diagonale 2009

25. März 2009

Anna Wilhelmine Gmeyner (1902-1991) Notizen zu den Filmen der österreichisch-britischen Schriftstellerin und Drehbuchautorin

Von Lukas Foerster

Thunder Rock

© Diagonale

 

Anna Wilhelmine Gmeyner wurde 1902 in Wien geboren. Schon in den 20er-Jahren verlässt sie das erste Mal Österreich, zunächst in Richtung Berlin und Edinburgh. Während der Machtübernahme der Nationalsozialisten lebt sie in Paris, 1935 zieht sie nach London. Überall ist sie künstlerisch aktiv, durchgängig als Romanschriftstellerin, Dramatikerin und Dichterin, gelegentlich als Dramaturgin (unter anderem bei Erwin Piscator) und als Drehbuchautorin. Das Grazer Filmfestival Diagonale widmete dieses Jahr dem letzteren Betätigungsfeld eine Retrospektive. Fünf Filme waren zu sehen und damit fast alle, an denen die erst 1991 verstorbene Exilösterreicherin mitwirkte.

Der Reiz dieser Filme besteht nicht darin, dass man in ihnen einer Autorenposition auf die Spur kommen könnte. Dazu ist das filmische Werk zu klein und zu heterogen, außerdem teilt sich Gmeyner die Autorenschaft oftmals mit mehreren Mitschreibern und bleibt in einigen Fällen anonym. Was die kleine Filmschau jedoch ermöglicht, ist eine interessante Perspektive auf das europäische Kino der 30er- und 40er-Jahre als eines, das geprägt ist von Exilerfahrungen, transnationaler Zusammenarbeit und diskursiven Öffnungen.

 

Du haut en bas (1933)

1932 ist Gmeyner an Don Quixote beteiligt, einem Film des damals noch Mit-Exilanten G.W. Pabst. Ein Jahr später dreht Pabst die Komödie Du haut en bas und Gmeyner verfasst das Drehbuch. Der Film beginnt mit einem Fußballspiel. Im Innenhof eines Mietshauses, das der Film im Folgenden nicht mehr verlassen wird, verfolgen dessen Bewohner das Spiel im Radio. Einer der Fußballspieler ist ihr Mitbewohner. Charles Boulla heißt er, ein Franzose im Dienste des Wiener Fußballs. Verkörpert wird er von Jean Gabin.

Die Zimmer und der Film öffnen sich auf den Innenhof. Alles ist bühnenförmig und vom Theater her gedacht. Die Kamera bewegt sich fließend durch Hof und Haus. Von Fenster zu Fenster, durch Türen ins Treppenhaus und so weiter. Grundsätzlich ist alles sichtbar in dieser Anordnung, wer sich verstecken möchte in diesem Film – und da es sich um eine Komödie handelt, möchte sich andauernd irgend jemand verstecken – der fliegt noch jedes Mal auf. Zu Beginn muss das ein Dienstmädchen erfahren. Den Hund der Herrin kann sie noch ins Nebenzimmer sperren, während sie sich mit ihrem rundlichen Liebhaber vergnügt (die Luftsprünge des Hundes begleiten die Liebesszene), diesen selbst, der noch in seinem Versteck hinter der Tür zum Bierglas greift, vermag sie vor ihrer Herrschaft dann nicht mehr erfolgreich zu verbergen.

Versteck, Rückzug und Defensive sind fehl am Platz in diesem Film – und, das ist dann doch ein gemeinsamer Nenner, auch in allen anderen Filmen der Reihe. Stattdessen gilt es, sich ohne Rücksicht auf Verluste auf das Schlachtfeld des Sozialen zu wagen. Die Filmfiguren, zumindest die, denen die Sympathie des Drehbuchs gehört, erfinden sich selbst ständig neu. Die angehende Lehrerin Marie wird kurzerhand zum russischen Zimmermädchen, der Fußballer liest ihr Zuliebe Anna Karenina statt Arsene Lupin und Buffalo Bill. Außerdem lernt er, die Ellenbogen beim Essen nicht mehr auf den Tisch zu stützen.

Vielleicht ist diese Domestizierung die Rückseite der Fluidität und Offenheit, die das Leben im Mietshaus auszeichnet. Denn es ist letztlich das Streben nach einem wahlweise bildungs- oder kleinbürgerlichen Equilibrium, das den Plot und die Figuren umtreibt. Die beiden Paare, die sich am Ende des Films bilden, sortieren sich an diesen beiden Polen. Dabei werden nicht nur dem machohaften Fußballer die Kanten abgeschliffen, sondern auch dem urbanen Penner Michel Simon (der hier seine Boudu-Routine noch einmal aufwärmt) und im Grunde auch den zugehörigen Frauen.

