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Ego & Kino Die Sehnsucht nach einem weiteren Meister der Ich-Befreiung: Zu Paul Thomas Andersons The Master

Von Simon Rothöhler

© Senator | The Weinstein Company

 

«I’d like to get you || on a slow boat to China», singt der Kopf einer aufstrebenden Sekte namens «The Cause» seinem Protégé ins Gesicht, am erschöpften Ende einer Begegnung zwischen zwei notorisch charismatischen Schauspielern, die füreinander über zwei Stunden lang Kinomaterial waren: roh und raffiniert zugleich, sich in der Improvisation belauernd und doch ganz offensichtlich in einem präzise abgesteckten Inszenierungssystem agierend. Noch einmal geht Philip Seymour Hoffmans Bariton auf Joaquin Phoenix nieder, noch einmal ist die Widescreen-Großaufnahme Opernbühne für gekonnt outriertes Schauspielhandwerk: Hoffmans Minimalmimik bis zum Anschlag unter Strom, Phoenix’ Gesicht eine einzige Fazialticklandschaft.

Wer sich wünscht, mit jemandem auf einem langsamen Boot nach China zu fahren, beruft sich auf eine heute aus der Mode gekommene Redewendung unter Pokerspielern. Wer den Satz hört, muss sich damit gesagt sein lassen, dass er das Spiel schlecht beherrscht und gerade auch auf langen Strecken leichte Beute wäre. Es ist der antiklimaktische, keiner Lösung zustrebende Kammerspielfinalmoment eines Films, der kurz darauf endet, wo er begonnen hat: im Freien, am Strand, bei Meerrauschen und Sandatombusen; mit Phoenix als schlafendem Drifter Freddie Quell, der alles auch nur geträumt haben könnte, selbst das grandios überpräzise 65 mm-Wasseraufwühlbild, das die Erzählung hypnotisch einklammert.

Der entwurzelte Heimkehrer Quell betritt Paul Thomas Andersons The Master als beschädigter Navy-Veteran unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, der für ihn der Pazifikkrieg war. Man sieht Quell noch kurz in militärischer Pose, mit Helm und zugekniffenen Augen, Kampflinien taxierend. Ein Schnitt, eine Perkussionseinheit des schön schräg ins Atonale zielenden Johnny-Greenwood-Scores später dann schon dienstbefreite Soldatenspiele am Strand, Nachkriegssex als Trockenübung mit einer in Truppenkollektivarbeit geformten Sandpuppe, schließlich Masturbation ins offene Meer, die Kamera im Rücken. Ein physisch agitierter Freizeitmännerbund, dessen Resozialisierung eine gewaltige gesamtgesellschaftliche Anstrengung darstellen wird; in Empfang genommen von Militärärzten, die auch nicht wissen, ob die eingeschleppte Kriegserfahrung in zivile Produktivität umgelenkt werden kann.

John Hustons Let there be light (1946), der große Dokumentarfilm über das Mason General Hospital in Brentwood, Long Island, in dem amerikanische Kriegsheimkehrer wegen quälender Störungen behandelt wurden, die Jahrzehnte später unter dem Sammelbegriff «Posttraumatisches Stresssyndrom» subsumiert werden sollten, dient diesen Szenen bis ins Detail als historische Folie. Vor allem die schwer gezeichneten Gesichter dieser Soldaten, die wenige Wochen vor den Aufnahmen noch als Befreier am Rhein standen und jetzt stotternd, weinkrampfgeschüttelt, paralysiert, wie weggetreten von Stanley Cortez’ respektvoller Kamera aufgenommen werden, erfahren in The Master eine zweite Kinowürdigung.

Verbesserungsideologie des Selbst

Dass Andersons Nachkriegsmänner etwas erlebt haben, das nicht wegtherapierbar, sondern nur mit nachlassender Effektivität betäubbar ist, wäre wohl am ehesten die historische Trauma-Diagnose dieses Films, der sich dann aber vor allem in größeren Zusammenhängen für die Verbesserungsideologien des Selbst, für die Sehnsucht nach einem weiteren Propheten der Ich-Befreiung interessiert. Der Selfmade-Meister der anrauschenden Optimierungswelle, im vollen Bewusstsein, dass hier ein riesiger Markt bedient werden will, heißt Lancaster Dodd – lose aber doch unmissverständlich angelehnt an den Scientology-Gründer L. Ron Hubbard und die kranke Dianetik-Idee «geistiger Gesundheit». Er hat in Sachen erlöster Subjektivität besonders steile Thesen, hängt absurden Reinkarnationsvorstellungen an und hält auch Leukämie für gesprächsweise kurierbar. Quells Weltkriegstrauma trifft auf einen Guru, der «Trauma» für eine pränatale Tatsache hält. Das kann heiter werden.

