viennale 2020

26. Oktober 2020

Viennale 2020 Notizen

Von Matthias Wittmann

TEIL 3

Erwartungsvolles in die Maske hineinschweigen. Links und rechts von mir, leere Plätze. Trotzdem ausverkauft. Die Kapazitäten der Kinos sind nur zur Hälfte belastbar. Deshalb werden Filme öfters wiederholt, an insgesamt zehn Spielstätten gleichsam rekurrent verstreut. Das ist toll. Denn u.a. bekomme ich Gelegenheit, endlich wieder in das – schon von Arthur Schnitzler geliebte – Admiral-Kino zu gehen. Diese Zerstreuung des Publikums ist aber auch der Grund, dass sich Wege noch seltener kreuzen, Gespräche über Film schwieriger finden lassen und ich über die erbeuteten Bilder in erster Linie in meine Maske hineinmurmle. Der Vorteil: Selbstgespräche sind derzeit weniger sichtbar. Auch das Ärgernis über den einen oder anderen Film kann man unbemerkt in die Maske hinein entsorgen. Die Dialogarmut auf der Leinwand ist ein Spiegel der Dialogarmut vor der Leinwand. Wie gesagt, ich sehe diesmal nicht viele dialoglastige Filme. Warum nicht gleich in einen Film ‹ohne Dialog› gehen, wie es im Katalog heißt. 

 

Gunda (Victor Kossakovsky, 2020)

© Cinephil / Viennale

 

Gunda

Aber ist es wirklich noch angebracht, einen Film über Schweine – eine Muttersau mit einem Ferkelwurf –, Kühe, die Auslauf erhalten, und ein einbeiniges Huhn, das sich durch einen Zaun zwängt, als ‹Film ohne Dialog› anzukündigen, wie das im Katalog noch recht altmodisch, ganz und gar nicht posthuman zu lesen ist? Gunda (Norwegen, USA 2020) von Viktor Kossakovsky ist voller Dialog: Nutztiere quietschen, muhen, grunzen, glucksen, gackern, blicken sich in High-Tech-Schwarzweißaufnahmen an, kuscheln sich aneinander, drängeln sich um die Muttermilch, treten mit den Füßen, schnuppern und wühlen, schenken sich Aufmerksamkeit, lassen sich links liegen, verteilen ihre Interessen im Raum, helfen sich gegenseitig mit ihren Schwänzen beim Vertreiben der Fliegen. Überhaupt ist es nebenher auch ein Film über die Lästigkeit der Fliegen. Und über das Gegenteil von physical disctancing. Dieses gilt für Tiere nicht. Eine neue Mensch/Tier-Differenz?

Manchmal blicken die Farmtiere skeptisch, neugierig, frech, forschend (projiziere ich?) in das Kameraauge, das meistens für die Tiere unsichtbar ist, scheint mir. Das beschäftigt mich unaufhörlich. Das ist lästig wie die Fliegen. Denn ich weiß nicht, wie das genau gemacht wurde. Meistens, bilde ich mir ein, handelt es sich um bodennahe Drohnenaufnahmen, lateral hinweggleitende, sanfte Kamerabewegungen, die an Steadycam-Fahrten erinnern. Ich stelle mir eine sehr kleine, geräuschlose Drohne, eine Art Roboterfliege vor. Wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen…

Das Ganze ist nicht nur technisch hochavanciert, sondern vermag auf allen Ebenen zu überzeugen. Narration gibt es nur in Rudimenten. Allenfalls ergeben sich szenische Einheiten aus Aufenthaltsorten, aus dem Handeln der Tiere – wobei die Schweine die Protagonisten sind –, aus Schärfenverlagerungen, Kamera-Körper-Relationen und aus montagetechnischen Interventionen wie zeitlichen Ellipsen: Geburt – Aufwachsen (das wirkt zunächst paradiesisch, weil der Nutzen der Tiere zunächst keine Rolle spielt und Menschen nie zu sehen sind) – Abgeholtwerden – Zurückgelassenwerden. Der Schluss ist unendlich traurig und nimmt die Einsamkeit der Muttersau in einer Form ernst, wie ich sie – die Form, die Einsamkeit, vielleicht auch die Ahnung einer Erleichterung, keine Milchbar mehr zu sein – noch nie gesehen habe. Schweine-Bewusstsein, Schweine-Zeiterleben, Schweine-Körpererinnerung, Schweine-Vergessen, Schweine-Subjektivität wird in einer Verfahrensweise (mindestens) erahnbar gemacht, die wenig zutun hat mit den Methoden des Sensory Ethnography Lab. Es geht nicht so sehr um das Auge in der Materie, posthumanes Blicken, Multisensorik, Multiperspektivität und ein dezentrales Gewebe an Taktilitäten (Bewegungsmustern), sondern um eine Spannung zwischen Tierkörper, Kamerakörper und dem ‹eigenen› Blick, der sich dabei zusehen kann, sukzessive an Dominanz zu verlieren und zu lernen, dem Tier einen Blick, eine Würde, eine Singularität zurückzugeben. An die Stelle von Photogénie tritt artenübergreifende Empathie und ein gleichschwebendes Verhältnis der Egalität. Diese Dekolonialisierung der Sinne gelingt erstaunlich gut. (Tier-)Bedürfnisse müssen weder projiziert noch ausformuliert werden. Sie nisten als Möglichkeit in den Blickrelationen, die sich auf Analogien und Kontraste, Verstehens- und Unverstehensmomente abtasten. Der Film setzt also weniger auf Überwältigung, Abstraktionsgrade und einen Verbund an GoPro-Kameraaugen als mechanisch-posthumanes Monstrum (wie Lucien Castaing-Taylors Leviathan), sondern auf Alteritäts- und Differenzerfahrung durch Kontemplation. Diese Differenzen, Unähnlichkeiten müssen wir nicht überwinden, sondern dürfen wir aushalten und genießen.  

