spielfilm

26. März 2009

Texte zu Weerasethakul Eine Sammlung

Von Ekkehard Knörer

Cemetery of Splendour

© Kick the Machine Films

 

Mysterious Object at Noon (2000)

Sich in Bewegung setzen. Blick durch die Windschutzscheibe eines Autos, die Fahrt hinaus aus der Stadt aufs Land. Ins Freie. Bewegung als Dauer. Unklar ist, wohin es geht. Der Anfang einer Geschichte als Öffnung, als schierer Beginn. Bilder von thailändischen Dörfern, auf der Tonspur preist die Thunfischverkäuferin, um deren Auto es sich handelt, ihren Thunfisch. Dann sitzt sie auf dem Boden, im Schatten, aus dem Off bittet jemand, der Dokumentarist, der Regisseur, um eine Geschichte. Sie erzählt eine furchtbare Geschichte. Ihr Vater, der sie verkaufte. Eine andere Geschichte, sie muss nicht wahr sein, bittet der Regisseur. Sie überlegt, beginnt, eine andere Geschichte zu erzählen.

Die Geschichte setzt sich in Bewegung. Ein behinderter Junge und seine Lehrerin namens Dogfahr. Wir sehen Bilder. Die Thunfischverkäuferin, der Junge, die Lehrerin, deren Geschichte sie zu erzählen begonnen hat. Die Bilder der Fiktion aber gleichen denen der Dokumentation. Dasselbe Schwarz-Weiß auf 16 Millimetern, dieselbe Uninszeniertheit der Szene. Als wäre das eine aus dem anderen entsprungen, was es ist. Als gäbe es, im besten Fall, eine hauchdünne Membran zwischen dokumentierter Erfindung der Fiktion und den Bildern, die der Fiktion hinterherinszeniert werden. Und das alles ist erst der Beginn. Es geht weiter, dokumentarisch, über die Dörfer. Weerasethakul spielt die Geschichte weiter, an andere Menschen, übergibt sie ihnen, lässt sie weiter fabulieren (es ist das surrealistische Spiel, das wir von Kindergeburtstagen kennen; einer schreibt einen Satz, den nur einer liest und fortsetzt mit einem Satz, den nur einer liest und fortsetzt...).

Die Lehrerin Dogfahr stirbt und verdoppelt sich. Ein mysteriöses Objekt fällt aus ihrem Rock, mittags. Der Junge ist ein Alien. Eine Gruppe von Dorfbewohnern inszeniert, an Ort und Stelle, die Fortsetzung der Geschichte, mit Musik. Großer Applaus. Zwei taubstumme Mädchen schicken die Lehrerin, den Jungen, einen weiteren Jungen und ein Nachbarn (das Personal vermehrt sich, im Lauf der Geschichte, um den es sich ganz buchstäblich handelt) zurück nach Bangkok. Zurück, denn: von hier brach der Film auf. Im Radio läuft ein abstruser Aufruf zur Verbrüderung mit Amerika, die Phantasie, die mit den Mädchen durchgeht, mit der Geschichte, mit dem Erzählen. Mysteriöses Objekt, mittags.)

Zwischendurch fällt auch die Fiktion aus dem Rahmen. Der Regisseur kommt ins Bild, die Schauspieler, selbst Laien, verlassen ihre Rollen, die Kamera läuft weiter. Die Fortsetzung, eine Handvoll Schüler. Eine wüste Mär vom behinderten Jungen, der als Alien zurückkehrt und Rache nimmt. Dann wird er aufgefressen. Metamorphosen, Thai version. Eine andere Geschichte beginnt, vom Urwald, vom Tiger. Keine Bilder mehr dafür. Das Dokument lässt seine Fiktion hinter sich, verharrt statt dessen bei den Schülern. Der Abspann läuft, der Film aber endet noch nicht. (In Blissfully Yours läuft der Film schon lange, ist in Bewegung, von der Stadt aufs Land, als der Vorspann, mit dem schon nicht mehr zu rechnen war, einsetzt.) Die Kinder spielen Fußball, auf dem Sportplatz vor der Schule. Neben dem Sportplatz das Wasser, aus dem der Ball schwimmend gerettet werden muss. Das beobachtet die Kamera. Einfach so. Jenseits aller Geschichten, das schiere, das reine Dokument. Letzte Bilder. Es könnte immer so weiter gehen, Geschichten erzählend und nicht. Dann das Ende, als Setzung, den letzten Bildern, die nirgends hinauswollen, ist es nicht anzumerken. The End. To be continued.

 

Blissfully Yours (2002)

Die ersten Bilder: Min (ein junger Mann), Roong (eine junge Frau), eine Ärztin, Orn (eine nicht mehr ganz junge Frau). Einstellungen aus Halbdistanz, statisch. Min schweigt, Orn spricht, erklärt (Mins Miene bleibt ausdruckslos): Es ist schlimmer geworden mit seiner Hautkrankheit. Orn bedrängt die Ärztin, einer Gesundheitsbescheinigung wegen, die Min braucht, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Wir erfahren außerdem: Orn nimmt selbst Tabletten, vermutet, dass es sich um Anti-Depressiva handelt, die Ärztin leugnet es: nur gegen den Stress. Orn aber hat, der Tabletten wegen, keine Lust mehr auf ihren Mann. Später spricht sie mit ihm, sucht ihn auf im Büro, in dem erarbeitet. Wir erfahren: Ihr Kind ist gestorben, sie will wieder ein Kind. Min sitzt im Flur, vor dem Fernseher, in dem eine Sendung läuft über den Delphin, der sterben wollte. Ein Mann setzt sich neben ihn, legt ihm die Hand auf den Schenkel. Min schüttelt den Kopf und schweigt.

Danach: Orn, im Speiseraum der Firma, in der ihr Mann arbeitet, sie bereitet Salbe für Min und mischt Kosmetika mit Gemüse, das sie zuvor auf dem Markt gekauft hat: Min, mit einem blauen Schirm, immer neben ihr, wortlos. Orn gibt ihrem Mann einen Löffel von der Salbe, die seltsamste Einstellung des Films: aus Untersicht, milchig eingetrübt der Rand des Bildes, verklärtes Lächeln des Mannes. Orn und Min brechen auf, mit dem Auto, die Kamera verharrt lange im Blick aus dem Rückfenster. Es nähert sich, auf dem Motorrad, der Mann aus der Firma, der erst neben Min saß, dann im Küchenraum, er winkt Min und Orn, überholt sie, beide zeigen keinerlei Reaktion. Sie sind auf dem Weg zu Roong, die in einer Fabrik arbeitet, in der westliche Cartoon- und Comicfiguren, Bugs Bunny, Fred Feuerstein, produziert und von Hand angemalt werden. Min spricht. Noch nicht mit Roong, aber mit dem Wachpersonal. Er ist Birmese, erfahren wir nun, über die Grenze geflohen, eine illegale Existenz

