast zarte Propaganda, nicht die mindeste Spur mehr von Stalin.

In Petersburg hatte Sergei Loznitsa, der einen Abschluss als Mathematiker hat und sein Geld auch als Übersetzer aus dem Japanischen verdiente, an der Filmhochschule von 1991 bis 1997 in der Abteilung Fiktion, nicht Dokumentarfilm, studiert. Seit 2001 lebt Loznitsa in Deutschland, seine jüngsten Filme, nun auch Mein Glück, werden von der Leipziger Firma Ma.ja.de. produziert und dort vom DFFB-Absolventen Heino Deckert betreut. Im Interview bei Mubi.com mit Ignatiy Vishnevetsky erklärt Loznitsa: «Ich wollte lange schon Spielfilme machen. Es ergab sich aber, dass ich mit Dokumentarfilmen anfing, zum Teil auch deshalb, weil ich damals nicht wirklich verstand, worüber ich Filme machen könnte und was das Kino an sich war.» Die Dokumentarfilme erscheinen im Rückblick so als Zeugnisse einer Phase, in der das Wissen ums Kino heranreift.

 

Schastye Moe (Mein Glück) (2010)

© ma.ja.de.

 

Andere Gegenwart

Mein Glück ist ein Film, der die Bewegung der Dokumentarfilme aufnimmt. Eher unterirdisch und subkutan einerseits, weil die allesamt finsteren Geschichten, die Loznitsa hier erzählt, wie er im Interview sagt, Frucht des Zuhörens auf den langen Reisen durch die russische Provinz sind, die der Regisseur für seine bisherigen Filme unternahm. Die Schauplätze scheinen vertraut, es geht hinaus ins Kalte, ins Weite. Als Roadmovie beginnt der Film, um dann aber in einer Bewegung, die man aus dem früheren Werk wiedererkennt, seine Gestalt recht unvermittelt zu wandeln. Nach einem Prolog, in dem ein Mann, dessen Gesicht man kein einziges Mal sieht, in frisch angemischten Zement geworfen und dort dann begraben wird, bricht Georgi mit einem LKW auf. On the road, Kamerablick durch die Fahrerkabine, Wälder, Ödnis, aber immer und immer sind einzelne Gestalten zu Fuß auf der Straße unterwegs. Einen alten Mann nimmt Georgi als Anhalter mit, der erzählt eine Geschichte aus dem alten, nicht dem Kalten Krieg. Das wird nicht als Rückblende eingeführt, sondern bricht in unvermittelten Szenen als eine Art andere Gegenwart aus der Vergangenheit kühl hervor und damit auch ein in die Zukunft des Films, die andere Wege nehmen wird, als man denkt.

Nach einer halben Stunde gelangt Georgi in eine Kleinstadt und Mein Glück rekonfiguriert sich als eine Art Remake der Eigenbewegung des Gesichter-Zoom-Films Peyzazh. Die Kamera frisst sich fest an den Gesichtern der Menschen auf dem Marktplatz, nähert sich ihnen, bis sie als schwankende Figurationen im Close-Up die Leinwand fast füllen. Sie heftet sich an die Fersen eines aus der Gruppe davonhastenden Mannes, folgt ihm eine Weile, lässt ihn dann wie ein Raubtier, das an einem potenziellen Opfer das Interesse verliert, ziehen. Spätestens hier begreift man: Nichts in Mein Glück ist Funktion der Erzählung. Die Zeit der Narration organisiert, was hier geschieht, nicht. Dieses äußerst gewalttätige Porträt eines Lebensraums, der vielfach eher Sterberaum ist, öffnet sich zur Allegorie und wahrt zugleich die Präsenz des Details, die den Schauder zu einem sehr wirklichen macht. Abrupt bricht das Roadmovie ab. Georgi begibt sich auf einem Umweg und er geht nach einem Schlag auf den Kopf erst mal verloren und taucht, falls er es wirklich ist, später als ein ganz anderer wieder auf, wird zum stummen Irrläufer eines Films, der über dem Verlust (der Verwandlung) seines Protagonisten zerfällt – in Einzelschicksale, von denen eines düsterer als das andere ist.

Ein neuer, unerwarteter Faktor in Sergei Loznitsas sonst vielfach auf seine früheren Werke rückbezüglichem Film ist die Kamera, von Oleg Mutu geführt, dem stilbildenden Bildgestalter des jüngeren rumänischen Kinos (Der Tod des Herrn Lazarescu; 4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage). Die Klarheit der Linien verrutscht, die Mise-en-scène von Mensch, Landschaft, Welt hat Spiel an den Bildrändern, sehr leicht, sehr wenig, und doch ist das als leise Beunruhigung, als Unfähigkeit, zu völliger Ruhe zu kommen, immer spürbar. Kein Stativ hält diese Kamera fest. Sie ist lebend eher als apparatisch und tierisch eher als menschlich. Am Ende entlässt sie einen stummen schwankenden Mann, der nicht der Held dieser Geschichte gewesen sein wird, in Rückansicht auf eisiger Straße in eine Finsternis, für die es dann keine Bilder mehr gibt.