 

Aufzeichnungen aus der Unterwelt (Tizza Covi & Rainer Frimmel, 2020)

© Vento Film / Viennale

 

Aufzeichnungen aus der Unterwelt

Wer führt hier eigentlich Regie? Das ist nicht nur eine Frage, die sich an Gunda herantragen ließe, sondern auch an Tizza Covis und Rainer Frimmels herausragende ethnographische Studie des Wiener Gangstermilieus Aufzeichnungen aus der Unterwelt (Österreich 2020). Wollte ich, zumindest einen halben Satz lang, versuchen, das ‹Wienerische› faßbar zu machen, würde ich schreiben: Man kann nicht zweimal denselben Wiener, dieselbe Wienerin interviewen. Das notorisch Histrionische – die spezifisch Wienerische Theatralik – zeigt sich darin, daß sich Wiener*innen in jeder Filmeinstellung, wie eine Zwiebel, von einer anderen Seite zeigen. Nicht nur das, sie ändern auch zwischen den Schnitten mehrmals die Richtung, bewegen sich auf Kanten, schlagen Haken, ziehen doppelte Böden und überraschende Reflexionsebenen ein, die plötzlich wieder einbrechen, spielerische Distanz in bedrohliche Grobheit kippen lassen, vergleichbar dem sanft-bedrohlichen, zynisch-melancholischen Timbre von Peter Lorres Stimme. 

Diesen Hang insbesondere des Wiener Kleinbürgertums zur unaufhörlichen Selbstfälschung, zum Deep Fake, hat Frimmel schon 2000 in seinem legendären Porträt eines Kleinbürgers – Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre – herausgearbeitet, wobei das Porträt genau genommen ein Selbstporträt ist: Frimmel musste seinen Protagonisten Peter Haindl (50) – übergewichtiger Krankenträger mit Glatze (manchmal Toupet), melancholisch-weinselig-glasigen Augen, Waffenschein und einem Doppelkinn, das Helmut Qualtinger als Herr Karl (1961) Konkurrenz macht – bloß animieren, sich in seinem Tiefparterre mit der Videokamera selbst zu filmen. Haindl beplaudert sich – das berüchtigte, endlose Wiener Räsonieren –, zerklüftet sich, bringt sich in einem Spiegelkabinett aus Ironie und Mitteilungsbedürfnis, Scham- und Schonungslosigkeit, Selbstmitleid und Melancholie zum Schillern, ergeht sich in sexistischen Ergüssen (auch selbstverfassten Gedichten, vorgetragen mit Hemingway-Hut) und rassistischen Tiraden. Es handelt sich schließlich um einen FPÖ-Wähler. Diesen Monolog könnte man in seiner Dramaturgie, Rissigkeit und Vielstimmigkeit 1:1 auf die Bühne bringen. 

Der Begriff und Modus (Selbst-)Aufzeichnung wurden gleichsam zur Signatur und Trademark von Rainer Frimmel und seinen Protagonisten. In Aufzeichnungen aus der Unterwelt geht es nicht weniger selbstdarstellerisch, aber um einiges weniger monomanisch zu. Was die Protagonisten mit hypnotischer Sanftheit, Erzähl- wie Selbstdarstellungsgabe und einer Mischung aus Arglosigkeit und Abgebrühtheit Rainer Frimmels geduldiger Kamera in ihren eigenen Milieus – meistens den Innenräumen von Lokalen – anvertrauen, ist eine Untergrundgeschichte der Nachkriegsgewalt und der Kriegsverbrechen, die im Nachtleben Wiens nachleben. Es ist – hierin Scorsese vergleichbar – eine Geschichte über Gewalt als Nährboden, «als in den Mean Streets von Mariahilf und Meidling immer brutaler um Einfluss im Rotlicht- und Glücksspielmilieu gekämpft wurde.» (Robert Weixlbaumer, Viennale-Katalog).

Es geht um Gegenkultur: Spelunken, Hinterzimmer, illegales Kartenspiel (‹Stoß-Partien›), Messerstechereien, Bezirksraufereien, ‹Brieftauben-Machen› (Briefträger überfallen), Zusammenhalt, Verrat, und durchaus Widerstand gegen die Staatsgewalt. Wo das Kriminelle zu verorten ist, das ist im Lauf des Films in zunehmendem Maß fraglich. Das Kriminelle wandert vom Delikt zur Sanktion, der Riss zwischen Recht und Gerechtigkeit weitet sich aus. Am Gewalttätigsten (wenn auch am Zahnlosesten) wirkt ein ehemaliger Gefängniswärter, der im Interview von den ‹Sicherheitsmaßnahmen› erzählt, mit denen die Häftlinge ruhiggestellt wurden (indem sie zum Beispiel, ans ‹Gitterbett› gefesselt, regelrecht verrottet sind).

Im Zentrum dieser Topologie wie Topographie der Wiener Unterwelt steht Alois Schmutzer. Markenzeichen: Hände wie Pranken, grob wie sanft, abgearbeitet und abgedroschen. Ja, abgedroschen. Alois hat selten bis nie Waffen benützt, sondern seine Hände sprechen, prügeln, dreschen lassen. Das ist sein Stil. Zumindest erzählt er das. Und seine Mitstreiter bestätigen das. Print the Legend. Frimmels Film ist also auch ein Porträt von Alois Schmutzers Händen, die seine Erzählungen mittragen. Am Schluss sind diese Hände sogar bei der Bienenpflege zu sehen. Man mag sich nicht vorstellen, wie sich mit diesen Fingern die Tasten eines Smartphones bedienen lassen. Smartphones kommen dementsprechend rein gar nicht vor. Wer führt Regie heißt hier also: Wer hat die Bilder in der Hand? Im Alois scheint der Traum vom gutmütigen Gangster/Prügelknaben Fleisch geworden: integer, loyal, gut zu seinen Freunden, gewalttätig nur zu denen, die es verdient haben. Alois ist Phlegmatiker. Das heißt: Er ist in seiner Trägheit ständig Kräften ausgesetzt, gegen die er sich dann doch nicht wehren kann oder will. So mußte der ‹Schmutzer›, der ‹Gerechtigkeitsfanatiker› für ein Verbrechen, das er nicht begangen hatte, zehn Jahre in die Lisl (= Häfn/Knast). Genau genommen ein Skandal der Wiener Justizgeschichte, wenn wir glauben dürfen, was wir 115 Minuten lang enorm packend erzählt, ausgebreitet, aufgerollt bekommen, aus verschiedenen Perspektiven, Zaungastperspektiven und Insiderperspektiven, die sich ergänzen, manchmal durchkreuzen, und immer wieder auf den Alois Schmutzer, den Phlegmatiker, der sich wehrt, aber doch abfindet, zu sprechen kommen. So erleben wir ganz nebenbei die jargonale Konstruktion eines Schwerstkriminellen, der in erster Linie schwermütig und gerechtigkeitssüchtig ist. 