Roong und Min, im Auto – Orn nimmt Roongs Motorrad –, brechen auf zu einer Fahrt, weg aus der Stadt, Min will Roong etwas zeigen, einen wunderschönen Ort. Über dieser Fahrt, die Kamera blickt nun auf gewundene Straße, von Grün gesäumt, Roong cremt Min ein mit der Salbe, die Orn bereitet hat, sie streichelt ihn, zärtlich vielleicht. Über dieser Fahrt, nach einer guten halben Stunde: der Vorspann. Daneben, darunter, das einzige Mal in diesem Film: Musik, Easy Listening, sehr eingängig, die Straße windet sich, Roong salbt Min. Erst hier – und nur hier – fällt Blissfully Yours heraus aus der Selbstverständlichkeit seiner so klaren wie rätselhaften Bilder, erklärt sich zum Film und verliert sich sofort darauf zurück an das, was er ist: eine atemberaubend selbstgewisse Erkundung dreier Menschen im Präsens des scheinbar Dokumentarischen. Und noch Erkundung scheint das falsche Wort, der Film ist reines Zeigen. Die Sorgfalt jeder einzelnen Einstellung, die Tonspur, die Natur nach Art fast unmerklich modulierter minimal music auf der Grenze der Wahrnehmung hin- und hergleiten lässt, drängen sich, könnte man sagen, in den Hintergrund, um im Vordergrund die ohne diesen formalen Gegenhalt nicht anschaulich zu machende und daher nur scheinbar reine Physis ins Bild zu rücken.

Diese Physis ist Natur. Min führt Roong durch einen Wald, minutenlang. Unterwegs entledigt er sich seiner Kleidung, bis auf die Boxer-Shorts, seine Haut, die sich schuppt, erträgt keinen Kontakt (und auch nicht das Licht der Sonne). Sie gelangen auf einen Felsvorsprung, der Blick von hier hinaus ist atemberaubend: die Kamera verharrt auf Roongs Gesicht, darin sucht sie das Erhabene, nicht in der Produktion von Bildern, die den Betrachter überwältigen wollen. Diese Einstellung ist die Summe von Weerasethakuls Ästhetik: er zeigt Menschen, als wären sie Natur. Er verfestigt sie nicht zu Charakteren, er verweigert ihre Entzifferung, indem er Zusammenhänge unerläutert lässt , aber auch, indem er das zu sehen Gegebene mit der wie unbeteiligten Kamera skizziert, ohne es aufzufüllen zu jener Nachvollziehbarkeit, die das Einfühlen des Betrachters erst möglich macht. All die Figuren verharren diesseits der Schwelle des Identifizierbaren. Sie sind nicht verrätselt, sondern gerade durch die absolute Klarheit der Darstellung prä-psychologisch. Die Bilder von Blissfully Yours stoßen auf die nackte Haut der Figuren und finden an ihr ihre Grenze. Die sich schuppende Oberbfläche von Mins Körper, sein beinahe körperhaftes Schweigen zu Beginn, Roongs Hand an seinem Schwanz fast am Ende. Die Körper von Orn und Sirote, ihrem Mann, beim Sex, auch in diesem zum aus der Zeit, fast aus der Welt gefallenen Wald als Schau-Platz des Films. Noch in den Close-Ups prallt der Blick auf den Körper und postuliert nichts als diesen.

Größte Vorsicht ist deshalb auch geboten gegenüber allen Versuchen der interpretatorischen Aufladung der Bilder mit Bedeutung. Die Natur, in die die Figuren sehr buchstäblich gebettet werden, legt Vorstellungen des Paradiesischen nahe. Weerasethakul durchkreuzt sie freilich mit leichter Hand: Orn, auf dem Weg zu Min und Roong, duchquert eine Art Mülldeponie mitten im Wald. Die Reduktion der drei Figuren aufs Kreatürliche ist vielleicht nicht mehr als genau das: alle Mitbeschreibung von Gesellschaft wie von Plot-Zusammenhängen ist aus den Bildern gedrängt zur Eröffnung eines Freiraums, der dann der Raum (auch der von nichts als der Montage und der Dauer der Einstellungen gegebene Zeit-Raum) eines reinen Kinos wäre, das nicht mehr im Sinn hat als sich (die Kamera wie die Leinwand) bereit zu halten fürs Notat. Von Körpern, von Anblicken.

Mit Naturalismus oder Dokumentation im naiven Verstand hat das nichts zu tun, denn die Eröffnung dieses Bild- und Tonraumes ist Funktion der elementarsten, im Ausgefeilt-Rhetorischen des gewöhnlichen Kinos immer schon überspielten, Akte des Filmemachens: der Ausschnitte, die die Einstellung herstellt, der Schnitte, die den Raum ordnen und produzieren, der Anordung der Körper, des Zeigens ihrer Berührungen, auf die es hier ankommt. Blissfully Yours spricht eine Ursprache des Kinos, die alles andere als Natur ist. Die Reinheit seiner Bilder ist eine Reinheit, die aller Virtuosität nicht voraus liegt, sondern auf einer geradezu phänomenologischen epoche beruht: der absichtsvollen Suspension dessen, was wir immer schon wissen und immer schon sehen. Der Phänomenologie, die als Philosophie ein Problem mit den Wort hat, die als Notwendigkeit auf dem Weg zu den Sachen liegen, hat das Kino das eine voraus: die Evidenz der Bilder. Fast scheint es, hier, in diesem Film, der die Seligkeit im Titel trägt, als könne den Bildern, und nur ihnen, die Rückkehr ins Paradies gelingen.

(erschienen ursprünglich in Jump Cut, irgendwann nach einem Paris-Besuch 2003)

 

Ein junger Mann bei einer Ärztin. Der junge Mann spricht nicht, er ist begleitet von zwei Frauen, einer jüngeren, einer älteren: Sie sprechen für ihn. Die Hautkrankheit des jungen Mannes, sagen sie, habe sich nicht gebessert. Sie wollen eine ärztliche Bescheinigung, ohne die er keinen Job bekommt. Es wird hin und her argumentiert, die Ärztin bleibt hart und verweigert die Bescheinigung, sie benötige dafür, sagt sie, einen amtlichen Ausweis des schweigenden Mannes.

Mitten hinein geht Blissfully Yours in seine Geschichte mit diesem Beginn. Harmlos genug, ja völlig alltäglich wirkt diese Szene. Dabei stecken in ihr schon alle Themen des Films, der so viel komplexer ist, als er aussieht. Der junge Mann ist ein Gastarbeiter aus Birma, der Thai spricht – das merken wir später –, aber nicht sonderlich gut. Er ist fremd in Thailand, und er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Blissfully Yours ist, anders gesagt, ein Film, der Körper nicht einfach als Privatsache betrachtet. Die Räume, die sich ihnen eröffnen, sind zugleich schon begrenzt als politische Räume, und zwar auch und gerade da, wo sie die reine Natur zu sein scheinen.

