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Reine Rhetorik Zu Steven Spielberg als Geschichtserzähler: Lincoln

Von Jonathan Rosenbaum

© 20th Century Fox

 

Den Verdacht, dass der Historienfilm nicht Steven Spielbergs Stärke ist, habe ich schon länger; dass er es wieder und wieder versucht, beweist immerhin, wie ehrgeizig er sein kann. Dass er wieder und wieder und auch dieses Mal scheitert, verweist allerdings womöglich auch auf ein tiefer liegendes Unvermögen – nämlich das des Publikums, das etwa Abraham Lincoln nicht mehr auf dieselbe Weise als Mythos begreift und im Gedächtnis bewahrt, wie John Ford und sein Publikum das noch konnten, als Ford 1939 Young Mr. Lincoln mit Henry Fonda in der Hauptrolle drehte. Ein Teil dieses Wandels lässt sich natürlich mit den radikalen Veränderungen des Publikums von Mainstream-Filmen in den vergangenen 73 Jahren erklären: eine Zuschauerschaft, die von Zielgruppenstrategien und Markterwägungen in ihre Einzelteile zerlegt worden ist, sich vorwiegend auf die Kids reduziert; das alles künstlich aufgeblasen durch Werbebudgets und dann aufgeteilt auf Haushalte, Computer und Säle unterschiedlichster Größe, Formen und Texturen. Es ist aber auch ein Zeichen dafür, dass wir mit Lincoln heute viel weiter von unseren historischen Wurzeln entfernt sind, als es die amerikanischen Kinobesucher des Jahrs 1939 waren, und das sogar dann, wenn ein Meister des Geschichtenerzählens und Mythenerfindens am Werk ist.

Wenn ich The Adventures of Tintin und War Horse (die ich nicht gesehen habe) ebenso wie die Indiana-Jones-Kapriolen und die Cartoon-Extravaganz «1941» beiseite lasse, würde ich sagen, dass meine Schwierigkeiten mit Spielberg als Historiker mit The Color Purple (1985) begannen – und zwar mit einer Szene, die die Vordersitze eines Autos involviert und die belegte, dass er offenbar keine Ahnung hatte, was die Jim-Crow-Diskriminierung im Tiefen Süden bedeutete. Nicht wirklich schwächer wurden meine Bedenken durch Empire of the Sun (1987), in dem der Junge in einem japanischen Kriegsgefangenenlager eine Atombombenexplosion erblickt, ohne dass man erführe, ob diese sich in Hiroshima oder Nagasaki ereignet. (In J. G. Ballards Roman ist es eindeutig Nagasaki.) Vielleicht hat das ja seinen Grund darin, dass für Spielberg die Klarheit und der Fluss des Erzählens stets wichtiger sind als historische Präzision – womöglich kommt deshalb Emilie Schindler, die eine bedeutende Rolle bei der Rettung der Juden gespielt hat, in Spielbergs Version von Schindlers Liste, die sich fast völlig auf ihren Ehemann Oskar konzentriert, kaum vor. Immerhin könnte das auch erklären, warum (und wie) Spielberg ganz zu Recht davon ausging, dass man ein junges Publikum am leichtesten dadurch für den Holocaust interessiert, dass man ihm die Möglichkeit bietet, sich mit einem glamourösen und attraktiven Nazi-Kriegsgewinnler zu identifizieren.

Ich will gegen Spielbergs Talente als Geschichtenerzähler als solche nichts sagen. Der Hinweis sei aber erlaubt, dass er oft skrupellos an die Klischees anknüpft, die zu einem bestimmten Gegenstand jeweils existieren. Kein Zufall, dass sein Argument dafür, Schindlers Liste in Schwarz-Weiß zu drehen – «Fast das ganze Material zum Holocaust, das ich kenne, ist schwarz-weiß» –, die Entscheidung voraussetzt, unsere unreflektierten Vorurteile zu akzeptieren. Für den Fall Abe Lincoln bedeutet das logischerweise, dass er sich nicht zu weit von der Audio- Animatronic-Version in Disneyland entfernt, die die meisten von uns vermutlich kennen, dazu dann noch ein bisschen archetypischer Uncle Sam. Daniel Day-Lewis, der Lincoln spielt und definitiv weiß, wie er die Blicke gebannt hält, stellt gewiss einiges an mit dem vertrauten Klischeebild; wie weit er davon abweichen darf, ist eine andere Frage. Im besten Fall geht er so weit wie er kann Richtung volkstümlicher Honest Abe, dabei immer wieder an Will Rogers erinnernd – und lässt auch den historisch authentischen Toilettenwitz über ein Porträt von George Washington im Innern eines Plumpsklos nicht aus, den Lincoln gern erzählte.

