modernes ereignis

Die Null muss stehen Eine Anregung

Von Cord Riechelmann

 

Als die amerikanische Notenbank Fed im Dezember den Leitzins auf null Prozent senkte, wurde das wie der Untergang eines ewigen Systems von andauernder Vermehrung und ewigem Wachstum empfunden. Wie sollte es denn mit der Null weitergehen, wo doch jedes Kind in den entwickelten kapitalistischen Ländern eingebleut bekommt, dass nur das Mehr Mehr macht, nur im Wachstum das Glück des Erwachsenwerdens zu finden sein wird?

Wenn ein global sichtbarer Leitzins auf null Prozent fällt und die Bank of England die niedrigsten Zinsen seit 1694 verlangt, dann steht die mutmaßliche Bedeutung dieser Fakten in einem seltsamen Missverhältnis zu ihrer Unanschaulicheit. Der Nullzins tut so, als könnte man alles auf Anfang setzen. Vielleicht wird er deswegen von den Banken, die weitermachen möchten wie immer, nicht «weitergegeben». Konsumentenkredite kosten immer noch Geld, und auch auf dem Tagesgeldkonto verzinst sich die Einlage weiter. Der Nullzins ist das Gegenteil eines Menetekels – ein Aufheller, der aber, wenn man einmal genauer hinsieht, ungeahnte Potentiale in sich birgt.

Die Null kommt nämlich aus Indien. Aus der Heimat des Nihilismus und aus einem jener Länder, die dem Kapitalismus noch trotzten, als dessen Erfinder, die angelsächsischen Protestanten, das Land schon herrschaftlich ausbeuteten.

Man hätte sich nur an den ersten Denker des Anti im 20. Jahrhundert erinnern müssen, um die Chance in der Null der amerikanischen Federal Bank zu erkennen: an Ernst Bloch. Bloch war Anti-Gesetz, Anti-Gerechtigkeit, Anti-Weltschöpfer und Anti-Weltregierer in einer Person. Es gibt eine Anekdote, die Bloch noch im hohen Alter bettlägrig Heiner Müller erzählte, und die einführt in die Welt der Null.

Bloch saß in der Hochzeit der Inflation zu Beginn der Weimarer Republik im Romanischen Café in Berlin und wollte einen Kaffee bezahlen, als der Kellner ihm eine Summe als Preis nannte, die Bloch nicht mehr zählen konnte. «Wo soll das denn hinführen, wenn ich morgen drei Millionen Mark für einen Kaffee zahlen muß?», fragte Bloch schwer entsetzt. Worauf der Kellner, der Blochs Profession nicht kannte, ihm in angedeutetem Wienerisch konterte: «Sans a Philosoph Herr Bloch, und nehmen’s wie’s kommt.»

Einige Jahre nach Bloch hätte zumindest Michel Foucault dem indisch-stoizistischen Kellner nicht widersprochen. «Die Ökonomie ist eine atheistische Disziplin; die Ökonomie ist eine Disziplin ohne Gott; die Ökonomie ist eine Disziplin ohne Totalität; die Ökonomie ist eine Disziplin, die nicht nur die Nutzlosigkeit, sondern die Unmöglichkeit einer souveränen Perspektive manifestiert, der Perspektive des Souveräns auf die Gesamtheit des Staates, den er zu regieren hat», meint Foucault in seiner 1978 / 79 am Collège de France in Paris gehaltenen Vorlesung über die Geschichte der Gouvernementalität. Das ist nicht nur das totale Gegenteil der gerade gängigen Praxis, die Krise von Banken, Finanzen oder Autobauern durch Verstaatlichung ihrer Schulden zu meistern, es ist die endgültige Entsakralisierung des Geldes und die Einführung der Null durch einen französischen Philosophen. Denn der Wahn des Mehr und der Befehl nach noch mehr Geld stammt nicht aus dem Geld selbst, sondern aus der Heiligsprechung des Geldes in den Köpfen protestantischer Frommer aus Angst vor dem zornigen Gott. Aus der Angst, eventuell von Gott vielleicht doch nicht gemocht zu werden, hatten Protestanten wie Calvin oder Benjamin Franklin die protestantische Ethik der langsamen und stetigen Geldvermehrung durch ewige Arbeit und ewigen Verzicht auf unnötiges Vergnügen abgeleitet.

Der sich in Arbeit und Verzicht stapelnde Groschen wurde dann zu ihrem Zeichen der Gottgewolltheit. Um die Groschen bauten die edlen Herren in Genf, Amsterdam und Frankfurt Banken, in denen dann auch ein paar Leute ziemlich schnell merkten, dass man mit den erarbeiteten Groschen selber auch neue Groschen machen kann. Und damit schlich sich ein Prinzip der christlichen Theologie, das älter war als der protestantisch-schmucklose Zinnober der ewigen Arbeit, in die Geldwirtschaft ein: Die Gnade, die unverdiente Liebe Gottes, die über den Zins Leute ohne stetige Arbeit und ohne ein gottgefälliges Leben nach den Regeln von Gottes Sachwalter auf Erden, Benjamin Franklin, im Geld schwimmen und baden ließ. Ein Leben von Gnaden anderer, die von den Profiten nichts haben, die in den Zins der Vermögenden fließen.

Gnade und Zins sind unverdient, damit aber auch unberechenbar. Das ist es, was die Finanzkrise so deutlich gemacht hat. Hemmungslos, wie der biblische Gott in seinem Zorn schon immer war, hat sich dann die unverdiente Liebe im Zinsstrudel so weit verloren, dass die Fed keine andere Wahl mehr sah, als alles auf Null zu setzen. Wie schon gesagt, eine Zahl, die aus Indien kommt und nicht aus protestantischem Geist. Eine Zahl, die das Wachstum untergräbt. Und wenn jetzt noch einer den Schritt der Trennung der genialen Erfindung des Geldes, die Marx in den Grundrissen mit gottlos darwinschen Zufallsvokabeln beschreibt, vom Kapital wagt, dann verliert die Null vielleicht sogar noch einmal ihren Schrecken, und lässt das Glück erkennen, das in ihr verborgen liegt.