Mit dem Auto bewegt sich der Film weg aus der Stadt, in Richtung Natur. Der Mann – sein Name ist Min (Mino Oo) – fährt mit der älteren Frau, sie heißt Orn (Jenjira Jansuda), in eine Fabrik, in der die jüngere Frau – ihr Name ist Roong (Kanokporn Tongaram) – kleine Disneyfiguren anmalt. Roong nimmt sich mit einer Lüge frei. Im Auto, auf dessen Armaturenbrett kleine, angemalte Disneyfiguren stehen, fährt sie mit Min aufs Land. Sie gehen durch einen Wald, einige Minuten lang, zu hören sind die Geräusche des Waldes und seiner Tiere. Roong und Min picknicken bei herrlichem Ausblick, sie unterhalten sich, sie pflücken Früchte von Bäumen, später wird Roong Min am Ufer eines kleinen Flusses einen blasen, noch später werden Roong und Orn Min im Wasser baden wie Kinder.

Die Zeit, die vor unseren Augen vergeht, ist Zeit, die sich Roong, Min und Orn eigenmächtig genommen haben. Das macht sie zu wertvoller, keinem politischem, keinem Arbeitsregime unterworfener Zeit, zu Zeit, die einen Freiraum eröffnet. Indem er erst während der Fahrt hinaus aufs Land zu verspieltem Thai-Pop den Vorspann laufen lässt, stellt sich der Film auf die Seite dieser Zäsur in der Zeit. Er überlässt sich und seine Figuren diesem Raum des Waldes und der Natur – weist aber auf die Grenzen dieses Glücks immer wieder nachdrücklich hin: Min bleibt, seine Familie in Birma vermissend, in Thailand ein Fremder, und Orn, die ältere Frau, trauert um ihr ertrunkenes Kind. Auch im Wald hört man Maschinen und sieht verstreutes technisches Arbeitsgerät.

Apichatopong Weerasethakuls Filme sind politisch präzise, besitzen zugleich aber absurden Witz, Eleganz, eine tiefe Freundlichkeit allem gegenüber, das sie zeigen. Was sie so einzigartig macht, ist vor allem ihre emphatische Offenheit fürs gar nicht Besondere, das aber angesichts dieser Offenheit und Geduld ganz eigentümliche Verführungskräfte entfaltet. Ihre Offenheit ist so fundamental, dass sie alle Konventionen so sanft wie selbstverständlich missachtet. Das gilt auch und gerade für ihre Form. Auch sie kann sich jederzeit öffnen für Fremdkörper, die der Film freudig auf dem eigenen Gebiet empfängt, ohne sie sich sofort aneignen zu müssen. So hören wir mitten im Film eine Stimme aus dem Nichts, aus dem Off. Min spricht - aber fast zögert man, dieses Ich sofort wieder zu objektivieren - und erzählt, wie er von Roong Thai gelernt hat. Er erwähnt auch kleine Zeichnungen, die er heimlich anfertigt. Und während er spricht, aus dem Off, sehen wir weiße Schriftzeichen, gleich darauf krakelige Zeichnungen, die übers Filmbild geblendet werden und dann wieder verschwinden.

Alles ist möglich in Apichatpong Weerasethakuls Filmen. Sie sind voller erstaunlicher Fremdkörper, verzauberter Dinge, erstaunlicher Neuanfänge und grotesker Einfälle. Nun haben die Filmemacher von der Filmzeitschrift Revolver den vielleicht immer noch schönsten der Filme des Regisseurs auf DVD herausgebracht. Man sollte ihnen dankbar sein und sich durch den Kauf reich beschenken.

(ursprünglich erschienen in der Kolumne dvdesk in der taz, 11.09.2008)

 

The Adventure of Iron Pussy (2003)

Mit nur zwei Filmen hat sich der 1970 geborene thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul schon einen beträchtlichen Ruf in der internationalen Filmszene erarbeitet. Sein Debüt Mysterious Object at Noon (2000) zeigt, zwischen Dokument und Experiment, die Verfertigung einer Geschichte beim Filmen nach der Art des Fortsetzungsromans mit verschiedenen Autoren. Blissfully Yours (2002) riss die Cahiers du Cinema, aber auch den New Yorker Film Comment zu hymnischen Kritiken hin: Erzählt wird in klaren Bildern eine Liebesgeschichte, in der sich die Verortung in der thailändischen Gegenwart und die Offenheit auf metaphorische Auslegungen hin nicht ausschließen. Nach diesen zwei Filmen glaubte man, so etwas wie die Handschrift Weerasethakuls zu kennen und Ähnliches von ihm erwarten zu dürfen.

Der im Forum gezeigte Film The Adventure of Iron Pussy hat jedoch mit dem bisherigen Werk Weerasethakuls nichts zu tun. Was man hier vors Auge geknallt bekommt, ist eine wilde Travestie auf einen Spionagethriller. Agent «Iron Pussy» ist – da fungieren eher amerikanische Superheldencomics als Vorbild – ein kleiner Verkäufer, der sich für seine Agenten-Einsätze in Schale wirft und grell geschminkt und in Frauenkleidern die Schurken der Welt bekämpft. Sein Geliebter Pew ist, auf dem Motorrad, stets dabei und notfalls auch lebensrettend zur Stelle. Hier geht es nun gegen einen Schurken, der eine Droge entwickelt, die Menschen gefügig macht, mehr erfährt man nicht und es ist auch sowas von egal. Mehr als einen grellbunten Jux nämlich mit der Verulkung des Genres, durch Einarbeitung des schwulen Element, durch Umarbeitung ins Musical-Genre will der Film sich nicht machen.

Die technischen Mittel sind dürftig, gedreht hat man mit Digital Video und zu sagen, dass man das auch sieht, wäre noch untertrieben. Es findet sich darüber hinaus kein einziger Originalton auf der Tonspur, die dafür mit heftiger Musik und den synchronisierten Stimmen vollgeknallt ist. Selten nur gibt es dabei so etwas wie Lippensynchronität – und offenkundig hatte auch niemand den Ehrgeiz dazu. Die Wendungen des Plots sind obskur, die Scherze mal gelungen, mal nur dem Thai-Publikum (das der Film seines schwulen Agenten wegen vermutlich nie haben wird) so recht verständlich, mal auch einfach doof und viel zu lang. Hübsch vor allem das Ende, als, am seidenen Faden hängend, Agent Iron Pussy und der Verbrecher Tang, in den er sich verliebt, der sich in ihn – als Frau – verliebt hat, in Gesang ausbrechen.