Ideologisches Gepäck

Wenn Day-Lewis aber andere Lincolns darzustellen versucht, etwa den schwer bedrängten Familienmenschen, dann scheint sich die Rolle eher in separate Charaktere zu spalten, statt zu einer einzigen vielschichtigen Figur zu vertiefen. Spielberg ist wagemutig genug, uns einen Lincoln zu zeigen, der seine Frau Mary (Sally Field) anschreit und seinen Sohn Robert (Joseph Gordon- Levitt) ohrfeigt, einen Lincoln, der gelegentlich auch seine treusten Anhänger in den Wahnsinn treibt mit den immerselben Geschichten. Spielberg trifft auch die verblüffende und interessante Entscheidung, Lincolns Ermordung nicht zu erzählen (nur der Tod wird erwähnt). Aber einen Lincoln, der von seinen Mythen befreit ist, kann er uns so wenig bieten wie einen durch erfundene Mythen verbesserten Lincoln.

Das Problem liegt im ideologischen Gepäck und in den nicht miteinander vereinbaren Interessen, die sich damit jeweils verbinden. Die Linke wie die Rechte hat ihn sich anzueignen versucht, zu idealistischen wie zu zynischen Zwecken. Es ist kein Zufall, dass der Film erst nach der Präsidentenwahl startet. Das Verhältnis von Lincolns Bürgerkrieg zu dem, der das Land aktuell quält – und der weniger durch Geografie bestimmt und mehr ein Kulturkampf ist, darum aber nicht weniger spaltend – ist ganz sicher nicht einfach, aber allemal relevant.

Vor der Wahl von 2008 lagen die Vergleichspunkte zwischen Lincoln und Barack Obama – bescheidene Herkunft, schmaler Körperbau, der Wunsch, die Einheit des Landes zu wahren – noch klarer auf der Hand. Heute sind die Unterschiede deutlicher geworden: Obama ist im Umgang mit Menschen nicht so begabt und seine Reflexe sind weniger machiavellistisch. Die Frage nach der Vergleichbarkeit stellt sich trotzdem. Wie schnell unsere Mythenbildung heute vorangeht, kann man gerade daran erkennen, wie Obama als politische Figur begann, die für Harmonie der Rassen und der Völker der Welt stand (und für die Abschaffung der Sklaverei, die mit Lincoln assoziiert war) – und zwar, weil er eine weiße amerikanische Mutter und einen schwarzen afrikanischen Vater hatte. Sehr schnell war er dann aber jemand, der in den Vereinigten Staaten als schwarz (halb richtig) und/oder muslimisch (komplett falsch) identifiziert wurde. Beide Formen der Mythenbildung sind fragwürdig, aber kaum auf dieselbe Weise.

Der Abspann sagt: «Der Film basiert in Teilen auf Doris Kearns Goodwins Buch Team of Rivals: The Political Genius of Abraham Lincoln». «In Teilen» ist freilich der Punkt, um den es hier geht. Aus dem im Titel des Buchs genannten Team der früheren (und teils auch danach noch) Rivalen, die Lincoln in sein Kabinett berief – William Henry Seward als Außenminister, Salmon P. Chase als Finanzminister, Edward Bates als Justizminister – bleibt in Spielbergs Lincoln nur der erste übrig, von David Strathairn gespielt. Dagegen wird Thaddeus Stevens, der bei Goodwin erst auf Seite 302 (von 916) als «feuriger abolitionistischer Kongressabgeordneter für Pennsylvania» auftaucht und dann nur noch dreimal kurz erwähnt wird, in Tony Kushners Drehbuch zur zentralen Figur. Er wird von Tommy Lee Jones gespielt und steht, was zitierfähige Sätze und Oscarchancen betrifft, nur hinter dem Titelhelden zurück.

Das eigentliche Problem, das verhindert, dass Lincoln für mich auch nur in die Nähe einer plausibel mythischen Vergangenheit gelangt, liegt aber an anderer Stelle – nämlich in seiner politischen Korrektheit, die oft einer Versteinerung gleicht. Der Film scheint so besorgt darum, nichts falsch zu machen, dass er kaum dazu kommt, es stattdessen einfach richtig zu machen. So sind, nur als Beispiel, die meisten der schwarzen Charaktere in dieser Geschichte nicht Bewohner des 19. Jahrhunderts, sondern in ihrer (Körper-) Sprache ganz eindeutig von heute – etwa der Gefreite und der Korporal der Unionisten, beide offenbar fiktiv, die man in der ersten Szene mit Lincoln sieht und die ihn dann stolz zitieren. Grundsätzlicher und problematischer noch: Das offensichtliche Bemühen von Spielberg und seinem Kameramann Janusz Kaminski (sie haben auch schon bei Schindlers Liste zusammengearbeitet), in fast jeder Einstellung ins Mythische zu zielen, ist weit aufdringlicher und rhetorisch aufwendiger als Ford (oder Sergej Eisenstein, wenn wir schon mal dabei sind) es je waren. Das betrifft besonders die Ausleuchtung, die die Innenräume ins finsterste Dunkel versetzt, jenen abjekten Zustand, den James Agee einmal als rigor artis beschrieb.

