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Die Odyssee verstehen Wenn Sozialismus erkennbar wird, dann in den Versuchen, von Gemeinsamkeiten des Gelesenen, Gehörten und Diskutierten zu sprechen: Zu Jean-Luc Godards Film Socialisme

Von Diedrich Diederichsen

© Vega Film / Wild Bunch

 

Relativ zu Beginn seiner Karriere, für Le Mepris, hat sich Jean-Luc Godard ja einen uralten Regisseur ausgedacht, der seit tausenden von Jahren und für weitere unabsehbare Zeit auf dem blau glänzenden Mittelmeer an seinem Lebensprojekt arbeitet, halb Sisyphus, halb glücklicher Mensch. Diesen ehernen Regisseur, einäugigen Barbarossa, spielt netterweise Fritz Lang selbst. Man kommt beim Rezensieren von Godard-Filmen nicht umhin, über Godard selbst nachzudenken, und mir scheint er jetzt genau diesen Film gedreht zu haben, an dem Lang damals saß, den Lang damals als typisches Lebenswerk eines Auteurs und als Godards eigenes Futur II vorstellte: Die Odyssee. Dafür spricht nicht nur, dass etwas mehr als das erste Drittel von Film Socialisme auf einer Kreuzfahrt spielt. Ein komisches, hässliches, postmodernes Schiff fährt kreuz und quer übers Mittelmeer. Es fragt sich allerdings, welches Recht man eigentlich hat, immer nur dann, wenn es um Godard geht, die Person des Regisseurs zur zentralen Quelle aller Deutung zu erklären – oder auch welche Zumutung darin besteht, dass er einem dies immer wieder nahe legt.

Bei jüngeren Künstlern nennt man es Handschrift, zynischere Stimmen sprechen von Trademark, bei älteren Künstlern ist genervt von Manierismen die Rede. Die Frage, wie sich alte Künstler zu ihren eigenen Manierismen verhalten, stellt sich bei Godard in besonderer Weise. Alle seine Manierismen sind ja Teile eines dissidenten, streitenden Zugangs zu einem auf schreckliche Weise falsch gewordenen Kino. Sie handeln, jedenfalls von ihrer Genealogie her, nicht von der Singularität des Individuums Godard, sondern von einem politischen Konflikt, den Godard mit dem kommerziellen Kino hat. Dieser wäre desavouiert, wenn er nur persönlich wäre.

Nehmen wir das Grafik-Design, die schönen, meist zu kurz eingeblendeten, serifenfreien Block-Buchstaben. Totales Trademark! Gar nicht möglich, sie anders als im Godard-Wiedererkennungskomplex abzuhandeln. Dennoch ist es auch nicht möglich, die vielfältigen echten und angetäuschten Gliederungsmaßnahmen nicht auch als das zu nehmen, was sie sind: legitime und zum Teil auch knall-optimale Maßnahmen innerhalb einer anspruchsvollen Idee, filmisch einen Weg zurücklegen zu wollen. Oder die Einsätze minimalistischer Streicher-Blöcke! Kurz schwellen sie an und sagen: «Klar, wir sind keine emotionalisierende Musik, die komplette emotionale Sentenzen äußern will, wie normale oder klassische streicherbasierte Filmmusik.» Dennoch sagen sie so was, wie «Aufgemerkt, hier wird’s ernst», stellen so was dar wie eine Fettung von Buchstaben, partizipieren an der Zuschauergewohnheit, auf harmonisch eng gestellte Streicher mit den äußeren Gänsehauthaaren leicht aufgestellt zu reagieren etc. 30 Meilen gegen den Wind hört man die Godard-ECM-Trademarkiness.