Das ganze also ein Spaß, nichts weiter, und nichts, was man von Weerasethakul auch nur im entferntesten erwartet hätte. Es gibt dafür einen einfachen Grund: The Adventure of Iron Pussy ist weniger sein Projekt als das des Künstlers und Darstellers des Titelhelden Michael Shaowanasai, der drei selbstgedrehten und in Galerien und Ausstellungen der westlichen mehr als der thailändischen Welt gezeigten Iron-Pussy-Kurzfilmen nun als Ko-Regisseur diesen Langfilm folgen ließ. Weerasethakuls originäre Idee war die Verwandlung ins Musical. Anwesend nach der Vorführung war nur der auch live einige Entertainer-Qualitäten zeigende Star von Iron Pussy. Weerasethakul hat gerade seinen nächsten Film abgedreht, Tropical Malady, dies hier wird in seinem Werk ein eher unerhebliches Nebenprojekt bleiben.

(zuerst erschienen: Perlentaucher, Berlinale, 09.02.2004)

 

Tropical Malady (2004)

Am Anfang liegt eine Leiche im Gras, man erkennt sie schlecht. Soldaten sind unterwegs, sie haben die Leiche gefunden am Rand eines Waldes. Die Leiche kümmert sie wenig, sie machen Scherze im Sprechfunkverkehr. Eine kurze Einstellung lang sieht man, im selben Gras, am Rand desselben Waldes, einen nackten Mann, der sich vorsichtig bewegt. Auch ihn erkennt man schlecht. Wer die Leiche ist, warum sie starb, was der Mann da tut, das erfahren wir in Apichatpong Weerasethakuls Tropical Malady erst einmal nicht.

Das doppelte Rätsel des Beginns wird einfach übergangen. Stattdessen entwickelt sich, tastend, wie nebenbei erzählt, eine auf den ersten Blick ganz andere Geschichte. Der Blick des Soldaten Keng (Banlop Lomnoi) fällt in dem Haus, in dem die Soldaten Rast machen, auf Tong (Sakda Kaewbuadee), einen jungen Mann. Sie begegnen einander, in der Stadt, zufällig wieder. Tong flirtet, wie es scheint, im Bus mit einer Frau, da klopft ihm, durchs Fenster vom Transportwagen der Soldaten herunter, Keng auf die Schulter. Die nächste Begegnung ist kein Zufall mehr.

Weerasethakul erzählt diese Geschichte einer Annäherung, als erzählte er nicht. Als könne der Blick der Kamera wie von selbst an diese Bilder gelangen. Die Körper der Darsteller und ihre Sätze suchen und begegnen einander ungelenk. Sie sitzen–- draußen wieder, nicht in der Stadt – in einer Art Pavillon. «Darf ich meinen Kopf in deinen Schoß legen», fragt Keng. «Nein», sagt Tong. Dann überlegt er kurz: «Doch», sagt er. «Es war ein Scherz.» Darauf legt Keng seinen Kopf in den Schoß von Tong, und sie schweigen. Einmal sitzen sie im Kino, der eine legt seine Hand auf das Knie des anderen. Der legt sein rechtes Bein auf die Hand auf seinem Knie und hält sie gefangen; die Hand und das Bein balgen miteinander, und es ist, als merkten die beiden erst in diesem unernsten Kampf, dass es um Liebe geht und Lust.

Das könnte so weitergehen, aber es geht nicht so weiter. Denn Tong, eben noch im Bild, wird verschwunden sein. Keng blättert durch ein Fotoalbum, die Bilder des Films beginnen zu flackern, dann setzen sie aus, das Letzte, was wir sehen, ist ein Foto von Tong, dann wird die Leinwand erst einmal schwarz. Der Film setzt neu ein, und es ist, als käme er nun auf den Beginn zurück. Der Ton freilich ist ein anderer. Eine Art Erzähler meldet sich zu Wort und verweist in Bild- und Schrifttafeln auf die Legende von einem Schamanen, der als Geist in einen Tiger fährt.

Und der Schamane, der Geist und der Tiger fahren nun in den Film. Wechselte der erste Teil noch zwischen Stadt und Natur, spielt der zweite ganz im Dschungel. Das Verhältnis zwischen den Teilen ist nicht klar. Was sich ereignet, ist eine Transposition der Liebesgeschichte eher als ein radikaler Neubeginn. Ein Soldat, der vielleicht Keng ist, folgt im Dschungel einem nackten Mann, der vielleicht derjenige des Beginns ist. Ein Affe spricht zu ihm. Der nackte Mann und der Soldat begegnen einander, balgen miteinander, ein Kampf auf Leben und Tod und Einverleibung. Um den Gewinn eines neuen Selbst im Zwischenraum der Legende.

Wie im Traum leuchtet in der Nacht ein Baum voller Glühwürmchen im Dschungel. Wie im Traum die Begegnung des Soldaten mit dem Tiger auf dem Ast eines anderen Baums. Der Tiger blickt uns an, wir blicken ins Auge des Tigers. Das Erstaunliche ist, dass wir dem Film dahin folgen. Wie schon im Vorgänger, Blissfully Yours (2001), gelingt es dem jungen thailändischen Regisseur, die Natur und den Menschen darin zu verzaubern, ohne jedes mystische Raunen. Stattdessen das naturalistische Rauschen des Winds in den Zweigen, Geräusche des Dschungels bei Nacht. Der Blick des Films auf die Liebe und die Liebenden ist so beiläufig und scheinbar dokumentarisch wie der auf den Tiger und den Dschungel und die Nacht. Es sind dieser Blick und diese sehr physische Verortung des Menschen zwischen Zivilisation und Natur, die das Werk Weerasethakuls im Kino der Gegenwart so einzigartig machen.

Es wäre schön gewesen, wären die Schwarznuancen der Bilder bei der Digitalisierung der DVD etwas weniger verrauscht geraten. Der deutsche Titel «Liebe kennt nur den Moment» klingt irreführend. Dennoch darf man sich freuen, dass einer der großen Würfe im Kino der letzten Jahre nun jedem zugänglich ist.

(ursprünglich erschienen in der Kolumne dvdesk in der taz, 01.06.2006)

 

Syndromes and a Century (2006)

Eine Szene: Ein Zahnarzt, der einen Mönch behandelt. Der Mönch erzählt davon, wie wenig er eigentlich Mönch sein will, davon, dass eine ihm unbekannte Kraft ihn gezwungen hat, die Kutte überzuziehen. Der Zahnarzt erzählt davon, dass er in seiner Freizeit Thai Country Songs singt. Eine andere Szene: Eine junge Ärztin sitzt einem anderen, sehr viel älteren Mönch gegenüber, der ihr von Träumen mit Hühnern erzählt und von seiner Kindheit, in denen er Hühnern die Beine gebrochen hat. Dieselbe Ärztin haben wir vorher gesehen, als sie einen anderen Arzt examinierte, der neu in das Krankenhaus kam, das der Schauplatz von Syndromes and a Century ist.