‹Etwas erledigen gehen›. Diesen Satz werde ich nicht so schnell vergessen, denn er erhält durch den Film eine abgründigere, aber nicht weniger alltäglichere Bedeutung. «Liebe ist Gefängnis und Paradies zugleich… Nun sollst du sehn, dass zur lieb ich dich zwing… …Du hast gespielt mir, als ich in deinem Netze hing», singt Kurt Girk, ein Weggefährte von Alois, der in seinen perfekt sitzenden, maßgeschneiderten Anzügen wie ein Frank Sinatra aus Ottakring wirkt. Kurt, der im Unterschied zu Alois eher Dandy als Prügelknabe ist, hat mir mit seinen eindringlich vorgetragenen Heurigenliedern den Schlüssel zum Film und überhaupt, zu Wienfilmen geliefert: der Untergrund Wiens, das Netzwerk, das in Covis/Frimmels großartiger Doku Konturen gewinnt (selten baut man im Zuge von zwei Stunden eine derartig intensive, innige Beziehung zu Protagonisten auf), folgt tatsächlich – auch jenseits von Der Dritte Mann – dem untergründigen Plot eines Film Noir. Der Alois, der Kurt und all die Anderen, sie sind nicht nur Paten, Stiere und Bros. (Alois hatte einen Bruder, der erschossen wurde, zusammen waren sie die ‹Schmutzer-Buam›), sie sind auch Gefangene eines Spinnennetzes. Vor allem Alois ist mit seinem Phlegma der Anti-Held eines Film Noir, willenloser Spielball von Kräften, die ihn zu Liebʼ und Hass zwingen und unschuldig in die ‹Lisl› bringen. Dass der Film uns diese Parallelwelt noch dazu in gestochenem Schwarzweiß vorführt, ist effektiv. Dass er am Ende dann doch auch kurz bei Farbe, also in der Gegenwart von Kurts Maßanzügen und Aloisʼ Bienenstöcken ankommt, macht ebenfalls Sinn.  

 

Atarrabi et Mikelats (Eugène Green, 2020)

© Noodles Production / Viennale

 

The Disciple / Atarrabi et Mikelatts

Wenn ein Film, der The Disciple heißt, mit einer zentralperspektivisch codierten Totale eröffnet, in deren Fluchtpunkt der Meister/Guru mit Tanpura sitzt, dann kann ich das nur akzeptieren, wenn die nächste Einstellung (oder der Rest des Films) mit der Ideologie dieser ersten Einstellung bricht. In dem – als ‹Film des Jahres› gehyptem – Disciple von dem indischen Regisseur Chaitanya Tamhane bleibt eine derartige Zurücknahme oder Dekonstruktion leider aus. Nach Court (2014) ist The Disciple Tamhaneʼs zweiter Film, bei dem übrigens Alfonso Cuarón als Executive Producer fungierte. Es handelt sich um Arthouse-Weltkino mit vielen Rufzeichen: ‹Ich bin nicht nur kunstvoll gemacht, sondern habe klassische Kunst zum Thema (!!), die sich gegen Modernisierungsdynamiken behaupten muss (!!!)›. Das kam beim Publikum ausgezeichnet an, was sicherlich auch an den meditativen Qualitäten des Films liegt: Entlang von Raga, hypnotischen Gesängen und Improvisation über feststehenden Grundstrukturen (Klangpersönlichkeiten), mit Zeitlupenaufnahmen und langsam gleitenden Kamerabewegungen wird hier eine Geschichte über ein Lehrer/Schüler-Verhältnis, über Hingabe, Treue, Disziplin und transgenerationeller Weitergabe von Tradition erzählt, die zwar ihre ironischen Momente hat, genau diese Momente aber nur einsetzt, um von der restaurativen Grundanlage des Films abzulenken.

Der Schüler zweifelt an sich selbst, ist hungrig, ein restless mind (wo er doch in sich ruhen soll), onaniert, verliebt sich in eine Sängerin via Youtube und Facebook (hier kommt der Film im Positiven zu sich, indem er das Verhältnis von Technik, Liebe und Musik sehr ernst nimmt und gleichzeitig humorvoll bleibt), wird für sein Festhalten an seinem Vorbild kritisiert (auch das bekommt er u.a. auf Youtube mit) und in Zweifel gestürzt, ob er vielleicht nicht doch einem Scharlatan aufgesessen ist. Das Verdämmern der Ideale, vor allem auch: ihr Zerschellen an den Mechanismen des Marktes, bildet sich auch im Ausbleichen der Bilder ab. Im ‹Wesentlichen› bekommen wir aber eine doch sehr schematisch funktionierende Bildungsgeschichte erzählt (viele Zerrissenheiten, die sich schließlich fügen), die noch dazu über eine eigentümlich nostalgische Vergangenheit/Gegenwart, Geist/Körper, Spirit/Technik -Dichotomie nicht hinauskommt. Und hier sehe ich auch wirklich ein kontraproduktives Dilemma des Films: dass er einerseits vorgibt, die Technik der musikalischen Darbietungen auch filmästhetisch und figurenpsychologisch durchdrungen zu haben (‹Everything becomes performance!›; ‹You have to worship every note. Don't fill the time with notes!›; ‹You repeat yourself too much!›) – wir lernen nebenher viel über die Strukturprinzipien der Musik (zumindest wird uns das eingebildet) – , dass der Film dann aber doch in seiner Kommerzkritik an einer eigentümlichen Gegeneinandersetzung von Wahrheit (Geist) vs. Technik (Markt) festhält. 

(Den meditativen Atemübungen auf der Leinwand mit Mund-Nasenschutz zu folgen, ist trotzdem eine Erfahrung für sich.) 

