medienwissenschaft

Eine Industrie theoretisiert sich selbst In seiner materialreichen und anekdotengesättigten Studie untersucht John T. Caldwell die Produktionskultur des US-Fernsehens und findet die entscheidenden Begriffe in der Praxis

Von Lukas Foerster

 

Die Skepsis gegenüber dem elektronischen Bild, insbesondere seinem ästhetischen Potenzial, hat Tradition. Gilles Deleuze sprach ihm den Bildcharakter gleich ganz ab, da es sich nicht auf einen implizierten Betrachter ausrichte, sondern eher eine «Informationstafel», eine datengetränkte Oberfläche darstelle. Ein Medium der Daten, der gesellschaftlichen Selbstverständigung (und der Zeit: Nam June Paik), aber kein Bild, kein Raum, kein Bildraum.

Die sich erst seit den frühen 80er Jahren in größerem Umfang institutionalisierende Disziplin Fernsehwissenschaft orientierte sich denn auch zunächst meist an den Cultural Studies wahlweise britischer oder amerikanischer Prägung, beziehungsweise, in Deutschland, an den Kommunikationswissenschaften. Wenn sich das seit einiger Zeit zu ändern beginnt, ist dies nicht zuletzt auf John T. Caldwells erste große Fernsehmonografie Televisuality: Style, Crisis, and Authority in American Television aus dem Jahr 1995 zurückzuführen.

Caldwell, inzwischen Professor am Film Department der UCLA, war natürlich nicht der einzige und auch nicht der erste, der auf einem ästhetischen Eigenwert des Mediums Fernsehen insistierte. Seine Studie war vor allem deswegen wichtig, weil sie, gestützt auf kleinteilige Analysen ganz unterschiedlicher Programmformen, einerseits nachvollzog, wie sehr spezifische Begriffe von Ästhetik und «style» schon immer auch für die politischen und kulturellen Ökonomien des Fernsehens konstitutiv waren. Und weil sie andererseits zeigte, dass die Genese der exzessiven «Televisuality», des «stylistic exhibitionism» im amerikanischen Fernsehen einen genau definierbaren historischen Ort hatte: nämlich die späten 70er und frühen 80er Jahre, als die ehemaligen «Big Three» des amerikanischen Fernsehens, die drei großen Networks ABC, NBC und CBS, ihre Dominanz einbüßten und das Kabelfernsehen mit kleineren, auf spezialisierte Marktsegmente ausgerichteten Kanälen seinen bis heute anhaltenden Siegeszug antrat.

Das am kleinsten gemeinsamen Nenner des gedachten Gesamtpublikums ausgerichtete «zero style television» (auf das sich die pejorativ verwendete «Fernsehästhetik» noch heute bezieht, obwohl man eine solche höchstens noch in den Daily Soaps antrifft) war nicht länger wettbewerbsfähig. So unterschiedliche Formate wie Miami Vice, Hill Street Blues oder auch Pee-wee’s Playhouse entwickelten zielgruppengerechte Markenästhetiken und wurden zur Avantgarde des neuen, «televisuellen» Fernsehens.

Weg vom Primärtext

In mancher Hinsicht ist Caldwells Analyse heute noch stichhaltiger als zum Zeitpunkt ihres Erscheinens. Das seit nunmehr einem Jahrzehnt anhaltende, dritte goldene Zeitalter des amerikanischen Fernsehens zeichnete sich 1995 zwar schon sanft am Horizont ab (X-Files, Homicide, Babylon 5). Die eigentliche Durchsetzung des quality TVs neueren Datums begann jedoch erst 1999 mit den Sopranos. Bei HBOund in der Folge auch bei der Konkurrenz ist das «Cinematic Television», das sich über seine aufwändig produzierte, kinoartige Textur ebenso definiert wie über narrative Innovationen und eine im neueren Hollywoodkino selten gewordene diskursive Breite, zu einem entscheidenden Distinktionsmerkmal avanciert.

Ohne Probleme hätte Caldwell in einem Folgebuch diese Entwicklung aufgreifen und damit die Früchte seiner eigenen Vorarbeiten ernten können. Was seine neue Studie Production Culture, in Arbeit seit 1996, erschienen 2008, jedoch macht, ist etwas ganz anderes, wo nicht fast das Gegenteil. Caldwell geht einen Schritt zurück, weg vom Primärtext. Der Fernsehbildschirm (und die Kinoleinwand) selbst bleiben im neuen Buch strategische Leerstellen.