Der Schauplatz der ersten Hälfte. In der zweiten Hälfte nämlich geht der Film noch einmal von vorne los. Mit einer anderen Ärztin, die einen anderen Arzt mit beinahe denselben Worten examiniert und dann einen anderen älteren Mönch behandelt, der etwas von Hühnern erzählt. Mit einem anderen Zahnarzt, der einen anderen Mönch behandelt. Dieser Zahnarzt aber singt keine Country-Songs. Das Krankenhaus des zweiten Teils liegt nicht, wie das erste, in sattgrüner Dschungellandschaft, sondern als Betonblock zwischen Betonblöcken in der Großstadt. Der zweite Teil von Syndromes and a Century ist eine Wiederholung des ersten, aber je länger er dauert, desto gravierender werden die Abweichungen.

Die Eltern des thailändischen Filmemachers Apichatpong Weerasethakul sind Ärzte, und er selbst erinnert sich an eine Kindheit und Jugend im Umfeld von Krankenhäusern. Syndromes and a Century ist dennoch weniger ein autobiografischer Film als ein Film über das Autobiografische. Weerasethakul imaginiert darin jenen Moment im Leben der Eltern, an den sich kein Sohn der Welt erinnern kann: den Moment, in dem sie sich kennenlernten. Aus dieser Urszene wird hier eine Meditation übers Erinnern und das Erzählen und darüber, wie man Erzählungen erinnert und in seiner Fantasie bebildert. Was arg theoretisch klingt, aber keineswegs ist.

Licht flutet durch die Bilder vom Krankenhaus in grüner Natur. Starr ist die Kamera, von großer Klarheit und Schönheit ist das, was sie zeigt. In einem der vielen Seitentriebe des Films sehen wir einen Liebhaber und Züchter von Orchideen. Auf dem Krankenhausgelände findet er in einem Baum eine nicht sehr beeindruckende Orchidee, über die er sagt: Man erkennt ihre Schönheit nicht auf den ersten Blick, viele meinen, es fehle ihr an Form. In diesen Mann verliebt sich, denkt man, die Ärztin, in die sich, wie man sieht, ein anderer verliebt hat. Man kann diese Orchidee als Bild nehmen für diesen Film, der sich jedem Versuch, ihn auf einen schlichten Nenner zu bringen, so sanft wie elegant sofort wieder entzieht.

Etwa ins Krankenhaus in der Stadt. Hier gerät die Kamera in Bewegung, sie schleicht durch die Räume, darunter ein dunkles, unheimliches Ambient-Brummen. Der Keller, in dem Militär-Patienten untergebracht sind, wird zum eigentlichen Schauplatz, in dessen neonbeleuchteten Gängen der Film sich verliert. In einem Raum mit Maschinen hängt ein merkwürdiger Absaugrüssel, der für lange Momente die Bilder, die Geschichte, den Sinn, ja, den ganzen Film in sich hineinzuziehen scheint. Aber auch diesen unheimlichen Seitenpfad lässt Syndromes and a Century hinter sich und springt vom Obskuren zurück ins Profane, vom Neon- ins Tageslicht. Wie stets bei Weerasethakul durchdringen sich das Tolle und das Schöne, das Flache und das Tiefe, das Klare und das Opake. Für den, der sich darauf einlässt, gibt es im Kino der Gegenwart kaum eine größere Lust als die, die seine Filme bereiten.

(ursprünglich erschienen in der Kolumne Dvdesk in der taz, 27.03.2008)

 

Onkel Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben (2010)

Ein Filmemacher schreibt einen Brief an Uncle Boonmee, in zwei leicht variierten Anläufen, Voiceover. Wir sind in Nabua, Nordthailand, die Kamera fährt in langsamen Bewegungen das Innere mehrerer Häuser ab. Man sieht Fotos an Wänden, anderes, Innenausstattung materiell nicht sehr reicher Leben. Es ist dunkel, ein Dämmerzustand, aber Licht fällt herein durch offen stehende Fenster. Ich habe Geld aus England bekommen, ich will einen Film über Dich machen, Uncle Boonmee. Zu hören ist das Flispern des Winds in den Bäumen, das lauter wird, das zum Rauschen wird, als die Kamera auf eines der Fenster zufährt und zoomt und zoomt, bis der Rahmen aus dem Bild verschwunden ist: Nur noch Grün, Bäume, Rauschen. Die Kamera bewegt sich freier, auch draußen jetzt. Soldaten liegen herum, es ist unklar, wo sie herkommen, ob sie gegenwärtig sind, wirklich, oder nur eingebildet, vergangen. Fast gegen Ende des rund viertelstündigen Films sieht man die Zeitmaschine, die Apichatpong mit den Bewohnern von Nabua gebaut hat, Rauch steigt auf. Ein Rind ist im Bild, ein Hund. Die Zeitmaschine kennt man aus Primitive, der Kunstinstallation, die Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives vorausging, ebenso wie A Letter to Uncle Boonmee, der tastende Brief in Tönen und Bildern an den verstorbenen Protagonisten eines künftigen Films.

Uncle Boonmee gab es und das Buch über die Leben, an die er sich erinnert, gibt es tatsächlich. Es ist 1983 im Verlag eines Klosters erschienen, das erfährt man im Abspann. Jener Uncle Boonmee ist und ist nicht der dieses Films. Der im Film erinnert sich gar nicht richtig an seine vergangenen Leben, aber an das eine eigene, das nun wiederkehrt, in Szenen und Geistern. Statt an vergangene Leben erinnert sich dieser Uncle Boonmee aber an die Zukunft, in einer Vision spät im Film, als er im Sterben liegt, als der Film, der sich vor allem an dieser Stelle an A Letter to Uncle Boonmee erinnert, auf die Soldaten zurückkommt und auf die Zeitmaschine. Uncle Boonmee berichtet von einer Zukunft unter einem totalitären Regime, dessen Sicherheitsoffiziere Menschen aus der Vergangenheit mit Lampen aufspüren und das Leben dieser Menschen auf ihrem Weg von der Vergangenheit in die Zukunft auf Leinwände projizieren: «Und sobald diese Bilder erschienen, ‹verschwanden› diese vergangenen Menschen.» Dazu sieht man Fotografien, Jugendliche, die man aus anderen Filmen von Apichatpong zu kennen meint, Soldaten in freundlicher Runde mit einem Geisteraffen, Fotografien als Freeze Frames, und wer will, denkt zurück an das, was Uncle Boonmees Sohn Boonsong, als er am Tisch des Vaters erschien, erzählt hat, davon, wie er zum Tier, zum Geist, zum anderen Wesen geworden ist: In einem Foto, das er gemacht hat, sah er einen Affengeist und ging hinaus in den Wald und paarte sich mit ihm und wurde so selber einer. Jetzt sitzt er, mit der vor vielen Jahren verstorbenen Mutter und deren Schwester und Tong, der später zum Mönch wird, auf der Veranda. Es ist zu hell für einen Affengeist mit Zottelfell und leuchtend roten Augen, man löscht das große Licht, man betrachtet Fotografien. Boonmee weiß, dass er sterben wird.

