spielfilm

19. Oktober 2012

Kriegerin Filmempfehlung: Miss Bala von Gerardo Naranjo

Von Bert Rebhandl

© Canana Films

 

Mit dem Titel der «Miss Baja» geht eine gewisse Verantwortung einher. Die Gewinnerin des entsprechenden Schönheitswettbewerbs «repräsentiert» die schönsten Frauen des mexikanischen Bundesstaates Baja California. Als dieser Satz gleich zu Beginn von Miss Bala fällt, würde man allerdings noch nicht vermuten, dass sich der Begriff der Repräsentation hier zu etwas ganz anderem weiten würde – zu einer Parabel nämlich, in deren Verlauf eine junge Frau zur Stellvertreterin eines ganzen Gemeinwesens wird, das im Zeichen der Gewalt lebt. Jedermann und jede Frau kann jederzeit in diese Gewalt verstrickt werden.

Im Falle der 23 Jahre alten Laura («Lau») Guerrero (Stephanie Sigman) ist es ein harmloser Satz einer Freundin, der alles auslöst. Sie hat sich mit Laura gemeinsam für die Ausscheidung um den Titel der «Miss Baja» nominieren lassen, nun will sie ihre Chancen erhöhen, indem sie sich an «ein paar Männer mit Verbindungen» wendet. Laura folgt ihr in einen Club, und wird dort Zeugin einer Schießerei. Sie sieht auch noch, wie drei Leichen in Plastiksäcken weggeschafft werden. Es ist das Ende eines Tages, an dem sie am Morgen mit großen Träumen das Haus verlassen hatte, in dem sie mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder lebt.

Über den weiteren Verlauf der Handlung muss hier nicht mehr verraten werden, als dass Laura, die mit dem Anbruch des neuen Tages meint, sie könnte den Schock dieser Nacht hinter sich lassen, ganz im Gegenteil immer tiefer in die Kämpfe der Verbrecherbanden verstrickt wird. Ein General Duarte macht Jagd auf eine Gruppe namens «La Estrella», das ist es im Grunde schon. Auch die meisten Mexikaner sehen solche Sachen in der Regel im Fernsehen, doch Miss Bala (so viel wie: «Miss Bullett») zeigt, was geschieht, wenn jemand unverschuldet in den Abgrund der Gesetzlosigkeit gerät. Der Film gewinnt seine Spannung durch eine minutiöse Erzählweise, die konsequent die beschränkte Perspektive von Laura beibehält, wobei Gerardo Naranjo eine äußerst raffinierte Dramaturgie der sukzessiven Öffnung des Geschehens verfolgt: je aussichtsloser seine Protagonistin zum bloßen Objekt, zum Spielball, wird, desto erstaunlicher und schockierender werden die Implikationen ihrer Rolle.

Den Höhepunkt erreicht diese Bewegung in einer Einstellung, die das ganze Geschick von Naranjos Regie in höchster Verdichtung erkennen lässt: Laura steht Hand in Hand mit einer Konkurrentin auf der Bühne, eine von beiden wird gleich zur «Miss Baja» erklärt werden. Zu diesem Zeitpunkt sind wir schon Zeugen so unglaublicher Geschehnisse geworden, dass diese Szene, die programmatisch in der Mitte des Films steht, zu einer großen Allegorie auf Sein und Schein wird. Laura ist diejenige, die hinter die Kulissen geblickt hat, und in ihrem Blick, den wir aus der großen Publikumsentfernung, die Naranjos Kamera hier einnimmt, kaum ausnehmen können, bricht sich die glänzende Inszenierung der Schönheitskonkurrenz.

Ihr Weg ist hier allerdings noch keineswegs zu Ende, denn erst jetzt wird absehbar, dass die Misswahl als solche Teil eines größeren Plans ist. Schon lange nicht hat ein Film die Spannung zwischen subjektivem Wissen und schockierend umfassender Intrige so bedrückend entfaltet – vergleichbar wären am ehesten die italienischen Politthriller der siebziger Jahre, die Naranjo hier mit großer Klugheit auf seinen Narco-Thriller überträgt. Wir sehen dieses Genre hier allerdings aus der Distanz einer Figur, die selbst kaum Handlungsmacht hat. So nimmt Miss Bala eine Beobachterposition auch gegenüber den Repräsentationsformen ein, die uns ein Bild vom Drogenkrieg in Mexiko geben. Und Laura Guerrero, die ohnmächtige «Kriegerin», wird zur unvergesslichen Heldin eines der für mich packendsten Filme der letzten Jahre.