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Im Kaninchenbau Gaspar Noés Vortex bewegt sich mit Françoise Lebrun und Dario Argento ans Lebensende

Von Elena Meilicke

© Wild Bunch International

 

Im Gedächtnis bleibt die Enge. Alle Räume in Vortex sind schmal und schlauchig, es sind Räume, die Bewegung stets nur in eine Richtung erlauben. Getaucht in schummriges Halbdunkel, erinnern sie an unterirdische Behausungen von kleinen Tieren, an Maulwurfgänge oder Kaninchenbaue. Langsam, mühselig, mit schweren Schritten arbeiten sich die alte Mutter (Françoise Lebrun) und der Vater (Dario Argento) durch labyrinthische Korridore hindurch, schlurfen, ziehen, schleppen sich durch diese Tunnel – die jedoch, anders als Maulwurfgä nge, nicht unter der Erde liegen, sondern ganz weit oben und nah am Himmel sind: Die Wohnung der beiden Alten, ihr Bau, ihre Höhle, befindet sich im obersten Stockwerk eines Pariser Mietshauses, direkt unterm Dach.

Diese Wohnung verlässt das Paar nur noch selten, er ein alter Filmjournalist mit Buchprojekt und Herzproblemen, sie eine ehemalige Psychiaterin, die dabei ist, ihren Verstand zu verlieren: Altersdemenz. Von Zeit zu Zeit kommt der erwachsene Sohn (Alex Lutz) vorbei, ein Ex-Junkie in fescher Lederjacke, der seinen Eltern nicht wirklich helfen kann.

Vortex erzählt von den letzten Wochen und Stunden des alten Paares und tut das bewusst undramatisch, fast langatmig (dies dürfte der erste Noé-Film ohne Sex und fast ohne Drogen sein). Wir sehen Mutter und Vater alltägliche Handlungen verrichten, sie gehen aufs Klo, kochen Kaffee, sitzen am Schreibtisch. Nur manchmal blitzt der Irrsinn auf, wenn die Mutter, die kaum noch spricht, einen Strauß Schnittblumen beherzt in den Blumenkasten auf dem Balkon drückt, als sei das der richtige Umgang mit ihnen, oder wenn sie, im Versuch, Ordnung zu schaffen, die Notizen des Mannes im Klo herunterspült.

Fast noch mehr als Vater, Mutter, Kind spielt die Wohnung die Hauptrolle in diesem Film (Jean Rabasse, der auch das Setdesign für die Filme von Roman Polanski macht, hat sie gestaltet und eingerichtet). Sie ist von oben bis unten vollgestopft mit Büchern, Videos, Bildern und Filmplakaten, ihr Grundriss ist verwirrend, sie scheint ums Eck zu gehen, einige ihrer Räume und Fenster liegen einander direkt gegenüber. Die Decken sind niedrig, es gibt Treppchen, Balustraden, eine Terrasse und eben: Korridore. Die ganze Wohnung ist ein einziger Tunnel. Was als Raummetapher natürlich Sinn macht, wenn erzählt werden soll, wie das Leben eng, wie es zwangsläufig wird, wie es aufs Ende zugeht.

Es ist dieser Fokus auf beklemmende, tunnelartige Räume, der Vortex ein eigenes Gepräge gibt und ihn von Michael Hanekes thematisch ähnlich gelagertem AMOUR (2012) absetzt. Während Haneke bourgeoise Interieurs von eleganter Weitläufigkeit inszeniert, in denen selbst der Verfall noch kultiviert über die Bühne geht, sieht bei Noé alles räudiger aus, animalischer. Was auch damit zu tun hat, dass es kein festes Drehbuch gab und stattdessen viel improvisiert wurde. Insbesondere Le-brun als demente Mutter forderte Noé auf, «to do a kind of instinctive animal acting in which words have partly vanished» – was diese in die Tat umsetzte, mit einer weitgehend sprachlosen Performance und einem permanenten Ausdruck stummer Panik im Gesicht. Ganz frei von Machismo schienen mir diese Setzung und Schauspielerführung nicht zu sein: Während Lebrun mit flehentlichem Blick durch Flure stapfen muss, darf Argento als Vater ein munteres Italo-Französisch pflegen und darüber hinaus nicht nur sein Buchprojekt, sondern auch eine jüngere Geliebte haben.