Worum, wenn nicht um Technik, soll es bei Spiritualität gehen? Während also The Disciple auf Spiritualität ohne Technik und Wahrheit ohne Materialismus hinaus will und diese Wahrheit in der Tradition verortet, geht Eugène Greens Atarrabi et Mikelatts (2020) – für mich der Höhepunkt des Festivals – den umgekehrten Weg: Es geht um Spiritualität in der Technik, durch die Technik, mit der Technik. Warum Green im Viennale-Katalog als ‹barockster Hipster des modernen Kinos› bezeichnet wird, verstehe ich nicht, vor allem weil ich nicht weiß, ob dies spöttisch oder affirmativ gemeint, d.h. an die Beat Generation angelehnt ist.

Allein die Entscheidung, die Dialoge auf Baskisch zu drehen und die Handlung aus baskischer Mythologie zu entwickeln, ist eigentümlich und bemerkenswert. Es handelt sich um eine Sprache, die mit keiner anderen Sprache verwandt ist. Vergeblich suche ich nach Rettungsankern und Sprechfetzen, die mir vertraut scheinen (manchmal bilde ich mir Anklänge an das Persische ein). Der Film wirkt dadurch von Anfang an ausgesprochen hermetisch und opak. Hinzu kommt das anti-psychologische, im Bresson’schen Sinne automatische Anti-Schauspiel der Schauspieler, das heißt Modelle: «Man fühle in deinem Film die Seele und das Herz, aber er sei gemacht wie eine Arbeit der Hände.» «Formen, die Ideen ähnlich sind. Sie für echte Ideen halten.» «Die Ideen verbergen, aber derart, daß man sie findet. Die wichtigste wird die verborgenste sein.» (Robert Bresson) Wie bei Bresson soll auch bei Green alles zum Mysterium werden. Sprechen, als würde man mit sich selbst sprechen, eine innere Wahrheit zeigen, aber nicht interpretierbar machen. Das erinnert schauspieltechnisch auch an Bruno Dumont (das heißt wiederum: Bresson) und einstellungstechnisch an Fotografien von Diane Arbus und Rineke Djikstra, oder Filme von Ulrich Seidl. 

Es geht um den mythologischen Kampf zwischen Gut und Böse, der als Parallelwelt in eine baskische Gegenwart eingewoben ist (die zum Teil aber auch auf Korsika gedreht wurden). Atarrabi und Mikelatz sind Brüder und Halbgötter, weil ihr Vater ein Sterblicher, ihre Mutter aber eine Göttin war, die den Vater in der Nacht der Zeugung im Gottesanbeterinstil umbringt. Beide Söhne werden dem Teufel übergeben, der mit Hight-Tech-Ausrüstung (Laptop und Rap im Ohr) in einer archaischen Höhle haust und sich von Jünglingen (Lustknaben?) in Trainingsanzügen umtanzen und anhimmeln respektive anteufeln lässt. Rap und Technik sollen hier aber nicht ernsthaft für das Teuflische stehen (wie in Disciple alles, was mit digitaler Technik zu tun hat, irgendwie den Geist der Musik dann doch bedroht), sondern dem Spiel mit Anachronismen und Ungleichzeitigkeiten eine zusätzliche humorvolle Ebene verleihen. Zudem sind diese Techniken ja auch wirklich wunderbar verführerisch. Mikelats will sich diesen digitalen Genüssen (und damit auch der Unsterblichkeit) auch voll hingeben, während sein Bruder Atarrabi seine Freiheit jenseits der Höhle/Hölle, in Kloster und in Liebe zu einer Frau finden will.

Doch es gibt ein Problem, dass ihn sowohl vom Mönchs- wie auch vom Liebhaberdasein trennt. Er ist impotent, das heißt hier: Er hat keinen Schatten (vgl. Peter Schlehmil). Wie Green die unvereinbaren Welten und Elemente ineinanderwebt, wie er, ganz nebenbei, sogar ein Dreyer'sches Wunder inszeniert, das muss man gesehen haben. «Everything is a mystery» ist jene zentrale Weisheit und Botschaft, die der Basajaun, ein haariger Waldgott, der an Toni Erdmann erinnert, und Wandler zwischen den Welten, dem neugierigen Atarrabi auf den Weg gibt. So gesehen wird alles zum Zeichen, wenn man will. Wenn man nicht will, funktioniert der Film auch in seiner Materialität, Taktilität wie Skurrilität. Hier ist jemand am Werk, der ein grandioses Gespür für Rhythmen und Kadrierung hat, ganz im Bewusstsein, diesseits der Technik zu sein.

 

Rizi (Tsai Ming-liang, 2020)

© Homegreen Films / Viennale

 

Rizi

Eine weiterer – übrigens wiederum sehr dialogarmer – Höhepunkt: Wie sich die rötliche Glut eines Kamins in den Pupillen eines der beiden Protagonisten in Tsai Ming-Liangs taiwanesischem Spielfilm Rizi reflektiert (vermutlich ist es eine Glut, man weiß es nicht so genau), darin aufblitzt, flackert, als kaum wahrnehmbarer Punkt, während der Protagonist im Bett liegt, gefühlte zehn Minuten lang melancholisch vor sich hinstarrt, das muss man auf der Großleinwand des Wiener Gartenbau-Kinos gesehen haben. Kang (Lee Kang-sheng) ist krank. Er hat Nackenschmerzen und lebt in einem großen Haus am Land, außerhalb von Bangkok, vermute ich. Ein anderer, jüngerer Mann, Non (Anong Houngheuangsy) lebt in Bangkok und verbringt die Zeit in erster Linie mit der Zubereitung von Fisch: Er macht Feuer, erhitzt Wasser in Töpfen, wäscht Salat, schneidet Fisch. Ich schaue ihm bei diesen Verrichtungen unheimlich gerne zu. Genauso rituell wie seine Speisen, wird Non in einem Hotelzimmer Kangs Körper ‹zubereiten›, mit Öl massieren, und ihn masturbieren. Es geht also auch um die Annäherung zweier Körper und die Melancholie nach der Begegnung, die sich jedoch von jener davor kaum unterscheidet. Der Rest ist zuschauerseitige Zutat.  

