dokumentarfilm

18. Januar 2024

Verfahren: Dokumentarfilm und Recht Zum Kölner dfi-Symposion Prozessieren. Zwischen dokumentarischen und juristischen Verfahren

Von Lukas Foerster

Loveparade. Die Verhandlung (Dominik Wessely, 2020)

© Docdays Productions

 

Was sind die privilegierten Reflexionsmedien des Rechts in unserer medialen Gegenwart? Der zentrale Ort des Juristischen im Kino ist nach wie vor das Courtroom Drama, ein Genre, dessen erstaunliche Langlebigkeit zuletzt unter anderem Saint Omer und Anatomie eines Falls unter Beweis stellten. Die Bühnenförmigkeit der Gerichtsbarkeit mitsamt fixierten Sprecherpositionen und in die Verfahrensordnung eingebauter Dramaturgie übersetzt sich nach wie vor fast automatisch in Kinofiktion. Tatsächlich scheinen die zusätzlichen Freiheitsgrade, die die Spielfilmform mit sich bringt, sie auch gegenüber schwächeren Formen der Fiktionalisierung zu privilegieren – Gerichtssendungen im Richterin Barbara Salesch-Stil etwa bleiben ein Modephänomen, dessen Popularität starken Schwankungen unterworfen ist.

Die derzeit grassierende True Crime-Welle hingegen dockt vermutlich primär an einem anderen dominanten Modus der Justizreflektion an: dem Investigativjournalismus. Der tritt auf den Plan, wenn (seiner Meinung nach) die Verfahren versagen, wenn gefällte Urteile revidiert oder eine noch laufende Urteilsfindung beeinflusst werden muss. In mancher Hinsicht und insbesondere in Zeiten von Social Media funktioniert dieser Reflexionsmodus selbstverstärkend, da auch die Integrität der journalistischen Methoden von Anfang an auf dem Prüfstand steht; Medienkritik folgt der Justizkritik wie ein Schatten. Das Gespräch, so könnte man es, trotz allem, positiv zu formulieren versuchen, reißt nicht ab.

Zusammenfassend ließe sich formulieren: Die Form des Juristischen findet ihr Reflexionsmedium in der (Kino-)Fiktion, seine Inhalte finden die ihre im Investigativjournalismus. Was, könnte man fragen, wäre dann die Rolle des Dokumentarfilms? Dass diese Frage nach dem dfi-Symposiums Prozessieren – Zwischen dokumentarischen und juristischen Verfahren, das am 11. und 12. Januar 2024 im Filmhaus Köln stattfand, weitgehend offen bleibt, spricht weder gegen ihre Relevanz, noch gegen die der Veranstaltung. Vielmehr hatte man im Verlauf der zwei Tage wiederholt den Eindruck, dass hier für einmal tatsächlich ein noch wenig bearbeitetes diskursives Feld ausgemacht wurde, eines, das von zahlreichen, konfligierenden Vorannahmen überformt ist, dessen eigene Struktur aber höchstens in groben Umrissen erahnbar ist.

Unter anderem zeigte sich das, glaube ich, an zwei gewissermaßen komplementären Forderungen, die im Verlauf des Symposiums an das Rechtssystem beziehungsweise den Dokumentarfilm gerichtet wurden. Nach der Vorführung von Dominik Wesselys Loveparade. Die Verhandlung, einem Gerichtsfilm, der, gemäß Verfahrensordnung, keine Bewegtbilder der eigentlichen Verhandlung enthält, entbrannte, zum einen, eine Diskussion darüber, ob es sinnvoll wäre, das justizinterne Bilderverbot aufzuweichen oder gar komplett aufzuheben. Ob nun im Sinne einer besseren Überprüfbarkeit der Urteile oder einer verallgemeinerten Gedächtnisfunktion der Gesellschaft. Die Dokumentarfilmer adressierte, zum anderen, insbesondere Matthias Dell, einer der beiden Moderatoren des Symposiums, wiederholt (konkret etwa bezüglich Marie Wilkes Höllental) mit der Bitte, sich doch selbst in Sachen Urteilsbildung und -findung nicht zu sehr zurückzuhalten.

Ich würde, gerade auch nach den Diskussionen und Filmsichtungen der beiden Tage, in beiden Fällen für Zurückhaltung plädieren. Auf die Gefahren der Tribunalisierung des Juristischen durch den vermehrten Einsatz von Medientechnik im Gerichtssaal hat unter anderem Cornelia Vismann nachdrücklich hingewiesen – dem ist höchstens hinzuzufügen, dass sich seit dem Erscheinen ihres Buchs Medien der Rechtsprechung 2011 die Problemlage insofern verschärft hat, als die Instrumentalisierung audiovisuellen Materials in den sozialen Medien neue, furchterregende Dimensionen erreicht hat. Kann wirklich irgendjemand wollen, dass in den entsprechenden Kanälen künftig auch noch Bewegtbilder von ordentlichen Gerichtsverhandlungen kursieren und entsprechend ‹weaponised› werden?