Godards Godardismus

Vielleicht ist dies ein Nebenkriegsschauplatz. Aber die spezifischen Diskurs-Mischungen, Bild-Mischungen, die knapp gehaltene, aber nicht ganz entzogene Konsistenz, das Reparieren der Idiosynkrasien auf der Ebene von Privatlogos, die visuellen Kalauer – das alles ist auf seiner Oberfläche so bekannt, dass man glauben könnte, man hätte schon alles gesehen, wenn man nur die Methode wiedererkannt hat. Mit solchen Manierismen hat es ja eine doppelte Bewandtnis: sie schränken Freiheit und Kontingenz ein, wirken auf Produzenten wie Rezipienten wie traditionelle Gesetze und kappen die individuellen Gestaltungsimpulse. All dies tun sie aber im Namen eines hypostasierten Groß-Individuums. Godard hat dieses Problem, das einen Off-Künstler ja noch viel mehr betrifft als einen Studio-Knecht, dessen Film von anderen Konstanten umstellt ist, stets frontal adressiert – etwa, indem er als komischer alter Hausmeister seiner selbst in seinen Filmen herumzuschleichen pflegte. Je länger aber das Problem und die künstlerische Welt Godards besteht, desto weniger hilft mehr Ironisierung gegen die Dominanz des Godardismus bei Godard. Ihn zu bemerken und von ihm immer wieder irritiert zu werden, ist nicht unbedingt Grundlage eines fairen Einwandes. Vielleicht bedrückt einen auch nur die nicht zum ersten Mal erlebte Enttäuschung, dass, wenn die abstrakten Herrschaftssysteme und ihre Gesetze erfolgreich beseitigt sind, oft das Elend der Person und ihrer Herrschaft an deren Stelle treten.

Keine Angst, Film Socialisme ist weder die Odyssee, noch ein weiterer Versuch, Marx zu verfilmen. Auch der einem leeren Auditorium die Rückkehr zur Geometrie predigende Alain Badiou bleibt ohne Konsequenzen für den Verlauf der Kreuzfahrt. Kein Maoismus, weit und breit, auch kein Ereignis, dem irgendeine Treue gehalten wird – bzw. so viele Ereignisse, dass es eh egal ist. Die dem abwesenden Publikum mitgeteilte Einsicht, dass Ursprünge weniger das sind, woher man kommt, als das, wohin man zurückkehrt, bringt nicht La Chinoise zurück, sondern reiht sich in die grandpasimpsonhaften Räsonnements älterer Herrschaften ein, hinter deren Beiläufigkeit sich zuweilen Perlen verbergen. Zuweilen auch nicht: «Ich habe die Black Box gefunden.» Das unbestechliche Gedächtnis der Katastrophe, aber auch den dunklen Kino-Raum. «Kein Wunder, dass man Hollywood Mekka genannt hat». Wegen schwarzer Box, haben die auch die Kaaba? «Alle schauen in dieselbe Richtung.» Uff. «Dabei haben doch die Juden Hollywood gegründet.» Uffza. (Dialog sinngemäß wiedergegeben).

Melancholie statt Erkenntnis

Zu allem, was Godard interessiert – der Sozialismus und die Verbrechen des 20. Jahrhunderts, der Widerstand und seine Möglichkeitsbedingungen, in Spanien, Frankreich, Algerien, Vietnam und anderswo, die Schoah, Israel und Palästina, die Kolonisierung des Bewusstseins – ist seit Le petit soldat nicht wenig gedacht und publiziert worden. Wann immer Godard revidiert, tut er dies aber im Namen der Melancholie, nie der besseren Erkenntnis. Postkolonialismus und Feminismus scheinen ihn wenig berührt zu haben, im Zentrum seiner Perspektive regiert noch immer ein Antiimperialismus, der ihn schon in der Liste der dramatis personae sagen lässt, dass es bei einem Kriegsverbrecher egal sei, ob er Deutscher oder Amerikaner sei.

Wenn Sozialismus erkennbar wird, dann allenfalls in den Versuchen, von Gemeinsamkeiten zu sprechen, die im Gegensatz zu den monadisierten Zombies stehen, die isoliert in der unwirklichen Nichtwelt des Mittelmeer-Cruisers herumtapern. Der Fundus von Autoren und Musikern, die zitiert werden und deren Namen gleichberechtigt mit den Schauspielern durch den Vorspann gescrollt werden, könnte man zum Versuch erklären, so eine mögliche Gemeinsamkeit des Gelesenen, Gehörten und Diskutierten jenseits der Generationen zu bestimmen. Es wäre ein Kanon, wenn dieser nicht zugleich mit Beispielen des wenig kanonhaften, bruchstückhaft zitierenden Gebrauchs durch Godard ausgeliefert würde. Oder die Themen des 20. Jahrhunderts, die der Film an Mythen und Grundsatzfragen der Menschheit des Mittelmeerraumes anzudocken versucht. Sozialismus als Mare Nostrum?