Die erste stehende Einstellung zeigt Kang dabei, wie er durch die Glasfront seines Anwesens in den Garten starrt, melancholisch entrückt, leise in sich hinein weinend. Und schon in dieser ersten Einstellung wird klar: Es handelt sich um Slowest Cinema, dem es allerdings gelingt, in jede der langen Einstellungen eine rätselhafte Spannung einzutragen, die jederzeit bersten könnte, hierin einem gespannten Bogen vergleichbar. Dies geschieht durch die melancholische Grundstimmung des Wartens und Verzehrens, in Kombination minimalistischen Ausdrucksbewegungen und kaum wahrnehmbaren Mikroereignissen, mit denen man zum Teil nicht rechnet – ein Golfisch, der kurz an der Wasseroberfläche eines Beckens auftaucht; ein Windhauch, der das Gras bewegt; eine Katze, die hinter den Sprüngen einer zerbrochenen Hausfassade aufblitzt; eine Träne, die über eine Wange kullert, und eben, die Reflexion einer roten Glut in den Pupillen eines Mannes. Die stehende Ruhe des Bildraums, die Stummheit der Männer und die Einsamkeit der wartenden Körper wird somit immer wieder minimal gestört, auch durch vereinzelt gesprochene Worte, vor allem aber durch mikrostrukturelle Überraschungen, die an plötzliche, partielle Animationen eines Gemäldes erinnern. Ich stellte mir gerne vor, wie es wäre, mit einem Headset in VR 360°-Bildräume, gestaltet von Tsai Ming-Liang, zu blicken und die herausvergrößerten Geräusche zu hören. Die audiovisuellen Mikroereignisse werden zu einer Art ‹Akupunktur› des Bildes, so wie sich die subkutane Lebensenergie des Films auch in einer Akupunkturszene entlädt, wenn Kangs Rücken mit glühenden Kohlen behandelt wird, die entgleiten und Kangs Haut verbrennen. In dieser Szene offenbart der Film ein Geheimnis seiner Spannung: Immer nistet in der starren Form ein Funke, der außer Kontrolle geraten könnte, aber meistens nicht will.

Rückfahrt

Light, soft, teilweise, quasi. Lockdown-Begriffe, welche die diesjährige Viennale – eine pandemiediskursumspülte – Insel der Seligen, säumten. Passiert ist nichts. Das Viennale-Schutzprotokoll war streng genug. Es hat gut getan, die Gedanken im Kino von den Bildern und Tönen zur Abwechslung woanders hin treiben zu lassen. Schreibe ich im Blick zurück, im Zug nach Basel, während ich durch ‹Light›-‹Soft›-‹Teilweise›- und ‹Quasi›-Regionen fahre, gleichsam in der Zeit zurück Reise (in Wien sind die Kinos dicht, in Basel noch offen) und darüber lese, dass die jungen Wiener namens Recep Tayyip Gültekin und Mikail Özen, die in der Terrornacht von Wien, dem zweiten November, einem anderen Wiener namens Osama Abu El Hosna halfen, einen angeschossenen Wiener Polizisten zum Rettungswagen zu schleppen, nun nicht nur von Wien, sondern auch vom türkischen Präsident Erdogan als Helden geclaimed werden. In den sozialen Medien zirkulieren Screenshots, welche die Helden von Wien als einstmalige türkische Nationalisten und Anhänger der Grauen Wölfe ausweisen. Doch was heißt schon ‹ausweisen‹? Deniz Yüzel findet, wie so oft, sehr klare Worte:

«Um das mit einer drastischen Analogie zu verdeutlichen: Wenn man vom deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus die Stalinisten und Deutschnationalen abzieht, bleibt nicht mehr allzu viel übrig. Und es ist ein Glück, dass die Bauernjungen aus Kansas, die 1944 in der Normandie landeten, und die Fabrikarbeiter aus Leningrad, die 1945 Auschwitz befreiten, keine Instagram-Accounts hinterlassen haben. Sonst könnten Bescheidwisser aller Art mal flugs nachschauen, was diese Männer, sagen wir, über Rassentrennung oder Stalin dachten…».

Und was, denke ich mir, wenn der ‹Gerechtigkeitsfanatiker› Alois Schmutzer aus Aufzeichnungen aus der Unterwelt oder der Frank Sinatra aus Ottakring namens Kurt Girk uns plötzlich Instagram-Accounts hinterlassen hätten? Was würde uns das über Österreichs politische Unterwelt erzählen. Nein, sage ich mir, derart große, ‹abgedroschene› Hände und dicke Finger können kein Smartphone bedienen. Aber was, wenn uns Kameraaugenzeugen virale Handyaufnahmen von Schmutzers Prügeleien hinterlassen hätten… wäre da doch ein Messer aufgeblitzt oder ein Satz gefallen, der uns auf eine verdrängte Geschichte, politische Schichtung, selbst in der Unterwelt gebracht hätte? Ein ambiger Satz Kurt Girks hallt nach in meinem Kopf, ein Satz, den (ich glaub es war der) Kurt in seinem Stammlokal über einen deportierten Juden fallen lässt: «Er war ein Jude, aber er war ein wunderbarer Mensch.»  

Die Unterwelt gibt’s nicht!

 

 

TEIL 2

Während überall der Vorhang zugeht, geht der Viennale-Vorhang weiter auf… und Sonntag Abend wohl für längere Zeit zu. Das Kino, ein Vorwintermärchen. Das letzte Festival vor der Eiszeit. Einen Vorschein auf diese Eiszeit bietet Viera Čákanyovás Frem (2019), der mich mit posthumanem Blicken konfrontiert: eine hörbar prozessierende, irgendwie insektenhaft schnatternde und dadurch subjektivierte, ruckartig mustererkennende Sehmaschine liefert uns – auch wenn wir aus dieser Perspektive nicht mehr existieren – Flugbilder der Antarktis. Die Muster, die diese Sehmaschine –  ein Alien? ein Outtake aus Steven Spielbergs Artificial Intelligence? –  erkennt, bleiben ein Rätsel. Da wir jedoch nicht mehr existiert haben werden, müssen wir dieses Rätsel auch nicht lösen. Vielleicht liegt unsere Welt ja unter dieser (schmelzenden oder wiedererstarkten?) Eisdecke begraben. 