Ganz sicher haben Lincoln und seine Zeitgenossen ihre alltägliche Umgebung nicht als Silhouetten in einem prätentiös unterbelichteten Kunstfilm erlebt – dieser Lincoln und seine Zeitgenossen aber erleben sie so. Offensichtlich spielt da eine Form von Symbolismus hinein, die Dunkelheit mit Sklaverei und Licht mit Emanzipation assoziiert – so dass das Licht, das durchs Fenster von Lincolns Büro bricht, nachdem das Repräsentantenhaus das 13. Amendment verabschiedet hat, als eine Art göttlicher Orgasmus erscheint. Da aber die Sklaverei und die Befreiung als solche in diesem Film gar nicht wirklich dargestellt werden, sondern nur als Abstraktionen und im klischierten visuellen Design vorkommen, scheint ein abstraktes und visuell klischiertes Bilddesign auch wieder passend.

Dem geht das einzige Set Piece des Films voraus: die spannende und klimaktische Abstimmung zum Amendment im Repräsentantenhaus. Spoiler Alert: Die Sklaverei wird abgeschafft. Das wiederum erlaubt Thaddeus Stevens, uns eine Art Epiphanie zu gewähren, die ich hier nicht ausführen will. Es ist allerdings nur zu bezeichnend für diesen Film, dass wir Ulysses S. Grant (Jared Harris) bei jeder einzelnen Stimmabgabe beobachten dürfen, während Lincoln zu streng für eine solch vulgäre Aktivität erscheint.

Die Ironie bei der Sache ist, dass wir Lincoln zuvor über weite Strecken als jemanden erlebt haben, der lügt und intrigiert, um die Stimmen für das Amendment zusammenzukriegen – das ist einer der Punkte, die Kearns Goodwin ebenso betont wie Gore Vidal in seinem Lincoln-Roman. Goodwin und Vidal behaupten beide, dass dieser Präsident in viel stärkerem Maße für die Union als gegen die Sklaverei war. Beide betrachten ihren Gegenstand auch weitestgehend aus der Perspektive anderer, die freundlicherweise Tagebücher geführt oder mehr Briefe geschrieben haben, als Lincoln dies tat: Vidal gelingt es dabei, unsere idealisierten Vorstellungen über den Mann in Frage zu stellen, Kearns wiederum arbeitet diesen Vorstellungen – oder einigen davon – eher zu. Beiden aber geht es in letzter Instanz mehr darum, was wir über Lincoln denken als wie wir uns mit ihm fühlen. Spielberg geht es wie gewohnt mehr um letzteres, wobei ihm die Fakten nur mit sehr gemischten Signalen dienen können.

In Saving Private Ryan (1998) haben wir gesehen, dass Spielberg immer dann, wenn es um Ambivalenz im Verhältnis zu den USA geht und er etwas Verdauliches und Vermarktbares aus dieser Ambivalenz machen will, eine im Wind wehende Fahne ins Bild rückt und so alle Widersprüche in rein rhetorischen Fluten ersäuft. Mit seinem Versuch, Revisionismen im Detail mit vertrauten Bildern von Lincoln und allegorischer Beleuchtung zu verbinden, muss er dieses Mal scheitern: Er findet kein einheitsrhetorisches Formäquivalent. Lincoln bleibt im Krieg mit sich selbst, schwankt hoffnungslos zwischen dem Bild des schlauen und skrupellos manipulativen Strategen (so kennt man ihn aus Schilderungen der Zeitgenossen) und dem Halbgott und Sklavenbefreier in seiner einsamen Kammer, also dem quasireligiösen Bild eines Märtyrer-Heiligen, das wir schon kannten. Solange der Heilige nur vertraut aussieht und die Kamera vieles im Dunkel belässt, merken wir ja vielleicht nicht, dass ein so zusammengestückeltes Porträt sich nie und nimmer zu einem Individuum fügt.

Übersetzung: ek | Lincoln startet am 24. Januar 2013