Ein Zitat aus dem Buch des realen Boonmee steht dem Film voran: «Im Angesicht des Dschungels, der Hügel und Täler / erstehen meine vergangenen Leben als Tier und als andere Wesen vor mir.» Dämmerlicht bestimmt die ersten Bilder des Films, man sieht den Dschungel, die Hügel und Täler und einen Ochsen, der ausbüchst, querfeldein, in den Wald. Ein Mann fängt ihn wieder ein, aber das dauert eine Weile, führt ihn zurück. Zwischendurch sieht man, ein Affengeist-Vorleuchten, einmal rote Knopfaugen im Wald. Es ist nicht unmöglich, in dem Ochsen Uncle Boonmee zu sehen, seine Existenz in einem früheren Leben; weniges überhaupt ist unmöglich in diesem Film, der mit sehr schöner Sanftheit seine Figuren, die Menschen, die Tiere und die anderen Wesen über Grenzen und Schwellen führt, solche zwischen Wirklichem und Geträumtem, Gegenwärtigem und Vergangenem und Kommendem, Dunklem und Hellem, zwischen früheren Filmen des Regisseurs und diesem (und zukünftigen sicher auch), zwischen Märchen und Politparabel, Trauer und Trost und natürlich Leben und Tod. Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives ist, mit einem Wort, ein Film der selbstverständlichen Präsenz von Gespenstern und Zwischenwesen in Übergangszuständen. Es ein Film über das Liminale.

Um Grenzen und Schwellen geht es und die Passagen hindurch und hinüber. Im Grenzgebiet zwischen Thailand und Laos spielt der Film, ein Laote ist es, der den nierenkranken Boonmee pflegt, der Hand an ihn legt, ihn umsorgt, ein Mann von jenseits des Mekong, des Grenzflusses, der Laos und Thailand trennt – aber unklar trennt, es gibt Ansprüche beider Seiten auf einzelne Inseln und deshalb keinen rechtsverbindlich festgeschriebenen Grenzverlauf; eine Grenze, denkt man, nach dem Geschmack dieses Films. Jaai, der Mann, der mutmaßlich illegal arbeitet, spricht eine andere Sprache, aber keine ganz fremde. Boonmee und Jen verstehen ihn, Tong versteht ihn nicht. Jaai wird zurückkehren nach Laos, über die Grenze, eine Frau wartet auf ihn in seiner Heimat. Sie sind in Kontakt in Telefonaten und Fotografien, weil keine Trennung ohne Trostmedium und Trostgespenst bleiben darf in diesem Film. Trost ist aber, darum bleibt der Schmerz, etwas anderes als Heil.  In einem Gespräch mit Huay, dem Geist seiner Frau, fragt Boonmee sie danach, wie es ist jenseits der Grenze, die der Tod markiert, wie er sie dort finden kann. Die Geister erfährt er, verkehren nicht miteinander. Sie hängen an den Lebenden, suchen deren Nähe, nicht die der anderen Toten. «Der Himmel wird überschätzt.» Der sterbende Boonmee und seine verstorbene Frau umarmen sich innig, in Trost und Schmerz, wie zwei, die wenig Hoffnung haben, einander je wiederzusehen.

Von «rites de passage» spricht die Ethnologie, hergebrachten Ritualen, die mit festen Abläufen Hilfe leisten beim Überqueren von Schwellen, die dem Dunklen und Unklaren Klarheit und Helligkeit zu geben versprechen, indem sie dem im Leben des Menschen Unverständlichen den Schein des Selbstverständlichen geben. Uncle Boonmee zeigt nun allerdings eine deshalb durchaus moderne Welt, in der Riten dieser Art eigentlich nicht recht existieren, eine Welt, in der meist der Dämmer regiert und das Dunkel (aber dann ist es auch wieder taghell), eine Welt, in der es keine eindeutigen Wege von hier nach da, durch die Grenze, über die Schwelle mehr gibt. Dafür unerwarteten Grenzverkehr, ein Harren und Tasten und Wiederkehren, den Versuch, sich einzurichten aufs Sterben, sich einzurichten oder neu anzufangen im Leben: Boonmee legt sich hin zu sterben; Tong dagegen wird ein Mönch, wie es der Mann einmal war, der ihn spielt. Es gibt das Suchen nach Pfaden hinein in die bestirnte Höhle, die auch ein Mutterleib ist, und vielleicht nicht nur für die, die nicht gestorben sind, führen Pfade wieder hinaus. Kein Weg ist versperrt, eher schon ist alles zu durchlässig, zu offen, die Zone des Liminalen hat keinen fest umrissenen Anfang und kein klares Ende. Diesseits und Jenseits sind kaum geschieden und es ist diese Ungeschiedenheit, in der das Herumlungern auf Schwellen und das Überschreitun von Grenzen möglich sind, die Uncle Boonmee Who Remembers His Past Lives vor Augen führt ohne Erklärungsbedarf.

Eine solche bei Lichte besehen unbedingt wahnsinnige Durchlässigkeit will mit großer Lässigkeit in Szene gesetzt sein. Und darin liegt, von Film zu Film mehr, Apichatpongs große Meisterschaft. So kunstvoll wie scheinbar aufwandlos entfaltet er eine Wirklichkeit, die sich für vieles, für alles Mögliche öffnet. Kein anderer Formalist ist so fähig zu anrührender Einfachheit. Kein anderer Naiver ist so ausgefuchst experimentell. Über fast gar nicht spürbare Schwellen geleiten die Filme von Apichatpong den Betrachter einfach von hier nach da. Man merkt kaum, dass man plötzlich anderswo und erst recht begreift man nicht (und will aber auch gar nicht begreifen), wie man dorthin nun gelangt ist. So liegt in der einen Einstellung jemand, Jaai vielleicht, in der Hängematte im Dämmerlicht auf der Veranda, so sieht man in der nächsten den Wald, und gleich darauf raschelt zwischen den Bäumen eine von halbnackten Männern getragene Sänfte mit einer Märchenprinzessin heran. Wir sehen der Prinzessin Gesicht nicht, denn es ist verborgen hinter Schleiern und Schleiern. Wir sehen in einer Subjektiven, wie sie auf den Hinterkopf eines der Träger blickt, sein Haar streichelt, ihre Hand auf seine Schulter legt und wir sehen, wie er in einer zärtlichen Geste ihre Hand berührt und zurückblickt.