Einmal werden, ganz kurz, computeranimierte Dinosaurier eingeblendet, als gleichsam unter dieser Schneedecke vor langer Zeit existiert habend. Offenbar geht der archäologische Blick der außerirdischen Sehmaschine nicht nur in die Tiefe des Raums, sondern auch der Zeit. Die Antarktis wird somit zu einer Erinnerungs- und Projektionslandschaft, in der Nicht-Mehr und Noch-Nicht, Rückblende und Vorausblende, prä- und posthumanes Blicken verschmelzen. Das bleibt von der Idee her überzeugend und von den Schauwerten her eine Weile spannend – schließlich handelt es sich auch um den Versuch, Drohnenflugbilder jenseits von National Geographic-Erhabenheit zu semantisieren, neu zu codieren – erschöpft sich dann aber doch und erfriert in Liebe zur eigenen Idee. Vor allem fühle ich mich an Michael Palms ansprechendere, komplexere Sci-Fi-Fake-Doku Sea Concrete Human erinnert (Österreich 2001, hier)

Obstacle Films

Das einstmalige Kriterium, dass man einen Festivalfilm beruhigt auslassen könne, wenn er ohnehin mit einem regulären Kinostart unmittelbar darauf versehen ist, hat momentan (und wer weiß wie lange noch) keine Gültigkeit mehr. So, wie in Teheran, während des Fajr-Filmfestivals, das Publikum sicherheitshalber jeden Festivalfilm stürmt –  womöglich wird er einen Monat später wieder eingezogen –, beginne ich nun auch in Festivalfilme zu gehen, die in den Kinovitrinen bereits für das reguläre Programm vorgesehen sind. 

Ein Höhepunkt dieser Filme, die bereits in Verleihsortimente einsortiert wurden, ist Eliza Hittmans Never Rarely Sometimes Always. Der Titel ist jenen Fragebögen entnommen, denen sich Frauen in den USA vor einem Schwangerschaftsabbruch stellen müssen, vorausgesetzt sie befinden sich in einem Bundesstaat, in dem die Abtreibung noch legal ist. Wobei ‹legal› längst nicht bedeutet, dass es keine Hindernisse gäbe. Das Gesetz ist nicht der einzige Faktor, der dies ermöglicht oder verunmöglicht. Es werden logistische, finanzielle, psychosoziale Erschwernisse geschaffen, Ärzte und Patientinnen regelrecht terrorisiert, davor und danach, mit Gewalt bedroht, manchmal ermordet. Abtreibung wird so zu einer geheimen Mission, der Weg zur Abtreibung zu einem Weg im Untergrund. 

Vor dem Film lese ich im Standard von der Vereidigung Amy Coney Barretts als Richterin am Supreme Court. Nicht nur Corona richtet Langzeitschäden an. 

«Have you ever been forced into having sex?» Never? Rarely? Sometimes? Always? Der Film ist ein Beitrag zu #MeToo. Das stellt er jedoch nicht aus. Diese Bezüge kann man herstellen, aber nur wenn man will, gleich von Anfang, wenn  «the girl» Autumn Callahan (Sidney Flanigan) auf der Schulbühne steht und mit Goldglitzer auf den Augenlidern und Satinbomberjacke einen Song der 60er Jahre Band The Exciters darbietet. «He’s got the power / He makes me do things I don’t want to do / He makes me say things I don’t want to say / And even though I want to break away / I can’t stop saying I adore him / I can’t stop doing things for him.» Erfahrene sexuelle Gewalt kommt hier, zu Beginn, durch den Brechungsindex eines Popsongs in aller Ambiguität der Adoleszenz zum Ausdruck. Der Film verfährt mit diesem Erlebnis, das im Dunkeln der Vorgeschichte bleibt – der Bechdel-Test lässt grüßen (Männer spielen fast, vor allem in den Gesprächen, keine Rolle) –, nicht moralisch oder anklagend oder ambiguitätsintolerant (siehe Thomas Bauers wichtiges Buch über die Ambiguitätstoleranz). Er verfährt damit prozedural. Das heißt konkret: Er interessiert sich für die Hürden, die eine Jugendliche in den USA (wirklich nur in den USA?) auf sich nehmen muss,  wenn sie sich auf den Weg machen muss, um eine Klinik – in diesem Fall, in einem anderen Bundesstaat – zu erreichen, die Minderjährigen den Abbruch der Schwangerschaft auch ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten erlaubt.

Eliza Hittman hat akribisch recherchiert, mit Sozialarbeiterinnen gesprochen, (meistens durch Spenden finanzierte) Schwangerschaftszentren besucht und Beratungsgespräche geführt. Das merkt man dem Film an. Er ist ein Problemfilm, ohne ein Problemfilm zu sein. Als zu Beginn, ganz leise, sphärisch-entrückte Musik zu hören ist, die wie ein Echo von Brian Eno´s Deep Blue Day klingt, erwarte ich mir, aber nur ganz kurz, einen Film voller abgestandener Indie-Duftnoten. Es kommt jedoch anders. Es bleibt zwar poetisch. Der (Neo-Sur-Super-Hyper) Realismus des Films ist ohne Metaphernbildung hypnotisch. Allmählich ins Zentrum rückt die Underground-Odyssee der beiden Working-Class-Mädchen aus dem postindustriellen Pennsylvania nach New York – Autumn wird von ihrer besten Freundin begleitet (kongenial gespielt von Talya Ryder). Der Film ist wortkarg. Überhaupt sehe ich nicht gerade viele Filme die heavy on dialogue sind (und in Bezug auf Emigholz von Dialog zu reden, wäre einigermaßen daneben).

 

Never Rarely Sometimes Always (Eliza Hittman, 2020)

© Focus Features / Viennale

 

