dokumentarfilm

Am Anfang und am Ende der Kassetten Zu Andrei Ujicas Montagefilm Die Autobiographie des Nicolae Ceausescu

Von Simon Rothöhler

© Icon-Production

 

1958 verfasste André Bazin einen Appendix zu seinem innerhalb der französischen Linken kontrovers diskutierten Text über den Stalin-Mythos in sowjetischen Propagandafilmen, der acht Jahre zuvor in der christlich-sozialistischen Zeitschrift Esprit erschienen war. In der Zwischenzeit hatte Chruschtschow seine «Geheimrede» auf dem 20. Parteitag der KPdSU (1956) gehalten, die eine Phase der Entstalinisierung einleitete und die Bemerkung enthielt, Stalin habe in seiner späten Regentschaft nicht zuletzt den Fehler begangen, Propagandafilme als Informationsquellen über den Zustand der Sowjetunion zu konsultieren. «Es wäre kaum übertrieben zu sagen, dass Stalin schließlich an einem Punkt angelangt war, an dem er sich seiner Genialität versicherte, indem er Stalin-Filme ansah», schreibt Bazin 1958 und sieht sich in seiner ursprünglichen Diagnose bestätigt: Stalin war einem Mythos erlegen, den er selbst geschaffen hatte.

Eine «Autobiografie» nennt Andrei Ujica seinen dieses Jahr in Cannes uraufgeführten Found-Footage-Film über Nicolae Ceausescu – und ruft allein schon mit dieser Betitelung die Bazin’sche Internalisierungsthese auf: Ein Despot «erinnert» sich an sein Herrscherleben im Medium seines eigenen Personenkults; in Bildern, deren historische Funktion genau darin bestand, jenen Herrschaftszusammenhang abzusichern, dem sie ihre Existenz verdankten. Das System «Ceausescu» ist der Autor dieser Bilder, die Autobiografie bilanziert insofern auch 25 Jahre einer totalitären politischen Ikonografie, deren Symbolhaushalt «stalinistisch» auf die Figur des Diktators zugeschnitten war.

Über 1 000 Stunden offizielle Filmaufnahmen, die Ceauşescu in öffentlichen und privaten Kontexten zeigen, hat Ujica sondiert, Material, das sich vor allem im Nationalen Filmarchiv und im Archiv des rumänischen Staatsfernsehens befindet. Sie zeigen den Diktator als mit Mundtrockenheit kämpfenden Vorleser langwieriger Erklärungen, als volkstümlichen Händeschüttler und ungelenken Folkloretänzer. Sie zeigen ihn beim Abnehmen endloser Militärparaden, beim Baden, Schlittenfahren, Backgammonspielen mit seiner erkennbar humorlosen Gattin Elena – und wie er beim Volleyball immer regelwidrig das Netz herunterzieht, um seinen armseligen Schmetterbällen eine freie Flugbahn zu verschaffen. Ceausescu macht als Protagonist seines Film gewordenen Erinnerungsstroms erstaunlich oft eine unglückliche, linkische Figur. Autobiographie handelt auf dieser Ebene auch davon, wie instabil die Semantik dieser Bilder ist, wie leicht sie durch Montagepraktiken appropriiert und gegen ihren ursprünglich instrumentellen Verwendungszusammenhang gewendet werden können.

Massenornamente auf MGM-Niveau

Überlegt, unaufgeregt und weitestgehend chronologisch vernäht Ujicas dreistündiger Film die staatstragenden Protokollbilder mit den offiziell in Auftrag gegebenen Privatbildern, präpariert kuriose Details, Abweichungen, interne Widersprüche die eben auch in Propagandamaterial zu finden sind und dementsprechend für Gegenlektüren offen stehen: «(…) alle Archive von Staatschefs sind Protokollarchive. Aber dennoch, da gibt es Risse und Reste, am Anfang und am Ende der Kassetten, und in diesen Resten scheinen natürliche Momente auf. Das ist ja eine simple Weisheit: Jeder Mensch, der in eine Rolle schlüpft, ist vorher und nachher er selbst – was das auch immer heißen mag.» (Ujica in: Milo Rau, Die letzten Tage des Ceaus˛escus. Materialen, Dokumente, Theorie. Verbrecher Verlag 2010).

Weil das Filmmaterial zu 90 % Prozent ohne Tonspur archiviert wurde, entschied sich Ujica für eine experimentelle auditive Rekonstruktion, die die Bilder zusätzlich verfremdet. An manchen Stellen fungieren Musikeinblendungen (von Ligeti bis zu Bobby Fuller) als dissidente Signatur; über weite Strecken bleiben aber leergefegte Tonräume zurück, die die historischen Akteure in Geister oder Figuren eines Tati-Films verwandeln.

Nochmal anders aus dem Rahmen fallen die schier unglaublichen Aufnahmen der entfesselten Stadion-Choreografien, die Ceausescu bei seinen Treffen mit seinem nordkoreanischen Diktatorkollegen Kim Il-sung erwarteten. Kommunistische Massenornamente auf MGM-Niveau, die Ceausescu die Sprache verschlagen und in der Montagelogik des Films zu den absurd monumentalistischen Bauprojekten in Bukarest inspirieren. Architektonische Zeugnisse einer Psychopathologie im Zeichen des Größenwahns.

Das «Volk», dem Ceausescu ein «Haus» (die Casa Poporului) errichten ließ, kommt in dieser Autobiographie nur als zuhörendes, Beifall spendendes vor. Es bleibt im Hintergrund, eine Ansammlung austauschbarer Einzelner. Wie sich die Bildverhältnisse umkehren, wenn sich das Volk die «Videokamera als revolutionäres Medium» (Friedrich Kittler) aneignet, ist das Sujet von Videogramme einer Revolution, einem Film über das rumänische 1989, den Ujica 1992 gemeinsam mit Harun Farocki realisierte. Autobiographie liefert nun jenes Bildkorpus, jene sorgfältig inszenierten visuellen Repräsentationsroutinen nach, die in Videogramme durch ein hektisches Livebild (das Volk in Aufruhr, der Diktator flieht im Helikopter) abgelöst werden.

Die Selbstermächtigung des Volkes verläuft in den Dezembertagen 1989 über die Verbreitung gegenöffentlicher Kamerapraktiken und kulminiert folgerichtig in der Besetzung der nationalen Fernsehstation. Der einst omnipräsente Diktator wird aus dem Bild entfernt, die Kameras auf den Straßen von Bukarest proliferieren, ersetzen jene offizielle Kamera, die ein Vierteljahrhundert immer nur auf Ceausescu gerichtet war.