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Me, Myself & Tiffany Paartanz als Gesellschaftstanz: Silver Linings Playbook von David O. Russell

Von Bert Rebhandl

© Senator | The Weinstein Company

 

«You have to have a strategy», sagt der Psychotherapeut Dr. Cliff Patel zu Pat Solitano, einem nicht mehr ganz jungen Mann, der vor einer Weile aus einer psychiatrischen Anstalt entlassen worden ist. Pat verliert nämlich gelegentlich die Fassung, und dann macht er Dinge, für die er sich hinterher schämt, auch deswegen, weil er sich verhalten hat wie sein Vater. «My dad is the explosion guy», sagt Pat, und macht damit unwillkürlich klar, dass sein eigenes Leben ein Kollateralschaden ist. Er leidet an einer bipolaren Störung, die jedoch verhaltenstherapeutisch behandelt wird. Und in dieser Spannung zwischen klinischem Syndrom und alltäglichem Lernen entwickelt sich der ganze Film Silver Linings Playbook von David O. Russell (nach einem gleichnamigen Buch von Matthew Quick, das ich nicht gelesen habe). In Berlin lief die Pressevorführung am Tag nach dem Wahlsieg von Barack Obama, was sich als sehr passend erwies, denn auch wenn dies eine warmherzige Feelgood-Komödie ist, rührt sie doch an ein entscheidendes, kollektives Moment: Silver Linings Playbook handelt von der Überwindung konditionierter Reflexe durch soziales Verhalten.

Lernen heißt hier nicht Ausbau des Über- Ichs, sondern gemeinsame Bewegung und wechselseitige Lektüre von «Zeichen». Der Grundsatz, in dem religiöse Frömmigkeit mit der amerikanischen Alltagsmetaphysik übereinstimmt, wird hier neu bestimmt: «Everything happens for a reason.» Für Pat ist das natürlich zuerst einmal eine Rationalisierung. Wie sollte er anders damit klarkommen, dass man ihn eine Weile aus dem Verkehr gezogen hat, weil er einem Nebenbuhler gegenüber gewalttätig geworden ist? Die Zeit in der Anstalt hat aus ihm immerhin einen ansehnlichen Mann gemacht, gespielt von Bradley Cooper, und eine der klugen Pointen des Films liegt darin, dass wir den übergewichtigen Pat nie auch nur in einem Foto zu sehen bekommen, der er vorher gewesen sein muss. Wir sehen nur das Erstaunen der Leute, die ihn zum ersten Mal nach langer Zeit wiedersehen. «You sure lost some weight.»

Dass es mit der Genesung vielleicht zu Beginn noch nicht so weit her ist, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass Pat von seiner Mutter Dolores (Jackie Weaver) gegen den Willen der Ärzte mit nach Hause genommen wird. Die Freiheit ist kompliziert, wie schon aus der ersten Szene deutlich wird, in der Pat, mit dem Rücken zur Kamera, sich inständig darauf einschwört, dass er Sonntage von nun an lieben wird. Man muss dann aber erst einmal genau hinschauen, als Robert DeNiro die Szene betritt, um das Verhängnis dieser Sonntage in etwa zu ermessen. Es hat mit Ritualen zu tun, mit Zwangshandlungen, mit abergläubischen Akten, mit denen ein Fan vor dem Fernseher die ganze Familie dazu verdonnert, in irgendeiner magischen Weise das Spiel der Mannschaft positiv zu beeinflussen, auf die Pat Solitano Senior auch eine Wette laufen hat.

Dieser sehr typische italoamerikanische Haushalt in Philadelphia könnte ebenso gut zur erweiterten Welt der Sopranos oder der Good Fellas gehören, aber der Sohn, den er hervorgebracht hat, ist kein Gangster, und er hat keine Männer-Gang, in der er aufgehoben wäre. Er gehört eigentlich zu den Weicheier-Sorgenkindern wie Greenberg oder Jeff, who lives at home. Im Unterschied zu diesen beiden Melancholikern aber hat Pat ein echtes Problem. Seine Unbeherrschtheit hat ihm eine «restraining order» eingebracht, seiner früheren Frau Nikki, mit der wieder zusammenzukommen seine große Hoffnung und sein wichtigstes Vorhaben ist, darf er nicht persönlich gegenübertreten. Er kann ihr also nicht zeigen, was aus ihm geworden ist: ein ansehnlicher Mann, der allerdings tagsüber häufig einen Müllbeutel als Überwurf trägt.

Die Szenen beim Psychotherapeuten sind von entscheidender Bedeutung. Denn in Silver Linings Playbook steht tatsächlich auf dem Spiel, ob es eine Strategie geben kann, mit den eigenen Verletzungen umzugehen, ohne neue zuzufügen. Die Ambivalenz der klinischen Diagnose löst der Film bald sozial auf. Medikamente sind kein Mittel, nur Begegnungen helfen. Pat Solitano trifft ein «funny girl» namens Tiffany (Jennifer Lawrence). Als sie nach einigem Hin und Her in einem Diner ihre erste Verabredung haben, bei der die Bestellung auch zum Ausdruck bringen muss, dass es sich dabei um kein «date» handelt, ergibt sich eine bemerkenswerte Konstellation: Ein junger Mann, der vielleicht ein wenig zu optimistisch ist hinsichtlich seiner psychischen Normalisierung, bekommt Mitleid mit der jung verwitweten Frau, die nicht wie er das vermeintliche Glück einer großen Liebe hat, sondern sich in ihrer Trauer auch mit Männern einlässt, die sie sicher nicht glücklich machen. «You think that I am crazier than you», begreift Tiffany, und ist naturgemäß verletzt, auch deswegen, weil unübersehbar ist, dass Pat ein wenig seltsam ist.