Manchmal macht mir das zu schaffen (einmal Aaron Sorkin hin und zurück wäre schon eine willkommene Abwechslung). Doch ist der Film eben in einem Milieu und einem Alter angesiedelt, das Verbindungen, Zusammenhalt non-verbal herstellt, über ad hoc Hilfestellungen, situative Intelligenz und spontane Gesten, Blicke, Unsicherheiten, Berührungen (freundschaftlich ineinander gehakte Kleine Finger). Es geht um physische, taktile Details (unprätentiöse Anklänge an Robert Bresson und die Brüder Dardenne), um everyday obsctacles. Wo übernachten? Wie Geld für ein Busticket beschaffen? Welche (Ab-)Orte lassen sich wo finden, um dann doch kurz die Blutung zu stillen? Wie die Hetzmeute an Abtreibungsgegner*innen vor der Klink ignorieren? Werden die Eltern die Buchungszeile sehen, wenn die Abtreibung mit Kreditkarte gezahlt wird? Eine krisenhafte Zuspitzung bleibt dennoch aus. Stattdessen feiert der Film, ganz unaufdringlich, einen Akt der Befreiung und – anstatt der anfänglich besungenen Macht der Liebe (the power of love) – die Kraft des female bonding. Zudem kommt der Film ohne leerlaufende, losgelöste Detached-Shaky-Cam (also Indie-Prätention) aus, sondern Kamerafrau Hélène Louvart arbeitet mit präzisen, aufmerksamen, figurenbewegungsorientierten Rekadrierungen. Eine weitere, bemerkenswerte Kameraarbeit fand ich übrigens in Nobuhiro Suwaʼs Voices in the Wind (Japan 2020), einem Post-Tohoku-Fukushima-Nachbebenfilm, das heißt: Memory- und Traumascape-Film, in dem die selten, aber gezielt eingesetzte Wackelkamera zum Seismographen der posttraumatischen Erinnerung eines Mädchens an Erdbeben, Tsunami und Familienverlust wird. (Auf ihrer Odyssee zum Epizentrum ihres Traumas trifft das Mädchen u.a. eine kurdisch-japanische Community. Das habe ich noch nie gesehen.)

Ich beschließe, eine neue Subkategorie des Procedural Film zu konstruieren: den Obstacle Film, man könnte auch Hürdenlauf schreiben (jenseits, aber auch diesseits der Spielifizierung). 

Einen (und mehr als einen) Obstacle Film hat auch der serbische Regisseur Želimir Žilnik gedreht, dessen politisch-engagiertes Werk bis in die frühen 60er Jahre zurückreicht und für mich – wenn auch nicht vollständig – eine große Entdeckung der diesjährigen Viennale ist. In Kenedi, Lost and Found (2005) stöbert Žilnik seinen Protagonisten Kenedi – der insgesamt in drei Filmen vorkommt – in Wien wieder auf. Kenedi ist ein junger Rom aus Serbien, der kurz vor seiner Abschiebung (bis zum nächsten Anlauf) steht. Kenedi ist auch ein grandioser Selbstdarsteller, der – das erfahre ich während der Q&A – die Sexarbeit als lukrativere, schonungsvollere Arbeit entdecken wird als die Arbeit am Bau (für 3 Euro in der Stunde). Sogar in Serbien verdiene man mehr, nämlich 10 Euro in der Stunde. Sogar Hunde hätten mehr Rechte in Österreich. Denn Hunde von österreichischen Hundebesitzern seien automatisch Österreicher*innen.

 

Kenedi, Lost and Found (Želimir Žilnik, 2005)

© Terra film / Viennale

 

Ich fühle mich an eine Passage aus Sohrab Shahid Saless’ Adressee Unknown (Empfänger unbekannt, 1983) erinnert. Dort sagt der türkische Gastarbeiter:

«Das seltsame an Deutschland ist, dass hier Männer Kinderwagen schieben. Dass Radios so billig und Teppiche so teuer sind. Und dass den ganzen Tag Kirchenglocken bimmeln. In Deutschland dachte ich zu Anfang, hier würden die Menschen Hunde gebären statt Kinder. Denn sie haben viele Hunde und tragen sie auf dem Arm. Hunde und Katzen leben wie Könige in Deutschland. In Deutschland gibt es Leute, die habe Geld. Und sehen trotzdem traurig auf die Erde. Sollen sie doch den Kummer denen überlassen, die kein Geld haben. Die Deutschen sind pünktlich wie die Eisenbahn. Das kommt daher, dass sie nur ein Gleis kennen, nie vom Weg abgehen, kein Unkraut, keine Blumen in den Seitenwegen pflücken. Sie fahren immer geradeaus, sind pünktlich wie die Eisenbahn und nehmen nichts wahr.»

Doch Kenedi findet nicht Deutschland, sondern Österreich am Allerproblematischsten, wenn es um die Behandlung von Migranten, Gastarbeitern und Asylbewerbern geht. Das muss man festhalten (nicht nur für das Jahr 2005). Wenn in Tipografic Majuscul ein rumänischer Propagandaclip einen repatriierten rumänischen Flüchtling zeigt, der froh ist, wieder heimgekehrt zu sein und wie ein verlorener, wiedergefundener Sohn über die Missstände im ‹Ausland› berichtet – u.a. über die inhumane Behandlung in der österreichischen ‹Betreuungsstelle› (= Flüchtlingslager) Traiskirchen – dann hat Kenedi jenseits von rumänischer Propaganda genau genommen nicht viel Besseres zu berichten. Österreich ist und bleibt «problematisch». Auch am Flughafen (wieder ein obstacle), als Kenedi sein Leben, das er in 2-3 Koffern mit sich trägt, nicht vollständig nach Serbien zurücknehmen kann: Die Koffer sind zu schwer. Schnitt. Szenenwechsel. Kenedi ist in Novi Sad und schmiedet Pläne für den nächsten Anlauf. 

Um Flucht, Abschiebung und Wiederanlauf geht es übrigens auch in Žilniks Fortress Europe (2000). Žilnik hat Migrant*innen gebeten, über ihre Pfade zu berichten, Passagen wie Begegnungen nachzuspielen und andere Migrant*innen zu interviewen. Die Unerbittlichkeit der Grenzrealität – wenn man der einen Seite entkommen ist, wird man von der anderen Seite herausgefischt – setzt sich aus nachgespielten Szenen zusammen, die auch deshalb authentisch bleiben bzw. eine neue Authentizität finden, da es an der Grenze letztendlich nur um Taktiken des Schauspiel (im Dienst des Über- und Weiterlebens) geht. Der Film ist ein Kollektivarbeit im engagiertesten Sinne: ein Dokudrama, das Positionen, Rollen, Berichte – auch jene einer Polizistin – und gegenläufige Bewegungen (in die EU und aus der EU) konfrontiert und verwebt. Gabe und Gabe – das, was die Migranten/Schauspieler*innen geben (dem Regisseur und einander), und das, was der Regisseur zurückgibt (vgl. Jean Rouch) – werden in einem gerechten Verhältnis gehalten.

