spielfilm

Absetzbewegung

Von Bert Rebhandl

Das Gebäude von Situation Kunst liegt im Südwesten von Bochum im Schlosspark am Rande einer beschaulichen Wohngegend. Es ist Mitte Oktober, ich bin hierher gekommen, weil sich eine unvermutete Gelegenheit aufgetan hat: Abbas Kiarostami macht hier einen Abend lang Station. Er kommt aus New York, und wird am nächsten Morgen nach Paris weiterreisen. Nach Bochum ist er gekommen, um eine Ausstellung zu eröffnen: Abbas Kiarostami. Stille und bewegte Bilder. Besonders beeindruckend sind die Aufnahmen, in denen dichte Regenschlieren den Blick nach «draußen» (häufig aus einem Autofenster) brechen; seriell gehängt, wirken diese Fotografien wie Varianten eines Höhlengleichnisses, das keinen Blick zurück, keine ideale Erkenntnisquelle kennt, sondern nur das Vorwärts in eine ungewisse, zerfließende, abstrakt werdende Landschaft. Kiarostami spricht in der Pressekonferenz über sein ständiges Fotografieren, über Digitalität, über persische Poesie.

Als wir uns anschließend zum Interview an einen Tisch setzen, atmet er erst einmal durch: «Ich bin nicht müde. Ich bin vollkommen erschöpft.» Dass ich mit einer Frage zu seinem neuen Film beginne, stiftet kurz ein wenig Verwirrung. Es war ihm nicht klar gewesen, dass er hier neuerlich über Like Someone in Love sprechen sollte, den er in den Wochen davor in Nordamerika promotet hatte. Dann lässt er sich aber doch darauf ein, und schon nach einer Weile wird deutlich, dass es am besten wäre, wir hätten jetzt wirklich viel Zeit, denn es spricht sich am besten über seinen Japan-Film, indem wir einfach von Detail zu Detail gehen, und den großen Bogen nur vage im Blick behalten. Ich hatte Like Someone in Love ein paar Wochen davor in Toronto gesehen, und war ein zweites Mal positiv überrascht gewesen – so ähnlich war es mir auch schon mit Copie conforme (siehe den Text von Gertrud Koch in cargo 11) gegangen, in den ich auch mit einem gewissen Vorbehalt gegangen war, als hätte Kiarostami es sich irgendwie zu leicht gemacht, indem er in Italien drehte, während im Iran der grüne Aufstand unterdrückt wurde. Im Gespräch (Kiarostami wird übersetzt von Massoumeh Lahidji, mit der ich Englisch spreche) kommen wir erst gegen Ende auf die politische Verhältnisse im Iran zu sprechen, und als es um die konkrete und persönliche Beziehung zu Jafar Panahi geht, für den Kiarostami bisher eher pflichtschuldig klingende Solidaritätserklärungen abgegeben hat, werde ich gebeten, die Aufnahme zu beenden.

Off the record spricht Kiarostami noch eine halbe Stunde weiter, doch ersucht er am Ende ausdrücklich darum, davon auch in Paraphrasen oder Andeutungen nichts zu veröffentlichen. Mir war aber ohnehin im Grunde schon bei Copie conforme klar geworden, dass wir hier nicht einfach die Absetzbewegung eines privilegierten Weltcinéasten beobachten, der nicht länger an die Produktionsumstände in seinem Land gebunden ist (Umstände der Zensur, der Maßregelung und der Gewalt gegen Filmemacher). Im Gegenteil entzieht Kiarostami sich mit seinen beiden jüngsten Filmen auch einer Logik der Repräsentation, die im Weltkino so etwas wie das grundlegende Paradigma für «emerging nations» oder nichtdemokratische Staaten darstellt: Filmemacher werden als Chronisten von (scheiternder) Transformation oder als (wie immer chiffrierte) Gesellschaftskritiker wahrgenommen, ihr Erfolg bemisst sich immer auch an der Komplexität der Aushandlung dessen, was unter widrigen Bedingungen möglich ist. Gerade aus dem Iran sind seit der Revolution eine ganze Reihe von Filmen gekommen, die das sehr deutlich gemacht haben. Jafar Panahis Offside oder Ashgar Farhadis Nader und Simin – Eine Trennung sind nach 2000 zwei herausragende und typische Beispiele, wie sich eine Ästhetik der Beobachtung in einem System auswirkt, in dem nichts ohne Voraussetzungen ist, und nahezu alles eine Frage der Implikation.

Klassische Regelpoetik

Kiarostami hat in diesen Jahren nach Ten (der in seiner konzeptuellen Form schon eher wie ein Experiment mit dem Ethos der Plansequenz und der ungeschnittenen Dialoge wirkte als wie eine bloße Weiterentwicklung seiner iranisch-neorealistischen Strategien) keinen weiteren Spielfilm gemacht (das Drehbuch zu Jafar Panahis Talaye sorkh / Crimson Gold, 2004, stammt von ihm). Stattdessen gab es einen Dokumentarfilm mit Einstellungen, die Ozu gewidmet sind (dem «Stasis»-Ozu, wenn man es in den Kategorien von Paul Schraders Transcendental Style in Film formulieren wollte), verschiedene andere kleinere Sachen, und schließlich 2010 mit Copie conforme eine Erzählung, die deutlich machte, dass es auch weiterhin um Voraussetzungen und Implikationen gehen würde. Allerdings sind es eben nicht mehr die Verhältnisse einer unfreien Gesellschaft, sondern die Regelpoetiken der westlichen, klassischen Ästhetik, zu denen sich Kiarostami verhält.