Die beiden sind Liebende oder sind es gewesen. Die Sänfte hält an, die anderen Männer sind verschwunden und die Prinzessin, deren Gesicht entstellt ist, kann die Liebe des Sänftenträgers nicht mehr ertragen. Sie wendet sich dem Wasser zu, dessen Oberfläche ganz glatt ist, obwohl im Hintergrund ein spektakulärer Wasserfall rauscht, so glatt, dass sich ihr Gesicht darin spiegelt. Aber nicht, wie es wirklich ist, sondern in unentstellter Prinzessinnenschönheit. Ein Wels ist der Herrscher dieses Gewässers und er lockt die Prinzessin hinein, ins Wasser, zu sich. Sie entledigt sich Stück für Stück ihres Schmucks, eine Reihe von Gaben, sie legt sich auf den Rücken im Wasser, öffnet ihre Beine und hat Sex mit dem Wels, so wie Boonsong Sex mit dem Affengeist hatte und so selbst einer wurde. Die Durchlässigkeit ist nicht nur eine der Räume und Zeiten, sondern auch eine der Wesen. Kein Mensch ist nur Mensch, kein Tier ist nur Tier, kein anderes Wesen ist nur anderes Wesen. Nach dem Sex zwischen Prinzessin und Wels taucht die Kamera unter Wasser, zum herabsinkenden Schmuck, auf den Boden, ein Sprudeln, ein Glucksen und gleich darauf sind wir schon wieder anderswo, auf der Veranda, im Dunkeln, wo Jen mit einer elektrischen Klatsche zu kurz aufsirrendem Brutzelgeräusch herumschwirrende Insekten erledigt.

Ich werde bestraft, sagt Uncle Boonmee, früher, oder später, zu Jen in der Honighütte, weil ich zu viele Kommunisten getötet habe und auch zu viele Insekten auf meiner Farm. Aber deine Absicht war gut, die gute Absicht ist das, was zählt, erwidert Jen. Zuvor lässt er seine Schwägerin einmal vom Honig kosten, den die Bienen auf seiner Farm aus Mais und Tamarinden gewinnen. «Süßsauer», sagt er, lächelnd, und gleich darauf spricht er mit Jen in der Honighütte über die Bürde der Krankheit und Jen erzählt von ihrem Vater, der auch Kommunisten getötet hat und der in den Wald ging, um die Tiere zu jagen und so lange blieb, bis er mit ihnen zu sprechen gelernt hat. Die Passagen von hier nach da und der Verkehr mit anderen Orten und Wesen, all das kehrt in diesem Film wieder wie auch viele der Darstellerinnen und Darsteller (Jen, Tong) aus Apichatpongs früheren Filmen. Nicht nur die Episoden des Films, das ganze Werk des Regisseurs ist von dieser charakteristischen Durchlässigkeit. Jaai erinnert an Min aus Blissfully Yours, der illegal im Grenzgebiet zu Birma arbeitete, und ganz am Ende von Uncle Boonmee taucht als Jens Tochter eine Figur Roong auf, die von der Roong-Darstellerin Kanokporn Tongaram ebenfalls aus Blissfully Yours gespielt wird.

Was auch wiederkehrt, ist das Thema Krankheit, von Min mit seinen Hautausschlägen bis zu den Krankenhaus-Schauplätzen von Syndromes and a Century und jetzt Boonmee mit seinem Nierenleiden. Das hat gewiss seine biografischen Gründe darin, dass Apichatpongs Eltern Ärzte sind, aber zugleich ist die Krankheit selbst eine Art Urbild liminaler Zustände als jene Verfassung von Körper und Geist, die den Betroffenen aus dem normalen Leben auf eine Schwelle entrückt, ein kleineres oder größeres Stück näher an Fieber, Fantasie, Traum und Tod. So ist nicht nur der Protagonist selbst, sondern auch Uncle Boonmee, der Film, vom Zustand der Krankheit befallen, aber er stellt das, obwohl das Leid und der Schmerz keineswegs verschwiegen werden, nicht als etwas durchweg Schreckliches vor. Die Menschen, die Tiere und die anderen Wesen eilen herbei, nicht zur Rettung, denn Boonmee muss, wie alle anderen Menschen, alle anderen Tiere und möglicherweise auch alle anderen Wesen, tatsächlich sterben. Aber der zum Affen verwandelte Sohn, die zum Geist gewordene Ehefrau, der Mann von jenseits der Grenze, der andere Mann, der dann Mönch wird, sie alle eilen und gleiten und schleichen herbei, mit leuchtenden Augen im Dunkeln oder als erscheinender und verschwindender Geist, um Boonmee zu trösten und bei ihm zu sein. Uncle Boonmee ist kein Film über Wiedergeburt, erst recht natürlich kein Film über das Wunder einer Auferstehung, aber es ist doch etwas daran, das ein wenig über den Verstand geht: Uncle Boonmee muss sterben und am Trost, den der Film ihm und uns in seiner leisen Feier der Zwischenzustände spendet, ist nichts falsch.

(aus Cargo #7, September 2010)

 

Cemetery of Splendour (2015)

Sie schlafen. Soldaten der thailändischen Armee, ein ganzer Saal voll, in einem Krankenhaus, das früher eine Schule war, die auf dem Grund eines Friedhofs der Könige aus längst vergangener Zeit errichtet wurde. Sie schlafen und sie werden nie mehr erwachen. Die Könige in ihren Gräbern, heißt es einmal, bedienen sich ihrer Energie, zehren von den Soldaten, die darum nicht leben und auch nicht sterben. Es sind Menschen um sie, Verwandte oder auch eine Frau, die zu den Schlafenden Kontakt aufnehmen kann, die die Grenze zwischen wachem Bewusstsein und dem Unbewussten im Schlaf überschreitet.

So können die Verwandten den Schlafenden zum Beispiel fragen, was er von Bodenfliesen in der neuen Küche hält. (Die Antwort hilft nicht wirklich weiter.) Die Soldaten schlafen, aber manche von ihnen haben doch Anteil am Leben, das ohne sie weitergeht. Die Fenster im Saal sind offen, das Licht dringt herein, die Geräusche der Natur dringen herein, eine Tonspur, immer präsent, schon vor den ersten Bildern präsent, am Anfang bleibt das Bild lange schwarz, darunter die Tonspur, auf der es rauscht und zwitschert und auf der die Blätter der Bäume im Wind nicht sanft, sondern ziemlich lautstark rascheln: Ambient der nachdrücklichen Art. Draußen wird gegraben, ein Bagger ist am Werk, das ist das erste Bild, der Friedhof der Könige unter dem Schlafsaal wird aufgegraben, umgegraben, man weiß nicht warum, am Ende ist da eine Wüstenlandschaft der staubigen Dünen, in der Kinder ein Fußballspiel spielen, bergauf und bergab, ein mühsames Spiel.