Das Schiff begegnet diversen Orten – Hellas, Palästina, Ägypten, Napoli, Barcelona, Odessa und Istanbul –, zu denen der Film im dritten Segment zurückkehrt, wenn dieselben Plätze als «Unsere Menschheiten» diskutiert werden. Einstweilen schwankt das allegorische Schiff aber im Wind der nahe liegenden Deutungen – von Diaspora, Postmoderne, Narrenschiff und Finanzkapital. Spielautomaten und Spektakel bestimmen sein Inneres, oft auf irgendwie minderwertigem Videomaterial gedreht; strahlender, leicht postapokalyptisch, mindestens aber posthistorisch wirkender, hochdefinierter Azur bilden sein Außen. Kinder laufen durch die Gegend und stellen kritische Fragen an die Älteren, welche Spione, Kriegsverbrecher und dergleichen aus dem letzten Jahrhundert gefallene Personen darstellen sollen. Ziemlich großartige Soundpolitik: Wenn man das Meer sieht, hört man anderes Wasser, andere Flüssigkeit. Oder anderes Rauschen.

Im zweiten Teil sind wir bei einer Kfz-Werkstatt oder Tankstelle J. J. Martin, benannt nach einer Resistance-Zelle, die das Motto hatte: «Befreien und Verbünden». Nun haben die Kinder und Jugendlichen gewissermaßen die Macht übernommen und machen den Älteren eine Art Prozess. Ein Lama und ein Esel spielen eine Rolle. Höhepunkt des ganzen Filmes ist ein kleiner Junge, der ein im Off spielendes Orchester mit einem Geigenbogen dirigiert und vor sich herzutreiben scheint wie eine stumpfsinnige Herde, von der er danach sehr fotogen genervt ist. War zu Beginn davon die Rede, dass – und man konnte dies noch auf den Sozialismus und sein Jahrhundert beziehen – alle Probleme damit begonnen hätten, dass man Afrika vergessen hätte, geht es in diesem Teil um Europa: um Rousseau, die Revolution, Saint Just und um Afrikas Blick – verkörpert durch eine afrikanische Filmemacherin – auf Europa. Die Kinder der Renaissance-Tankstelle stellen Fragen, dokumentieren und werden dokumentiert. Sie suchen nach einem Programm. Wen wählen, wie wählen? Man muss die Benutzung des Wortes «Sein» durch das Wort «Haben» ersetzen. Kinder malen Renoir, hören Jazz und klassische Musik.

Kein letzter Film

Der kurze, dritte Teil ist dagegen richtig schön. Sätze und Bilder in rascher Folge, ohne einander zu jagen. Juden und Araber, Zaristen und Sowjets, Sätze von Arendt, Derrida und Benjamin, Bilder aus Museen, aus John Fords Cheyenne Autumn, erhabene TV-Animation aus Schweizer Nachrichten, Dub, hebräische Schrift auf arabischer Schrift, christliche Orgeln, verschiedene Stimmen aus dem Off – all dies geschieht, während wir die Schauplätze «unserer Menschheiten» durchgehen. Marlene Dietrich singt «Wann wird man je verstehen?» Die Collagen, mit denen Godard Notre Musique beginnen ließ, stehen hier am Ende. Sie haben noch weniger Thema und Zentrum als damals – der Krieg –, da sie so ziemlich von allem handeln, nun aber nicht mehr geschwätzig und offen wie in den ersten Teilen, sondern als Kette lauter extrem definierter Punkte: hier fängt notre musique – definiert im gleichnamigen, eben erwähnten Film als der zweite Blick, der Gegenschuss und damit auch als Kritik – dann wieder zu klingen an. Die Kraft der Präsentation von je unfassbaren Bildern, Tönen, Off-Sätzen in den richtigen, forcierten Tempi beginnt zu swingen. Statt einer Bewegung der Entfaltung kippt der Film in eine Kontraktion, man hat das Gefühl plötzlich enorm gesteigerter Schwerkraft – und landet wieder bei dem Satz, dass das Verb «Sein» jede Annäherung an die Wirklichkeit verhindere.

Trotz dieser plötzlichen Ballung am Ende sieht an diesem Film nichts aus wie ein «letzter Film», als der er verschiedentlich angekündigt wurde. Stattdessen könnte er ewig so weitermachen. Aber vielleicht ist das ja das Zeichen einer Konklusion. Keiner redet Godard hinein oder er redet mit niemandem. Der Monolog gelingt immer. Fritz Lang hat ja nach der «Odyssee» auch nicht mehr gedreht, bzw. dreht immer noch die «Odyssee» und sitzt im Kyffhäuser an der Postproduktion.