In Sachen Sex (und Sexismus) war Noé nie zimperlich, und einige der bekanntesten, auch berüchtigtsten Momente seiner Skandal-Filmografie waren zugleich Tunnelszenen. Die fast zehnminütige Vergewaltigungsszene aus IRREVERSIBLE (2002) etwa, bei dessen Premiere in Cannes die Filmkritiker*innen reihenweise den Saal verließen, spielte in einer rot gestrichenen U-Bahn-Unterführung. Einen anderen Tunnel inszenierte die finale Sexszene aus ENTER THE VOID (2009) – Ansicht: in der Frau drin, konkreter: in ihrer Vagina, rötliches Halbdunkel, rhythmisch stoßender Penis, Spermium und Eizelle, Empfängnis, Seelenwanderung, Reinkarnation… – und wurde dafür in Cannes von manchen verlacht, von anderen ausgebuht.

Vortex ist nun also ein ganzer Film aus (im Vergleich zu früher freilich keuschen) Tunnelbildern und -blicken. Inspiriert dazu hätten ihn, so hat sich Noé in Interviews geäußert, seine eigene Erfahrung mit einer fast tödlichen Gehirnblutung und außerdem die Demenz-Erkrankungen seiner Mutter und Großmutter. In der Presse wird Vortex von vielen Kritikern (es sind hauptsächlich Männer) entsprechend als der bislang reifste und zugänglichste Film des Regisseurs gefeiert – geradezu zärtlich soll er sein, ehrlich und aufrichtig. Ein Film als Reifezeugnis, als habe Noé – naughty boy – mit fast sechzig Jahren seine Matura gemacht, als sei der böse Bube endlich erwachsen geworden. Ist der Film wirklich so zärtlich? Ganz sicher bin ich mir nicht.

Die ersten zehn Minuten des Films sind es vielleicht schon. Auf jeden Fall sind sie auf schön eigenwillige und unvorhersehbare Weise zusammengefügt. Wie immer bei Noé stehen am Anfang die Credits (am Filmschluss möchte er die nicht stehen haben, das letzte Bild soll «wirken» können). Dann kommt ein zweiter stilisierter Vorspann, der, taubenblau auf violettem Grund, nochmal den Regisseur und seine Hauptdarsteller präsentiert, und dabei, leicht ominös, fast wie eine Trigger-Warnung, nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Geburtsjahre aufführt: Françoise Lebrun – 1944, Dario Argento – 1940, Gaspar Noé – 1963. Das sieht schon sehr nach Grabstein aus. Es folgt eine Widmung, die man durchaus zärtlich, aber auch drastisch nennen kann: «A tous ceux dont le cerveau decomposera devant le coeur.»

Derart eingestimmt, bekommt die Zuschauerin im Anschluss aber erst einmal ein Idyll serviert: sanfte Abendstimmung, eine kleine Terrasse unterm Dach, üppig bepflanzt mit Blumen in Pink und Violett, genau wie die Farbe des Pullovers, den der Vater unterm Sakko trägt. Da sitzen Vater und Mutter und trinken ein Glas Wein, sie stoßen an auf das Leben, das wie ein Traum sei: «Ein Traum in einem Traum», ergänzt der Vater. Kameraschwenk, hin zu einer Häuserwand, grob gemauert, braun und trist, Stimmungswechsel, Schnitt – hin zu einer blutjungen Françoise Hardy in Schwarz-Weiß, die in voller Länge ihr melancholisches Lied Mon amie la rose singt; das ist schon sehr schön.

Danach erst geht der Film richtig los, mit einer Aufsicht auf das Ehepaar in seinem Ehebett, er links, sie rechts. Fast unmerklich ändert sich etwas, wie ein langsam fließender Blutstropfen schiebt sich eine schwarze Linie von oben nach unten durchs Bild und trennt es in zwei Hälften, in zwei fast quadratische Bildfenster: Eines für sie, eines für ihn. Der Film hat sich eingerichtet, hat – nach seinem freien und verspielten Einstieg – eine Linie gezogen, ein Korsett geschnürt, ein Gefängnis gebaut, aus dem es kein Entkommen gibt. Fortan wandern die beiden Alten aufeinander bezogen, aber voneinander getrennt durch den Film: «These are two forms of life that are not shared but they are complementary. Each one is living in their own tunnel, but each one is interlaced with the other one. Life is a bit like that», hat Noé das in einem Interview beschrieben.