Eine Frau, Jenjira Pongpas, hat sich Itt, einen der Soldaten, erwählt: als Sohn, den sie pflegt, an dessen Bett sie wacht, dessen Schlaf sie hütet, dessen Wachträume sie teilt. Oder vielleicht sind seine Wachträume auch ihre Fantasien, jedenfalls spricht sie mit ihm, stützt ihn, geht mit ihm einmal sogar in ein Kino, ein Multiplex in der Stadt. Man sieht da, was sie sehen, es ist eine Art Traum im Traum, der Trailer eines wilden thailändischen Films mit Schlangen aus Mündern, ein Alptraum, man versteht nicht so ganz, worum es geht, aber die rasche Bildfolge ist als kurzes Fantasy-Spektakel traumlogisch schön. Nach dem Trailer stehen sie auf, Jenjira und Itt und die anderen Kinobesucher, es müsste jetzt zu Ehren des Königs wie bei jedem Film die Hymne gespielt werden, aber sie wird nicht gespielt. Die Kinobesucher stehen, sie warten, aber der zwanghafte Ritus, der die thailändischen Bürger noch im Kino auf König und Vaterland einschwört, geht ins Leere.

Man sieht nur noch, wie zwei Männer den wieder eingeschlafenen Itt aus dem Kino schleppen im Multiplex-Rolltreppenhaus. Im Traum, im Schlaf, in Jenjiras Fantasie: Es sind Bilder, soviel steht fest. Bilder in einem Film von Apichatpong Weerasethakul, der in Cemetery of Splendor radikaler denn je darin ist, in seinen Bildern Reales und Irreales zu zeigen, und alles dazwischen. Ob sie schlafen, ob sie träumen, ob sie fantasieren, ob was man sieht, wirklich geschieht, ob es Gegenwart oder Vergangenheit ist oder Zukunft, ob das eine vor dem anderen oder danach oder gleichzeitig geschieht, ob es wahr ist oder falsch oder beides oder keines von beidem, ob etwas nur einmal passiert oder sich wiederholt, ob man Lebende sieht oder Tote oder Halblebende oder Untote, ob Jenjira Pongpas, die auch im richtigen Leben Jenjira Pongpas heißt, eine Rolle spielt, oder die ist, die sie ist: All das bleibt in der Schwebe. Ein Bild ist ein Bild und es zeigt, was es zeigt.

Weerasethakul zieht keine Grenzen. Die Montage trennt nicht, sondern verbindet, und zwar in einem stetigen Gleiten. Sie verbindet aber nicht, indem sie die eine Szene an die nächste, das eine Bild an das andere klebt. Die Verbindung bleibt offen, von Moment zu Moment. Offen bleibt, wie sich das eine zum anderen verhält, ob etwas fortgesetzt wird oder abgebrochen, ob das wechselt, was man mit der Logik des Realen den Wirklichkeitsstatus nennen würde. Nur ist die Logik des Realen hier ganz außer Kraft. Im Film gelten eigene Regeln, oder gar keine Regeln, jedenfalls nicht die des Realen, nicht die einer Grammatik: Mit der Einsicht, dass das Kino zwar rhetorische Formen kennt, aber keine feste Grammatik hat, dass zwischen einem Bild und dem nächsten alles liegen kann oder nichts, das eine Folge von Bildern kein «weil» und «obwohl» und «danach» und «davor» und auch nicht die klare Differenz von «und» und «oder» oder «sowohl als auch» kennt, dass also das Kino denkbar offen ist für Verbindungen aller Art, mit dieser Einsicht macht Weerasethakul so radikal ernst wie sonst keiner. Und, übrigens, an keines der Bilder muss man im strengen Sinn glauben.

Aber dieser radikale Ernst ist bei ihm immer auch ein großer Spaß. Alles ist möglich, auch der albernste Quatsch. Spermasalbe zum Beispiel und das Spiel mit der Erektion eines Soldaten. Unversehens gibt es mal wieder, man kennt das aus früheren Filmen, den Schnitt aus dem Traum- und Schlafsaal zu Outdoor-Workout und knalligem Thai-Pop – bis dahin gab es außer im Filmtrailer überhaupt keine Musik. Das ist dann sozusagen Weerasethakuls Signature-Quatsch. Ganz wichtig ist diesmal das Essen. Ständig wird davon geredet. Und es wird auch gegessen. Zwei schöne junge Frauen setzen sich draußen zu Jenjira an den Tisch. Sie sind, sagen sie, die beiden Statuen aus dem Tempel, Göttinnen, Jahrunderte alt, denen Jenjira Opfergaben bringt, kleine Figuren, einen Tiger zum Beispiel. Erst ist Jenjira ein wenig befremdet. Dann erkennt sie sie wieder. Sie haben ihr etwas zu essen gebracht.

So sitzt das Erhabene neben dem Banalen, das Tolle neben dem Schönen, das Alltägliche neben dem Transzendenten. Und Weerasethakul lässt es da sitzen. Weil in seinen Filmen alles ein Zulassen und Durchlassen ist, ein Aufnehmen und Einatmen und Ausatmen. Apropos: Früh im Film bekommen die Soldaten eine Atemmaske verpasst. So atmen sie freier, so schnarchen sie auch nicht mehr. Merkwürdiges Gestänge mit wechselndem Licht, weiß und rot und blau, steht neben den Betten, Rohre, irgendwas zwischen medizinischer Apparatur und künstlerischer Lichtinstallation. Eine der schönsten Szenen im Film ist eine ganz langsame Überblendung: aus dem Rolltreppenhaus des Multiplexkinos in den nächtlichen Schlafsaal, in dem die Reihe der Lichtrohre roten Dämmer erzeugt. Lange geht das in dieser Blende, ein sanftes Gleiten wie von diesem in ein anderes Leben.

So sanft Weerasethakuls Filme sind, so robust sind sie auch. Orchideen, die man schützen muss, die gibt es. Aber Cemetery of Splendour sperrt sich keineswegs gegen politische Deutung. Ja, der Film bietet sich sogar offen dar als Allegorie eines Landes, das darauf wartet, aus seinem autoritären Schlummer erst noch zu erwachen. Es ist, hat der Regisseur gesagt, der letzte Film, den er in Thailand gedreht haben wird. Aber auch mit dem Kino im engeren Sinn macht Weerasethakul, hat er gleichfalls verkündet, jetzt erst einmal Schluss. Stärker als frühere seiner Werke gleitet dieser hinüber in die eher installativen Bilder der Videokunst. Es wäre einerseits schade, käme der eigenwilligste Regisseur seiner Generation dem Kino abhanden. Andererseits lernt man bei ihm, wie schön und befreiend es sein kann, den Übergang und das Passieren der Grenze zu akzeptieren. Seien wir also voller Vorfreude auf alles, was kommt.

(erschienen in der taz, am 14.10.2016)