Dells Anspruch an den Dokumentarfilm wiederum läuft auf interventionistisches, aktivistisches Kino hinaus. Zur Vorsicht hält mich in diesem Fall insbesondere ein Film an, der sich genau so versteht, und der auf dem Symposium zu sehen war: Volker Köster verlangsamt in Wo Feuer ist, ist auch Rauch Handyaufnahmen, die einen Angriff von Demonstranten auf ein französisches Polizeiauto im Zuge der hitzigen und nicht selten auf der Straße ausgefochtenen Auseinandersetzungen um François Hollandes Arbeitsmarktreform 2016 zeigen. Bis zu einem gewissen Punkt ist das erhellend – eben weil sich die ‹offensichtliche› Beweiskraft des Audiovisuellen bei genauem Hinsehen verflüchtigt und die Aktionen vor allem der keineswegs durchweg auf Eskalation abzielenden Demonstranten ambivalenter bewertet werden können, als dies seinerzeit medial geschah. Doch Köster hat etwas anderes im Sinn: Sein Film glaubt – darauf weisen einige Schrifteinblendungen noch eher vorsichtig hin, im Gespräch wurde das dann präzisiert – einer Verschwörung auf der Spur zu sein, an der neben der Polizei auch die Nachrichtenmedien beteiligt sein müssten. Knapp zusammengefasst: alles Manipulation!

Nun sind Verschwörungserzählungen nicht deshalb ein Problem, weil sie alle falsch wären. Manche stellen sich im Nachhinein als korrekt heraus, und vielleicht, so unwahrscheinlich mir das erscheinen mag, ja auch diese. Das Problem ist vielmehr, dass Verschwörungstheorien eine Form der Epistemologie in Gang setzen, die ihren Ausgangspunkt nicht beim Faktischen, sondern beim Kontrafaktischen nimmt. Als sinnvolles Korrektiv juristischer Verfahren dürfte sich ein solches Vorgehen höchstens in wenigen Ausnahmefällen erweisen.

Was natürlich immer noch nicht die Frage beantwortet, was dokumentarisches Kino, das sich dem Rechtssystem zuwendet, sonst leisten könnte. Auffällig zumindest, dass unter den auf dem Symposium vorgeführten Filmen nur einer – eben Loveparade. Die Verhandlung – den Versuch unternimmt, nicht die gesamtgesellschaftlichen oder politischen Implikationen juristischer Entscheidungsprozesse, sondern deren Eigenlogik in den Blick zu nehmen. Aber auch justizkritische Filme wie Philip Scheffners Revision oder Angela Summereders Zechmeister werden ihrem Gegenstand gerade da gerecht, wo sie das Juristische als eine spezifische Form begreifen, die filmischen Prozessen der Wiedervorlage beziehungsweise Verfremdung unterworfen wird. In gewisser Weise handelt es sich in beiden Fällen um Angleichungen des Kinos an das Recht – in dem Sinne, dass sich das Kino, passgenau und problembezogen, eigene Verfahren schafft, die nur deshalb in Erkenntnisgewinn resultieren, weil sie als Verfahren prinzipiell inhaltsblind sind.

Flucht in die Form also? Legitimation durch Verfahren (Luhmann) ist natürlich kein Allheilmittel – aber ist es deshalb wirklich sinnvoll, ohne Not auf das bisschen an Legitimation, das Verfahren produziert, zu verzichten? Und überhaupt: wirklich bloß «das bisschen»? Blickt man nicht nur auf große Leuchtturmprozesse und -skandale, sondern auf die Mühen der Ebene des Vertrags- oder Handelsrechts, so dürfte man rasch erkennen, dass die Autonomie des Justizsystems auch in unserer als krisenhaft empfundenen Gegenwart noch eine kaum je hinterfragte Grundvoraussetzung des Weiterfunktionierens von Gesellschaft darstellt. Wenn ich mir vom dokumentarischen Kino der Zukunft etwas wünschen dürfte, so wäre das deshalb zum Beispiel: ein Institutionenportät über ein Amtsgericht in der niederbayerischen Provinz; eine ethnografische Studie, vielleicht in Form einer teilnehmenden Langzeitbeobachtung, über Schöffen aus verschiedenen Generationen und mit verschiedenen sozialen Hintergründen; oder auch ein mehrstündiges True Crime-Expose über die juristische Aufarbeitung eines Falls von Brombeerdiebstahl in einer niederrheinischen Schrebergartensiedlung.