Caldwell interessiert sich für (fast) alles, nur nicht für die eigentlichen televisuellen Inhalte. Er analysiert nicht nur Interviews, die er mit zahlreichen Produzenten, Regisseuren, Kameraleuten, Programmierern über die Jahre geführt hat, es geht außerdem um pitch meetings, trade talks, promo reels, DVD-Extras, Firmenlogos und gefälschte Fankommunikation auf Internetforen. Ein umfangreiches, vor allem äußerst materialreiches und anekdotengesättigtes Buch ist entstanden, in dem ein Email-Schlagabtausch zwischen

Judd Apatow und Mark Brazill im Zuge eines Streits um Ideenklau (ganz nebenbei entsteht ein Sittenbild der Branche: «We’ll never be ‹friends›, regardless of the pussy whining from your last e-mail. I respect you zero. See you at the upfronts, bitch! (…) Until then, die in a fiery accident and taste your own blood») ebenso Platz findet wie die fragwürdigen esoterischen Rituale der Branche.

Postfordismus und Kulturkritik

Unter «Paratext» fällt vieles, wofür sich Caldwell interessiert. Aber dieser Begriff verweist auf eine hierarchisch nach- oder beigeordnete Stellung in Bezug auf den Primärtext, auf einen einseitigen Funktionalismus, der den Texten und Artefakten, denen Caldwells Aufmerksamkeit gilt, nicht gerecht wird. Methodologisch interessant an seinem ambitioniertem Buch, das sich an der Schnittstelle ganz unterschiedlicher Diskurse – interpretative Ethnologie, Cultural Studies, politische Ökonomie, Technikgeschichte – positioniert, ist vor allem der Begriff «industrial reflexivity», den Caldwell bereits in Televisuality bearbeitete und der im neuen Buch ins Zentrum rückt.

Ausgelotet wird ein neuer Theoriebegriff jenseits der «Big Theory» der 70er Jahre, der Caldwell Entfremdung von ihrem Gegenstand vorwirft. Es geht dabei aber nicht, wie bei dem in der Filmwissenschaft allgegenwärtigen David Bordwell, um das bloße Plädoyer für problemorientiertes «mid-level-theorizing», sondern um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Die Arbeitshypothese lautet, dass die «Production Culture» Südkaliforniens – und zwar sowohl die «below the line»-Handwerker, die an Filmsets schwere und immer weniger regulierte körperliche Arbeiten verrichten, als auch die «above the line»-Kreativen und Executives – ihr eigenes Schaffen und dessen Produkt ständig in zumindest quasitheoretischen Begrifflichkeiten fassen, in persönlichen Gesprächen genauso wie in Branchenmagazinen, in Werbeclips oder in Interviews im Bonusmaterial von DVDs. Nicht unbedingt das spezifische theoretische Vokabular, aber doch den allgemeineren theoretischen Impuls der Kulturkritik hat sich die Industrie längst zu ihren eigenen Zwecken angeeignet. «Industrial self-theorizing» ist dabei selten eine systematische und begrifflich konsistente Angelegenheit, aber sie ist dennoch nahe an einem Begriff von Theorie im engeren Wortsinn: diskursive Abstraktion und Verallgemeinerung.

Für die Kulturkritik öffnen diese Industrietheorien nicht nur ein neues Untersuchungsfeld; sie muss außerdem auf der Hut sein und ihrerseits ständig Selbstanalyse betreiben: die Grenze ist in beide Richtungen durchlässig geworden, Vokabular und Konzepte der Industrie finden allzu leicht unreflektiert Eingang in den kritischen Diskurs. Caldwell versucht, seinen Gegenstand in dessen eigener Sprache zu beschreiben und setzt dabei vor allem auf das distanzierende Anführungszeichen. Ob das immer ausreichend ist, wenn seitenweise von «viral marketing», «immersive brands» oder auch von «branded journalism» (unter anderem von der Bush-Administration pionierte Formate, in denen die Grenze zwischen Nachricht und Werbung verschwindet) die Rede ist, sei dahingestellt.

«Desegregating Theory and Practice» benannte Caldwell ein Unterkapitel in Televisuality, und das war schon dort gleichzeitig als Beobachtung und als Forderung gemeint. Die Selbst-Ästhetisierung des Fernsehens ist begleitet von und eng verwoben mit einer Selbst-Theoretisierung der Fernsehproduzenten. Diese Entwicklung muss, das steht im Zentrum des Caldwellschen Projekts, auch Auswirkungen auf den theoretisierenden Zugriff von außen haben. Es kann einem solchen Projekt nicht mehr darum gehen, eine authentische Wahrheit hinter dem bösen Schein der kulturindustriellen Oberfläche freizulegen. Ganz im Gegenteil argumentiert Caldwell, dass sich die entscheidenden Konfliktlinien direkt auf dieser Oberfläche einschreiben.