 

The Passing of the Third Floor Back (1936)

Der vielleicht schönste Film der Retrospektive ist The Passing of the Third Floor Back aus dem Jahr 1936. Die britische Produktion wurde von Berthold Viertel – auch er ein Exilant – inszeniert, Gmeyner war als anonyme Beraterin ohne Vorspanncredit beteiligt. Wie Du haut en bas konzentriert sich The Passing of the Third Floor Back auf einen Schauplatz. In einem Londoner boarding house lebt eine Reihe mehr oder weniger trauriger Gestalten vor sich hin, bis sich eines Tages Conrad Veidt als «Der Fremde» einquartiert.
Der Fremde bleibt ohne Namen und nicht nur bei seinem ersten Auftreten (Großaufnahme, melodramatische Beleuchtung, im Hintergrund eine Kirche) wirkt er wie eine Mischung aus Jesus Christus und Dracula. Wie man einem Brief Viertels an Gmeyner entnehmen kann, entspricht die erste Assoziation der Autorenintention. Doch die Erlösungsgeschichte bleibt ambivalenter, als Veidts erstes Auftreten glauben machen könnten.

Noch expliziter als in Du haut en bas wird in The Passing of the Third Floor Back Gesellschaft verhandelt. Der Blick aus dem Fenster des boarding house offenbart eine Art kitchen sink-Totalität: Trostlose, verdreckte Dächer und Schornsteine soweit das Auge reicht. Im Haus ist das Dienstmädchen Stasia die einzige Repräsentantin dieser Ghettos. Ansonsten tummeln sich hier die traurigen Überreste des Bürgertums. Ein armer Architekt etwa, der die Offizierstochter Vivian heiraten möchte. Oder deren Eltern, die ebenfalls kein Geld haben und deshalb nach einem solventeren Ehemann Ausschau halten. Oder die zynische, alleinstehende Sekretärin Miss Kite.
Allesamt zittern sie vor Mr. Wright. Der ist Kapitalist durch und durch, seine Philosophie: «Collecting in the poor quarters». Wiederum in dem erwähnten Brief an Gmeyner weißt Viertel mit Blick auf die Filmvorlage, ein Bühnenstück Jerome J. Jeromes, darauf hin, dass er diesen Kapitalisten «entjudet» hat. Das Drehbuch verpasst Wright außerdem eine working class-Vergangenheit und bringt ihn auf eine Weise ins Spiel, die seine Drehbuchfunktionalität als Bösewicht transzendiert.

Die modernisierungsfeindliche Tendenz, die der Gegenüberstellung des Fremden, seinerseits Verehrer der klassischen Hochkultur auf der einen und der vom Kapitalismus noch unberührten Volkskunst auf der anderen Seite, mit Mr. Wright eingeschrieben zu sein scheint, wird immer wieder untergraben. Unter anderem während  eines gemeinsamen Bootsausflugs, der als technologisches Spektakel und als Manifestation einer neuen Massenkultur gefeiert wird. Als die Reisegesellschaft die sich öffnende Tower Bridge passiert, gleitet die Kamera nach oben und blickt aus der entpersonalisierten Perspektive der Brücke auf die staunenden Schiffspassagiere.
Hinter die Erkenntnis, dass ein solches genuin demokratisches Moment auch etwas mit all dem zu tun hat, wofür Mr. Wright steht, kommt der Film nicht mehr zurück, auch nicht in einer ausgedehnten, intensiven Dialogsequenz gegen Ende des Films, in der beide Kontrahenten ihr Welt- und Menschenbild voreinander ausbreiten. Es spricht für den Film, dass er diese komplexe Gegenüberstellung nicht vollständig in der angedeuteten Erlösersymbolik aufhebt und dass der melodramatische turn des Finales (Liebe & Eifersucht, Mord & Totschlag, Blitz & Donner) von einem diskusiven turn begleitet und ein Stück weit untergraben wird.