Wer kompetent Skepsis äußert, einfach nur Rückfragen zu Überbau und Verfahren stellt, wird mit theatral anschwellenden Autoritätsgesten bedacht, die unmittelbar als Taschenspielertricks eines volkstümlich begabten Scharlatans durchschaubar sind. Was dieser Showman verstanden hat, worauf sein Dienstleistungsprodukt, die Rhetorik der Selbsttransformation und -perfektionierung reagiert, ist das Bedürfnis, für die empfundene Fesselung des Ichs eine Fiktion verantwortlich machen zu können, die jeder Sozialisation vorgelagert ist. Der Kult gilt dem Ich; Ich-Geschichte soll rein aus sich selbst heraus erzählbar, seine existenzielle Verunsicherung ohne Gesellschaftsbezug heilbar sein.

Als der Meister sein zweites pseudowissenschaftliches Buch «The Split Saber» publiziert, sind jedoch selbst die treuesten Anhänger etwas irritiert: Gibt es denn jetzt gar keine Unterscheidung mehr zwischen Erinnerung und Imagination in der therapeutischen Praxis der Sekte, fragt eine Dame im immer sonnigen Philadelphia, gespielt von Laura Dern, die ihrerseits in der HBO-Serie Enlightened jüngst ziemlich konkret erfahren musste, dass Arbeit am Ich nicht unbedingt zu erhöhter Sozialverträglichkeit führt. Mit Quell, der von New Age, postmaterialistischem Sinndefizit oder auch nur «Me-Time» noch gar nichts wissen kann, liegt von Beginn an ein besonders unsubtiles Triebschicksal vor: Aus dem Krieg zurückgekehrt, erkennt er in jedem Rorschachtestbild erklärtermaßen immer nur «pussy».

Weil ihm niemand bedeutet, dass er nicht nur unter shell shock-Folgen leidet, sondern offenbar auch an einer ausgewachsenen Sexualneurose, darf Quell Assistentinnen des Meisters bei der Arbeit unverfrorene Anbahnungsnotizzettel zustecken: «You want to fuck?» Manchmal klappt das sogar. Die Rolle des kultivierten Verführers reklamiert der Guru für sich selbst, wobei auch bei ihm die Sache komplizierter liegt, was man sieht, wenn seine Frau Peggy (Amy Adams, auf kalkuliert leisen Sohlen in den Film schleichend) mit grimmiger Miene Hand anlegt und die Frage im Raum steht, ob das Männermarionettentheater nicht eigentlich zur Belustigung dieser Frau veranstaltet wird, die den Meister mit einem gezielten Griff wie ein missglücktes Soufflé in sich zusammenfallen lassen kann.

Bei den kuriosen Showtherapien vor seiner Kultgemeinde – eine Mischung aus verballhornter Psychoanalyse, Hypnose und sinnfreien Ermüdungsübungen – findet er aber meist schnell wieder die richtigen Worte für ein Zeitalter, das für die Vorstellung, «negative Gefühle» seien permanent zu bekämpfen, bereits so empfänglich war wie das unsrige. Überhaupt ist die «Cleansing»-Expertin Peggy die eigentlich despotische Energie des Films, während ihr Gatte schnell in Feierlaune versetzt ist und dann nicht nur wegen seiner Welles’schen Körperfülle eine gewisse Großzügigkeit und Geselligkeit ausstrahlt. Auch im Verhältnis der beiden Männer kann von Herr und Knecht kaum die Rede: Wie zwei junge Hunde tollen sie einmal über den Rasen; auch sonst hat das oft Bromance- Potenzial. Initial interessiert sich Dodd für Quell zudem gar nicht als Versuchskaninchen, auch nicht primär erotisch, sondern vor allem als innovativen Barkeeper, der selbst aus den Chemikalien eines Fotolabors erstaunliche Getränke mixen kann. Auch wenn sie sich im Geiste den ganzen Film lang verfehlen: Trinkbrüder sind sie in jedem Fall.

 

© Senator | The Weinstein Company

 

Toll an The Master ist die Konsequenz und Feinnervigkeit, mit der Anderson Volatilität komponiert. Der Film ist ein ständiges Schwanken, nervös wie die Subjektzustände, die ihn interessieren; fern jeder regeldramaturgisch aufbereiteten Erzählung eines psychischen Defekts, einer traumatisch verschobenen Wahrnehmung und Erinnerung, eines Machtgefälles zwischen Sektenführer und Schutzbefohlenem. Völlig unabsehbar über weite Strecken, wie sich die Dinge entwickeln werden, nach welchem Kalkül Szenen aufeinander folgen, ob sich je Katharsis einstellen wird. Anderson verfugt die versammelte Unbestimmtheit, eine unruhige Erzählung, die ständig ganze Kapitel einfach kommentarlos zu überspringen scheint, zu einer dichten, komprimierten Einheit, ohne in einen Gesamtkunstwerkduktus im Stil des späten Malick zu verfallen. Dazu trägt auch bei, dass Anderson seine Autorensignatur in stilistischer Hinsicht vor Stagnation im Virtuosentum bewahrt. Die Tracking Shots sind jetzt Elemente einer hochbewussten Bild-Ton-Montageästhetik: eingewurzelt ins Filmganze statt als Plansequenzfiletstücke sich aus diesem anerkennungsbedürftig hervordrängend. The Master ist keine Pathosmaschine, sondern erarbeitet seinen hohen, zuweilen auch schrillen Formton mit Sinn für Unernst und Instabilität. Wie seine titelgebende (zweite) Hauptfigur weist sich der Film selbst als leidenschaftlicher Performer aus; da will noch jemand was vom Kino, und sei es auch nur demonstrative Expansion der Montageform, andere Zeichenketten.

