literatur

Don DeLillo Über Der Omega-Punkt

Von Ekkehard Knörer

«Die Zeit scheint zu vergehen.» Dies war der erste Satz in Don DeLillos Roman Körperzeit, an den sein jüngstes Werk Der Omega-Punkt in Form und Gehalt anschließt. Ein Filmregisseur, der sich eine Kugel in den Kopf jagt und als Echo seiner selbst mit anderem Namen auf dem Dachboden oder vielleicht nur in der Fantasie seiner Witwe wieder auftaucht, spielt in Körperzeit eine Rolle. Ein Filmregisseur ist der Ich-Erzähler von Der Omega-Punkt. Ein Mittdreißiger namens Jim Finley, der seine Produktionsfirma «Deadbeat Film» getauft und erst ein einziges Werk zustandegebracht hat, eine Found-Footage-Kompilation aus Jerry Lewis’ karitativen Telethon-Fernseh-Shows aus den 60er Jahren. Finley hat alles aus dem Bild gelöscht außer dem Komiker selbst: «Nur Jerry. Reine Performance. 57 Minuten.»

Konzeptuell gedacht ist auch DeLillos Roman. Finley will eine Doku drehen, ungeschnitten à la Sokurovs Russian Ark (merkwürdige Referenz), nur talking head vor grauer Wand, über einen hoch gebildeten Mann, 73 Jahre alt wie DeLillo, mit Namen Elster. Der hat die Regierung im Irak-Krieg beraten, spricht in knappen Sätzen über Krieg als Haiku, hat sich als Rückzugsort ein Haus tief in der Wüste gewählt und sinniert dort über den «Omega Point» des jesuitischen Darwino-Bergsonianers Teilhard de Chardin, jenen Punkt also, an dem die Wirklichkeit in ein «wahres Leben» jenseits von Bewusstsein und Zeit übergehen soll: «Zurück zur anorganischen Materie. Wir wollen Steine sein in einem Feld.» (Elsters Formulierung) Als Figur, die – ähnlich dem Dachbodenmann Tuttle in Körperzeit – dem reinen Imaginiertsein nahe ist, tritt im Haus in der Wüste Elsters Tochter Jessie in Erscheinung, um dann zu verschwinden. Ein Messer taucht auf in der Wüste, Suggestion einer Mordtat, zugleich Link zu Alfred Hitchcocks Film Psycho, in dem eine Mutter, die nicht ist, wer sie scheint, wiederholt zusticht.

Die Wüstenhaupthandlung wird in Einzelmomente mit kargem Dialog aufgelöst (klassische DeLillo-Découpage), eine raumzeitliche Diskontinuität geschaffen, in der – wie es einmal heißt – «die Zeit blind» wird. Gerahmt ist der Mittelteil durch zwei Museumsbesuche. Ein nicht näher identifizierter Mann sieht im Museum of Modern Art in einem abgelegenen dunklen Raum Douglas Gordons 24 Hour Psycho. Das Thema Zeit ist, was das Mittelstück mit den beiden Ausstellungsmeditationen an Anfang und Ende verbindet. (Außerdem: Elster und Finley betreten kurz den Ausstellungsraum und verlassen ihn fluchtartig wieder.) Was in der legendären Video-Dehnfassung des Hitchcock-Klassikers in Erscheinung tritt, verschwindet so schnell nicht. Die Zeit ist, anders vielleicht als in der Wüste, nicht aus den Fugen, sie öffnet sich vielmehr als Abgrund, in dessen Innerem sich das alltägliche Zeitgefühl auflöst. Aus diesem Abgrund taucht aber mehr wieder auf als nur ein Messer.

Der Mann im Roman wird nach der anderen Zeit, den fast stillstehenden Bildern von Hitchcocks Aktionsfilm beinahe süchtig. Er kehrt jeden Tag wieder und imaginiert eine Vorführsituation, in der Gordons Arbeit am Stück gezeigt würde, und wer sie einmal verlässt, käme nie wieder hinein. Es richtet der Blick sich nicht phänomenologisch auf die Textur des Film/Videobilds, sondern philosophisch auf die Zeitlichkeit dieser Vorführungsform und obsessiv-philologisch auf einzelne, hier erst für ihn sichtbar werdende Details. Die Duschvorhangringe (sechs, sind es sechs?) etwa in der berühmtesten Szene. Die Messerstiche, Messerstriche auch, Arbogasts Tod, die Treppe rückwärts hinunter, zwei Blutstriemen im Gesicht. Das gedehnte Bild macht eine Diskrepanz sichtbar: Wie die Stiche/Striche übers Gesicht geführt werden, sieht man nicht. Dies entspricht der Geheimnisstruktur von DeLillos Roman. Was passiert ist oder sein könnte, verbleibt in einem präzise hingedrechselten Vagen. Geschrieben ist das Buch in Sätzen, die klingen, als hätten sie sehr lange in der Wüstensonne gelegen. Der Schauspieler Campbell Scott, ich habe die von ihm eingelesene Version gehört, liest sie ohne jede Emphase. Manchmal nehmen sie, so trocken sind sie, den Atem. Manchmal aber haben sie auch einen Sonnenstich und man versteht nicht so ganz, was sie sagen.

Don DeLillo: Point Omega/Der Omega-Punkt (2010)