Nicht-ironisches Pastiche

Eine Französin und ein Engländer verbringen in Italien einen Tag miteinander. Man könnte von einem idealen Tag sprechen, wäre da nicht eine Spannung, die zunehmend die Leichtigkeit stört, und die zugleich an den Ursprung dieser Beziehung und an deren Ziel zu führen scheint (das wiederum nur ein ursprünglicher Moment sein könnte). Kiarostami bezieht sich dabei sehr deutlich auf einen Klassiker des europäischen Kinos: Roberto Rossellinis Viaggio in Italia, in dem Ingrid Bergman und George Sanders ein Ehepaar spielten, das in und um Neapel durch eine mythologisch grundierte Krise geht, aus der es (als Paar) wie neugeboren hervorgeht. Mit diesem Film, von dem bis heute umstritten ist, ob es sich dabei um einen Höhepunkt des Neorealismus oder um Verrat an dessen Idealen handelt, spielt Kiarostami sein eigenes Spiel von Original und Kopie. Es sieht ganz so aus, als wollte er zu Rossellinis klassischer Schließung eine offene Entsprechung finden, und mit dieser Offenheit macht Copie conforme auf radikale Weise ernst. Die Offenheit des ungeschützten Moments, aus dem heraus Liebe erst entstehen kann, fällt in eine Welt, aus der heraus die ästhetischen Ideen von «Maß» («misura») oder «Ideal» entstanden sind und die immer wieder in Anschlüssen an eine trügerisch überlieferte Antike nach Orientierung gesucht hat. Zum «all’ antica» kommt bei Kiarostami das kulturelle Wissen westlicher Gebildeter. Liebe zwischen zwei Menschen, die bei Coca-Cola nicht an einen Soft Drink, sondern an Jasper Johns denken, ist auf jeden Fall ein anspruchsvolles Unterfangen, da können die Glocken in Italien noch so ermutigend läuten.

In Like Someone in Love sind es die vielen «alten» Medien, mit denen sich ein alter Intellektueller umgibt (Malerei, Handschrift, Buchdruck, …), die auf eine Klassizität verweisen, die wiederum mit dem japanischen Kino zu tun hat, das eine solche für das Weltkino überliefert hat. Kiarostami geht es auch hier nicht darum, einfach eine Geschichte aus Japan zu erzählen (wie ginge das auch?). Sicher könnte man sagen, dass die Konstellation (junges Mädchen verbringt für Geld eine Nacht mit einem alten Mann, am nächsten Morgen ergibt es sich, dass ihrer beider Leben noch eine Weile verflochten bleiben) nicht orts- oder kulturspezifisch ist. Like Someone in Love erscheint nun aber geradezu als Experiment der «Inkulturation» einer solchen Geschichte, und zwar von einem Regisseur, der inzwischen ein sehr hohes Maß an Bewusstsein für die Voraussetzungen des Erzählens hat. Copie conforme ist ein konsequentes, nicht-ironisches Pastiche eines europäischen Kunstfilms. Like Someone in Love ist ein ebenso konsequentes, neuerlich dezidiert nicht-ironisches Pastiche eines japanischen Gesellschaftsdramas. Wir haben es bei dem Filmemacher Kiarostami seit einiger Zeit mit einem in Entstehung begriffenen Stück Weltkulturerbe zu tun, dem in keiner winzigen Andeutung mehr anzusehen ist, ob der Akt der Emigration, auf dem es beruht, unter Schmerzen oder mit Erleichterung stattfand. Copie conforme und Like Someone in Love sind Filme auf verschwiegenem Grund, oder aber: eine Suche nach neuen Gründen, subtile Akte des Nonkonformismus gerade auch vor dem Hintergrund eines Weltkinobetriebs, der mit Authentizität handelt wie die Toskana mit Antiquitäten oder Japan mit Kalligraphien.

Die Sache mit Jafar Panahi ist letztendlich vor allem eine persönliche zwischen zwei Männern, von denen einer in Teheran die Konfrontation mit dem Regime lebt, während der andere sich dieser Konfrontation immer wieder entzieht. Kiarostamis Filme lassen allerdings erkennen, dass dieses Entziehen kein Kneifen ist. Es handelt sich vielmehr um die bewusste Zurückweisung einer Logik der Vertretung, mit der das Weltkino so häufig eine unfreie Gesellschaft ein zweites Mal zum Gefängnis macht, indem es die Filmemacher rigide auf heroische Oppositionsrollen festlegt.

 

Like Someone in Love startet Ende Februar in der Schweiz im Kino; Copie conforme liegt unter dem Titel «Die Liebesfälscher» als DVD vor