dokumentarfilm

17. Oktober 2012

Vampire der Armut Zwei Filme im Mumok Wien

Von Bert Rebhandl

Bettler, Verrückte, Straßenkinder: So lautet der Auftrag an zwei Filmemacher, die in der kolumbianischen Stadt Cali eine Reportage für das deutsche Fernsehen drehen. Sie sind «Vampire der Armut». Bei ihrer Arbeit werden sie von einem zweiten Kamerateam beobachtet, das in Schwarzweiß dreht, während die eigentlichen Bilder des Elends in Farbe sind. «Und jetzt die putas», sagt der Regisseur, doch auf dem Weg zu den «Huren» sehen sie ein paar Kinder an einem Brunnen, und geben ihnen Geld, damit sie hineinspringen und im Wasser herumtollen.

Zunehmend bekommt das, was Luis Ospina und Carlos Mayolo in ihrem Klassiker Agarrando pueblo (1978) auf einer zweiten Ebene beobachten, die Züge einer «scripted reality». Leute, Bruchbuden, Straßen werden gecastet, um einen Eindruck von einer sehr vorgefassten «Kultur der Armut» geben, bei der die Reporter an das gleichnamige, umstrittene Buch von Oscar Lewis denken.

 

Fekete vonat

© Balázs Béla Stúdió

 

Im Wiener Museum für Moderne Kunst läuft Agarrando pueblo (den es hier auch im Netz gibt) heute zusammen mit dem ungarischen Dokumentarfilm Fekete vonat (Black Train, 1970) von Pál Schiffer. Die Auswahl hat der Künstler Josef Dabernig getroffen, und sie erweist sich als in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Denn in der schwarzweißen Reportage aus Ungarn, die von Wochenpendlern berichtet, die zumeist in Budapest arbeiten und am Freitag zu ihren Familien nach Hause fahren, und die dabei häufig viele Stunden unterwegs sind, sind die gleichen Einstellungen zu sehen, die bei Ospina und Mayolo als «gestellt» gezeigt werden: eine Frau mit Kindern auf dem Arm, ein Mann, der davon redet, dass er die Familie nicht ernähren kann.

In Feket vonat ergibt sich daraus aber ein ganz anderer Effekt, zumal jetzt, wenn man den Film nach vierzig Jahren wiedersieht: Nahezu unweigerlich wird man eher auf das bestürzende «Schicksal» dieser Menschen achten, die hier verewigt sind als Individuen, über die der Geschichtsprozess (im konkreten Fall: der kommunistische) hinweg gegangen ist, ohne sie groß davon profitieren zu lassen. Schiffers Protagonisten sind Außenseiter, weil sie Tigani sind (und deswegen aus den Gemeindekollektiven ausgeschlossen bleiben), und weil sie Außenseiter sind, bleibt ihnen Bildung verwehrt.

Armut geht mit Kinderreichtum einher, und zu den eindringlichsten Bildern dieses Film gehören die von zwei Mädchen, die ihre Schulbildung schon abgeschlossen haben (nach acht Jahren), und nun die Familie erhalten helfen müssen. Beide strahlen Intelligenz aus, beide haben kaum eine Perspektive.

Im Grunde widerlegt in diesem Programm der frühere, ungarische Film den späteren, lateinamerikanischen, dessen Kritik natürlich trotzdem ihre Berechtigung hat. Aber man sieht in dem großartigen Fekete vonat, dass es eine andere Art gibt, die Armut zu filmen, als die vampirische. Man könnte sie – in Anlehnung an Bazin – mit dem Bild vom Schweißtuch beschreiben, das den Menschen für ein paar Minuten aufgelegt wird, und in dem sie ihren Abdruck in der Geschichte hinterlassen können, die von ihnen nichts wissen wollte.

mumok Kino 17.10.2012: Dokumentarfilm? Filme und Gäste eingeladen von Josef Dabernig (Luis Ospina & Carlos Mayolo, Agarrando pueblo/The Vampires of Poverty, 1978, 28 min; Pál Schiffer, Fekete vonat/Black Train, 1970, 40 min) Gäste: María Berríos und Zsolt Petrányi