In diesem Satz drückt sich aber gerade das Vergleichsmoment aus, das für Silver Linings Playbook konstitutiv ist: Alle Komparative der psychischen Defekte sind von dem «explosion guy» her zu denken, den Robert De Niro als eigentlich einnehmenden Wohnzimmerpatron spielt, der allerdings nervös wird, wenn die Fernbedienungen nicht exakt in der vorgesehenen Ordnung da liegen. Schauspielerisch ist das eine nicht geringe Herausforderung, denn Bradley Cooper und DeNiro haben hier weder den Ausweg in ausdrückliche Schizo-Komik (Jim Carrey in Me, Myself & Irene) zur Verfügung noch die große Nummer des «Danebenseins» (Dustin Hoffman in Rain Man). Sie spielen stattdessen, kaum merklich, den Zweifel der Subjektivität an ihrer Kompetenz, oder eigentlich, noch genauer, die nicht zulassbare Angst vor ihrem Versagen, vor dem Ausbruch des «explosion guy», in dem das Ich jeweils ein anderer wird, was sich in der Pointe des geteilten Namens sehr schön ausdrückt: Pat(ricio) wird Pat(ricio). Es ist die Mutter, die Pat einmal beim ganzen Vornamen nennt, vermutlich nicht ahnend, dass sie damit auch auf viele gescheiterte imaginäre Vatermorde («patricides») anspielt, die Pat hinter sich hat (und, das Gesetz der genealogischen Serie mitbedacht, wohl auch der ältere Pat).

Sneakers und Ballerinas

Der Ausweg, den Tiffany anbietet, ist so unverhohlen therapeutisch, dass man ihn auch für einen schlechten dramaturgischen Scherz halten könnte. Doch er fügt sich nahtlos in das Sozialprogramm des Films. «It’s a dance thing.» Sie möchte an einem dieser Wettbewerbe im Paartanz teilnehmen, die wie Eiskunstlauf auf Parkettboden sind, und in denen sich eigentlich eine entstellte Form der Dressur zu erkennen gibt. Doch für Tiffany und Pat wird das Tanzen zu einer Strategie gerade deswegen, weil man nicht strategisch tanzen kann. Russell steigert die Ironie allerdings noch so weit, dass er die nach den Kriterien des Wettbewerbs gut tanzenden Paare, die geradezu grotesk als Choreozombies erscheinen, wie Strategen ihres Erfolgs wirken lässt, während Tiffany und Pat nicht nur ein wenig unbeholfen wirken. Sie haben auch eine unpassende Nummer ausgesucht, die allerdings gut zu ihnen passt (ein Punk- Hadern). Es geht ihnen auch gar nicht um den Sieg in der Konkurrenz, sondern um eine Aufgabe in der Aufgabe: «to nail the big move», eine etwas grobe Formulierung für ein anspruchsvolles Ziel, nämlich bewegliche, schöne Zweisamkeit. Sneakers und Ballerinas in perfekter Harmonie.

Die Großfamilie, die David O. Russell zum Finale zusammentrommelt, erinnert nicht von ungefähr an die Ersatzfamilien aus lauter Außenseitern, die bei den Farrellys so häufig gegen Ende versammelt sind. Mit Blick auf den deutlich offeneren gesellschaftlichen Horizont von Me, Myself& Irene wird auch so etwas wie ein blinder Fleck von Silver Linings Playbook erkennbar; es ist allerdings einer, der sich genretypologisch auflösen lässt. Mit Recht haben einige Kritiker bemerkt, dass dies im Grunde eine erweiterte Sitcom-Episode ist, in der Chris Tucker in einer sehr lustigen Nebenrolle das einzige Moment von Diversität andeutet (er bringt, mit seinen Tanzlektionen und vor allem seinen unverdrossenen Fluchtversuchen aus der Anstalt ein Moment von körperlicher Energie ins Spiel, von Routinen des Nichtintegrierbaren, die bei den beiden Pats schon längst viel starrere Form angenommen haben). Aber wie die Sitcom auch in der kleinen Welt immer das ganze Gemeinwesen im Blick hat, geht es in Silver Linings Playbook eben genau um den Übergang, der aus einem Paartanz einen Gesellschaftstanz macht, hier komisch vertreten durch das aufgescheuchte Herumlaufen der Familie unter den Besuchern der Tanzkonkurrenz, während Tiffany und Pat aus dem Gewimmel heraustreten müssen, um zu sich zu kommen.

Das Tanzen, das «Festnageln» der großen Bewegung, ist hier nichts anderes als eine weniger selbstverletzende Form des «Fightens», zu dem die beiden Brüder in David O. Russells Film aus dem Jahr 2010 (siehe cargo 09) verurteilt waren. Auch bei ihnen ging es um eine Bewegung, die eine Strategie enthält, ohne dass man die Bewegung darauf reduzieren kann. Am Horizont taucht als die große Realisierung das freie Spiel auf, das eigentliche Thema jener Sonntage, an denen Pat ein wenig irre geworden ist. Ob die «Eagles» gewinnen oder nicht, entscheidet sich nicht im Wohnzimmer der Solitanos. Nur wer dies begriffen hat, findet eine Strategie für das anspruchsvolle Spiel, das wir Gesellschaft nennen, und das erst dann so richtig beglückend werden kann, wenn es ohne «restraining orders» auskommt.

Silver Linings Playbook startet am 3. Januar 2013