Die Tunnel aus Vortex sind demnach das Produkt des Zusammenspiels von nicht nur Kameraführung (viele eng kadrierte tracking shots mit der Handkamera, verantwortet, wie immer bei Noé, von Benoit Debie) und Setdesign, sondern vor allem auch der Postproduktion. Der Splitscreen ist der Clou des Films, eine stilistische Pointe, die Noé, der alte Formalist, auf den gesamten Films appliziert. Der Splitscreen ist, soviel ist klar, am Tunnelbau beteiligt, was aber gibt er Vortex darüber hinaus? Ganz leicht ist diese Frage nicht zu beantworten; manchmal scheint es, als diene er der Kontrastierung von Vater und Mutter, dem Herausarbeiten ihres geistigen Verfalls, der im Vergleich mit der intellektuellen Betätigung des Mannes noch stärker zu Tage tritt.

Andererseits gibt es viele Sequenzen, in denen die beiden nebeneinander angeordneten Bildkader keine offensichtlichen Gegensätze aufspannen, sondern nahezu dasselbe, nur leicht verschoben, zeigen: Wiederholung mit Differenz. Manche Kritiker sahen Noés Splitscreen hiermit als Gimmick enttarnt, als überflüssige Spielerei. Ich würde sagen, dass gerade diese Splitscreen-Anordnungen, die nicht auf offensichtlicher Gegenüberstellung und Kontrastierung beruhen, interessant sind. Sie erinnern ein wenig an jene stereoskopischen Bildpaarungen, wie sie das 19. Jahrhundert kannte, Bildpaarungen, die die Betrachterin zum Schielen einladen und zum Schwindel verführen und dafür mit einem dreidimensionalen Bildeindruck belohnen: ein kleiner Mindfuck der Wahrnehmung.

Auf jeden Fall produziert der Splitscreen die Anmutung einer Informationsüberfülle, auch wenn in den beiden Bildfenstern für sich genommen oft gar nicht so viel passiert; er spielt mit den Wahrnehmungskapazitäten, dem data processing der Zuschauerin. In Interviews hat Noé die Hoffnung geäußert, die Zuschauer*innen könnten durch den Splitscreen in eine Art Hypnose versetzt werden, und darüber hinaus angedeutet, dass er an gewisse Therapien für posttraumatische Belastungsstörungen gedacht habe, die das Gehirn und seine Erinnerungsbahnen mit Hilfe von Bildern umprogrammieren – eine Assoziation, die nicht schlecht zu einem Film passt, der sich zersetzenden Gehirnen gewidmet ist. Der Rausch-Künstler bleibt auch mit dem Alter interessiert an Zuständen jenseits bewusster Wahrnehmungsroutinen und knüpft an die Experimente mit 3D und Flickerfilm an, die er in LOVE (2015) und LUX AETERNA (2019) unternommen hat.

Aber im Splitscreen liegt auch ein Problem: Vortex ist sehr verliebt in die eigene – vermeintlich radikale, weil konsequente – Hingabe an den Splitscreen, der dadurch doch auch zur leeren Geste, zur bloßen Behauptung wird. Der Film bleibt am Splitscreen hängen, interessiert sich mehr für ihn als für alles andere, mehr auf jeden Fall als für seine Figuren und ihr Schicksal, dem Vortex nicht wirklich nahekommt. Im Nachgang schmeckt der Film ein wenig schal und etwas pappig, nicht wirklich schlecht – aber auch nicht nach besonders viel.

Zu seinem Ende hin aber findet Vortex trotzdem noch einmal zu einer Form, die sich stimmig anfühlt, zu Bildern, die berühren. Da sind, wie in einer Diashow, kurze, statische Aufnahmen der Wohnung zu sehen, die jetzt verwaist und im Zustand der Auflösung begriffen ist. Stumm laufen diese Bilder ab, am Ende stehen Räume, so leer und zerbrechlich wie das Exoskelett eines Seeigels. Diese einfache, nüchterne Bilderabfolge hat mehr Anrührungspotenzial als die vorangegangenen zweieinhalb Stunden Splitscreen-Extravaganza. Die mit Zeug vollgestopften Korridore und Tunnel, das wird vom Ende her deutlich, haben ihre Bewohner*innen nicht nur beengt und ihre Bewegungen beschnitten, sie haben sie auch behaust und ihnen Halt gegeben. 

 

Vortex (Gaspard Noé) F 2021 | Kinostart am 28. April 2022