«We should bow to The Master», hat Anthony Lane in einer unnötigen Kapitulationserklärung im New Yorker geschrieben. Glücklicherweise ist Andersons Ästhetik trotz sinfonischen Großformats aber gar nicht auf Unterwerfung als Rezeptionshaltung angewiesen. The Master will gerade keine Meistererzählung sein und bleibt bis zur letzten Einstellung ein dezidiert offenes Kunstwerk (großes K, das schon) – voller Stimmungsgefälle, völlig diesseitig; nichts wird ausgespielt, niemand erlöst. «Auflösung» gibt es hier nur als zentralperspektivische Ironie: ein Motorradritt in den Fluchtpunkt des Bildes endet mit einem abendlichen Wüstenspaziergang, einer Ahnung von New Hollywood. Schließlich macht sich Anderson einen kühlen Spaß daraus, Quell, der vorher schon mal einen viel zu engen Matrosenanzug tragen musste, zurück in eine postadoleszente Kleinstadtfantasie, nach Lynn/Mass. zu schicken, die nicht mal im Ansatz als Lösung seines Libidodrucks missverstanden werden kann. Zu diesem Zeitpunkt ist auch schon länger klar, dass The Master nicht als historische Scientology-Studie angelegt ist, sondern frei von Fragen kritischer Sektengeschichtsschreibung über Ego und Kino nachdenkt.

Weil der Film die allgemeine Themenstellung unter vollem Produktionsdesigneinsatz verhandelt (ausgestanzte Period Details vom Kostüm bis zu den Sprechweisen), entfaltet sich ein merkwürdig zeitenthobenes Nachkriegsamerika, das jede Sekunde bereit scheint, voll auf die Gegenwart durchzuschlagen – oder einfach hyperikonisch zu werden, wie das unwiderstehlich illuminierte Traumschiff der Sekte, wenn es mit wehenden Stars and Stripes unter der Golden Gate Bridge in die Abendsonne eintaucht.

Hoffman und Phoenix fabrizieren in diesem ästhetischen Framework, in diesen hochfahrenden Bild-Ton-Kompositionen mit Gusto reines Meta-Schauspielerkino (auch das ein Unterschied zu Malicks neuer Innerlichkeit, wo Stars wie Pitt, Penn und Chastain weltschmerzverzerrt in den Himmel blicken, nach einem Gott suchend, der immerhin so lachhaft ist, mit Smetanas Moldau zu respondieren). Zwei ausgebuffte Profis beobachten sich in The Master wechselseitig bei der Arbeit; man überrascht den Kollegen dann schon mal mit einem Furz (Hoffmans Replik, voller Anerkennung: «silly, silly animal»). Sehr schön auch die Gefängnisszene, wenn Hoffman dem wild randalierenden Phoenix trotz durchgetretenem WC-Porzellan nicht mal eine gehobene Augenbraue zukommen lässt. Mit Method Acting hat das wenig zu tun, weil es hier nicht um Einfühlung und Mimikry geht, sondern um freigestellte Expressivität, die ein Verhaltensregister durchblättert. Phoenix erspielt sich seine Figur nicht psychologisch, sondern interpretiert sie komplett musikalisch, ein schiefer, artifizieller Klangkörper, bei dem das halbgesenkte Augenlied mit den niedergehaltenen Schultern und einer abgewinkelt eingestemmten Hand eine Dissonanz bildet, die Phoenix hält und nie auflöst. Selten hat ein Schauspieler seinen eigenen Körper derart abstrakt als Material behandelt, zur Konjunktion von Verhaltensweisen eingesetzt. Schauspielen als modernistischer Behaviorismus.

Als Quell zwischenzeitlich eine Anstellung als Porträtfotograf in einem gehobenen Department Store mit lebendigen Schaufensterpuppen findet, sind es die falschen Kodachrome-Posen einer aufstrebenden weißen Mittelschicht, die ihn schließlich irre machen und als Tagelöhner auf die kalifornischen Kohlfelder Salinas vertreiben. Er erträgt die Bilder nicht, die dieses 50er-Jahre-Amerika von sich schießen lassen will. Als er später noch einmal auf seine fotografische Tätigkeit zurückkommt, gilt es virile Meisterposen (als Denker am Schreibtisch, als Cowboy am Gatter) für die Ewigkeit zu fixieren. Sie machen ihm keine Angst, denn sie halten nichts zurück. Wie dieser eigenwillig große Film.

The Master startet am 21. Februar 2013