 

Pastor Hall (1940)

Nach The Passing of the Third Floor Back arbeitet Gmeyner noch an drei weiteren Filmen mit. Alle drei sind Arbeiten der Brüder John und Roy Boulting. Pastor Hall aus dem Jahr 1940 ist ein früher antinazistischer Spielfilm, der sich am Schicksal Martin Niemöllers orientiert. In einem bayrischen Dorf wird der aufrechte Pfarrer Frederick Hall mit den neuen Machthabern konfrontiert. Das nationalsozialistische Regime bekommt mehrere, divergente Gesichter. Es gibt den zynischen, aalglatten Sturmbannführer, es gibt einen belesenen, linientreuen Theologen, es gibt den leutseligen Leiter des Jugendcamps. Insgesamt interessiert sich Pastor Hall einerseits aufgrund seiner unmittelbaren Zeitgenossenschaft, andererseits aufgrund seiner Funktion als Mobilisierungsfilm, für die Analyse des nationalistischen Systems und seiner Voraussetzungen wenig und manches erscheint aus heutiger Perspektive naiv. So verhalten sich die Dorfbewohner zu der NS-Ideologie und ihren Manifestationen schlimmstenfalls kriecherisch, in jedem Fall aber als zu etwas ihnen selbst äußerlichem.

Die eindrücklichsten Szenen des Films spielen im Konzentrationslager, in das der Pfarrer schließlich überführt wird. Direkt neben dem Dorf scheint das Lager errichtet worden zu sein, während den Auspeitschungen sind im Hintergrund die bereits bekannten idyllischen bayrischen Berglandschaften zu sehen. In der Erzählung eines Juden, der aus dem damals noch sicheren Paris aus Heimweh in die deutsche Heimat zurückgekehrt war, spiegelt sich vielleicht auch Gmeyners eigene Exilerfahrung.

Ein Jahr später entsteht ein weiterer Mobilisierungsfilm, der fünfminütige Dawn Guard, als Auftragsarbeit für den National Screen Service. Die Bedrohung des traditionellen britischen Landlebens durch die deutsche Aggression schlägt um in die sozialpolitische Utopie eines kollektiven Fortschritts, der Technologie und Gesellschaft versöhnt. Der Blick in den Himmel (auf der Suche nach deutschen Fliegern) ist gleichzeitig der Blick in eine mögliche, bessere Zukunft.

 

Thunder Rock (1942)

1942 schließlich folgt das letzte und wahrscheinlich ambitionierteste Filmprojekt, an dem Gmeyner beteiligt war. Thunder Rock ist die Filmadaption eines Bühnenstücks von Robert Ardrey und wie die Vorlage klagt Roy Boultings Werk die Appeasement-Politik der späteren Achsenmächte gegenüber Nazideutschland aus der Perspektive ihres erwiesenen Scheiterns an. Der Journalist David Charleston verkörpert den fatalistischen Rückzug, die freiwillige Selbstaufgabe der eigenen historischen Handlungsmacht. Ehemals ein Journalist, der auf den Krisengebieten Europas zu Hause war, arbeitet er inzwischen als Leuchtturmwächter auf einem Felsen im Lake Michigan.
In Rückblenden wird erzählt, wie es zu diesem Rückzug kam. Nacheinander muss er in Japan, Italien, Spanien und Deutschland erleben, wie sich kaum jemand dem Siegeszug des Faschismus entgegen stellte. Endgültig desillusioniert wird er jedoch in seiner britischen Heimat, genauer gesagt: im Kino. Nachdem er selbst vor leeren Rängen wider den Isolationismus gepredigt hat, besucht er ein Lichtspielhaus. Während die Newsreels den Siegeszug der Faschisten zeigen, schlafen Charlestons Sitznachbarn, oder sie essen Popcorn, lachen und unterhalten sich. Erst als nach den Newsreels der Hauptfilm einsetzt, ein Komödienklamauk, richten sie sich auf und die Augen auf die Leinwand. Die Boultings zeichnen in dieser Sequenz das Unterhaltungskino als ein Ort politischer Passivität und setzen diesem implizit ihren eigenen Entwurf eines didaktisch-aufklärerischen Kinos entgegen.

Gleichzeitig erzählt der Film eine Geistergeschichte. Charleston ist fasziniert von einem Schiffsunglück im 19. Jahrhundert, das zahlreichen europäischen Einwanderern vor dem «Thunder Rock» den Tod brachte. In seiner Einsamkeit fantasiert er die Besatzung des Unglücksbootes in seinen Leuchtturm und lässt sie ihre Lebensgeschichten erzählen. Diese Emigrantenschicksale, die weite historische und ideengeschichtliche Bögen schlagen, konfrontieren ihn am Ende mit seinem eigenen Rückzug aus der politischen Wirklichkeit. Der Film endet damit, dass Charleston den Schiffbrüchigen, die sich im Leuchtturm längst häuslich eingerichtet haben, klarmachen muss, dass sie lediglich als Ausgeburten seiner Fantasie existieren. Als sie schließlich verschwunden sind, ist er bereit, den Leuchtturm zu verlassen. Er tritt vor die Tür, stellt sich auf den Felsen über der schäumenden Gischt und blickt in den Himmel.