Die eigentlich interessante Wendung ist, dass Caldwell diese Neuausrichtung des Theoriebegriffs mit den postfordistischen Arbeitsbedingungen innerhalb der Industrie in Verbindung bringt: traditionelle Demarkationslinien zwischen den unterschiedlichen Arbeitsfeldern verschwinden, die großen Branchengewerkschaften verlieren an Einfluss, die durchschnittliche Vertragsdauer sinkt, die durchschnittliche Wochenarbeitsdauer steigt. «Industrial reflexivity» ist eine Antwort auf diese Entwicklung. Wo es keine von Tradition und festem Regelwerk abgeleiteten Selbstverständlichkeiten mehr gibt, muss sich jeder einzelne seine Daseinsberechtigung selbst schaffen, zum Beispiel, indem er laut und in anderen als selbstevidenten Worten über die Bedeutung des eigenen Tuns nachdenkt.

«No time. No money. Handheld»

«Industrial Reflexivity and Critical Praxis in Film and Television» lautet der Untertitel des Werkes. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Produktionsrealitäten in Südkalifornien schon längst nicht mehr entlang medialer Grenzen auseinanderdividieren lassen. Allerdings interessiert sich Caldwell für die Filmbranche doch nur am Rande. Das Buch konzentriert sich auf das Fernsehen, insbesondere auf die Produktionszusammenhänge, die sich um die vier großen Networks angesiedelt haben.

Für das Kino sehr relevant sind allerdings die «digital sweat shops», in denen Jungkreative an Special Effects aller Art basteln. Die den einzelnen Dispositiven gegenüber im Großen und Ganzen neutral eingestellte digitale Postproduktion ist Agent der Medienkonvergenz, weil sie das Nadelöhr ist, das fast alle Bewegungsbilder auf dem Weg zum Endverbraucher passieren müssen.

Eine der wichtigsten Triebfedern der Entwicklungen, die Caldwell beschreibt, ist denn auch die Digitalisierung, die in Production Culture mindestens so sehr Motor sozialer wie technischer Veränderungen ist. Und zwar auf zwei Ebenen: zum einen ist die «digital work force» als junge Zunft nicht in traditionelle gewerkschaftliche Strukturen eingebunden. Über diese in arbeitsrechtlichen Grauzonen operierenden «digital sweat shops», an die Fernsehsender wie Filmstudios einen immer größer werdenden Anteil ihrer Bildproduktion auslagern, würde man allerdings gerne mehr erfahren. Nicht nur hier stößt Caldwells diskursanalytischer Ansatz, der sich eher für die Firmenlogos der entsprechenden Betriebe interessiert als für reale Arbeitsbedingungen, an seine Grenzen.

Interessanter ist eine andere Argumentationslinie, die darauf hinausläuft, dass die digitale Technik selbst ein Agent der sozioökonomischen Neuausrichtung ist, indem sie dafür sorgt, dass klassische Berufsbilder ins Wanken geraten. Der Kameramann entfremdet sich von dem von ihm aufgenommenen Filmmaterial, wenn er die Hoheit über die Farbkorrekturen (zum Beispiel an den Regisseur) verliert, neue Kameramodelle gefährden die Existenz ganzer Berufsstände wie den des Kameraassistenten. Die Arbeitsteilung ist nicht mehr im selben Ausmaß – oder zumindest nicht mehr auf dieselbe Weise – in die Filmtechnik eingeschrieben. Caldwells «industrial reflexivity» ist in diesem Sinne auch eine Form von «identity politics» in Zeiten der Digitalisierung: Diskursiver Ersatz für real verlorene Deutungshoheit über Sinn und Zweck des eigenen Tuns, ein Antheoretisieren gegen die eigene Ersetzbarkeit.

Wie erwähnt bleibt der Primärtext – dessen Privilegierung in der Fernsehanalyse zu untergraben ein Ziel des Buchs ist – weitgehend außen vor in Production Culture. Dennoch weist Caldwell eine Richtung, die wieder in ihn zurückführt. Die veränderten Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten während der Produktion verdeutlicht er mehrmals anhand der Polizeiserie The Shield. Deren ästhetisches Alleinstellungsmerkmal sind immersive, extrem dynamische Handkameraaufnahmen in den Straßen von Los Angeles.

Was nach einer im engeren Sinne ästhetischen Entscheidung der Serienverantwortlichen aussieht, hat primär ökonomische Hintergründe. Der Produzent Scott Brazil beschreibt das Caldwell gegenüber in fünf Worten: «No time. No money. Handheld.» Keine klassische szenische Auflösung mehr, die Action wird parallel von zwei Kameramteams, die neben den Schauspielern durch den oft nicht abgesperrten urbanen Raum eilen, eingefangen. Wenn Vic Mackey und seine Kollegen in den Straßen des fiktiven Stadtteils Farmington wüten, bekommt man vielleicht auch ein Gespür für die Erschütterungen, denen die amerikanische Film- und Fernsehbranche auf allen Ebenen ausgesetzt ist.

John Thornton Caldwell: Production Culture: Industrial Reflexivity and Critical Practice in Film and Television (Duke University Press 2008)