Ganz im Unterschied zu Hubert Saupers in Epicentro (Ö/F 2020) veranstalteten Verteilungsungerechtigkeiten, die – mit starker These und manipulativen Mitteln («Du bist in Kuba») – nach dem gewohnten «Take the Material and Run»-Prinzip funktioniert; wobei ich dem Film (im zweiten Teil) mehr abgewinnen konnte als so manche Freunde, da er in der Art, wie er kubanische Revolutionsrhetorik, amerikanischen Traum und regisseurenseitige, katholische Imagination (‹das verlorene Paradies›) – d.h. verscheidene Variationen des Konzepts ‹Utopie› – am Ort Havanna wie in einem DePalma’schen Scarface-Film einander verstrahlen läßt (d.h. Manipulation mit manipulativen Mitteln betrachtet), zwar keine analytischen Qualitäten entwickelt oder ein Jenseits bürgerlicher Moral (wie Michael Glawogger) auffindet, aber dann doch hin und wieder aufblitzende, im Debord’schen Sinne ‹spektakuläre› Momente einer schillernden Verflechtung von Performance-Akten, Hip-Hop-Gesten des Reclaimings von Träumen und von Selbstdarstellungs-Lüsten (für die Kamera, vor der Kamera, hinter der Kamera) produziert. Mehr ist es aber auch nicht.

Mehr ärgern als über Saupers Film musste ich mich jedoch über Gianfranco Rosis Europudding Notturno (Italien/Frankrich/Deutschland 2020), aus dem ich fast rausgegangen wäre. Wenn das alles ist, was Rosi und sein Team von drei Jahren Recherche in Krisen-, Krieg- und Grenzgebieten – und Europa darf sich aus Begriffen wie diesen nicht mehr herausrechnen – mitgebracht hat (Syrien, Irak, Kurdistan, Libanon), dann sollte er doch besser Universal-Mood-Manager werden. Die manchmal mit mehrdeutigen Klangereignissen ausgestattete Soundscape ist noch das Elaborierteste in diesem visuellen Elaborat, das alles tut, um den konkreten Kontext der Bilder vergessen zu machen – es ist irgendwann egal, wo das aufgenommen ist – und Stimmungsbilder für vermeintlich universelle, menschliche Konstanten, für Leid- und Schönheitserfahrungen zwischen Hoffnung und Katastrophe hat. Ein Pärchen, das am Hausdach Wasserpfeife raucht, während in der Ferne Maschinengewehrsalven zu hören sind, die – immerhin – vom Wasserpfeife-Blubbern nicht zu unterscheiden sind. Ein Ruderboot vor dem Abendrot, irgendwo zwischen Apokalypse Now und Bildschirmschoner. Eine Mutter, die in der Zelle ihres zu Tode gefolterten Sohnes klagt und trauert und an der Wand nach hinterlassenen Spuren sucht. Vielleicht noch tatsächlich die stärkste Szene. Aber: Darf man sich gegen solche Bilder noch wehren? Sie wollen es allen Recht machen und tun niemandem weh. Sie bewegen sich bloß konsequent an der Grenze zum orientalisierenden Armutskitsch. Über die psychosozialen Ruinen, die der Daesh hinterlassen hat, kann uns in der Tat jedes Handycam-Video mehr erzählen.

 

Tito Among The Serbs for the Second Time (Želimir Žilnik, 1994)

© B92 / Viennale

 

Noch einmal zurück zu Želimir Žilnik: Wenn sich Programmatik des Festivals zum Ziel gemacht hat, keine harte Trennung zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm einzuziehen – es gibt nurmehr die Sektion «Feature» und somit nurmehr Darsteller (das funktioniert erstaunlich gut!) –, dann fand dieses Experiment, das keines mehr sein sollte, für mich einen Kristallisations- und Kulminationspunkt in Žilniks Tito Among The Serbs for the Second Time (1994): Der Impersonator Dragoljub Ljubičić läßt vierzehn Jahre nach Titos Tod den Genossen und Papa der ehemalgien Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in Belgrad wiederauferstehen, durch die Straßen von Belgrad gehen – oder besser in voller Montur marschieren (aber volksnah, zum Angreifen!) – und heftige Debattenrealitäten produzieren. Das Ganze war im Jahr 1994 nicht ungefährlich, wird jedoch von der virtuosen Ironie des Schauspielers meistens aufgefangen, abgefedert. Herausgekommen ist ein enorm nuanciertes Gesellschaftsbild und Stimmungspanorama eines zerfallenden Vielvölkerstaates. Die Debatten bewegen sich meistens an der Kante zu Zerfall und Sezession. Von Wut und Bitterkeit über Nostalgie und Führerkult bis zur Lust am Mitspielen ist alles vertreten. Besonders unterhaltsam sind jene Momente, in denen ‹Genosse Tito› sich auf dem Tisch eines Flohmark- und Devotionalienhändlers eine Neuausgabe von Karl MarxʼDas Kapital ansieht und auf einer Geldnote vergeblich sein eigenes Porträt sucht. 

«Nun haben wir 50 kleine Titos.» Dies die treffende Diagnose eines Passanten, der offenbar sehr gut verstanden hat, was von einem Personenkult übrig bleibt.

Wer führt hier eigentlich Regie? 

Diese Frage stellte ich mir öfters im Zuge der diesjährigen Viennale, in Zusammenhang von Žilniks engagierten Filmen eher noch unkonturiert, dann rückte sie allmählich in den Vordergrund und soll hier den zweiten Teil meiner Notizen abschließen sowie den dritten Teil ankündigen. Kontur gewann die Frage für mich, als ich im Gartenbau saß und den grandiosen Konversationsfilm Hopper/Welles (2020) sah, ein Duell, das an Ambiguität und Hintergründigkeit schwer zu toppen ist. Kaum überraschend: Ein sehr männerdominiertes Gespräch. Frauen bleiben Entourage und Kabelträgerinnen, einmal gibt es jedoch eine kluge Wortergreifung, d.h. weibliche Hopper-Herausforderung, die aber, das muss man auch beobachten, ganz offensichtlich Welles gefallen will. Hier fand ich dann auch den von mir ersehnten Raum widerstreitender Kräfte, multidirektionaler Vektoren, sich ständig neuformierender Achsen. Orson Welles, der nie zu sehen ist (wobei er manchmal durchs Bild geht und gleichsam Torso mit der Stimme Gottes bleibt), hat für seinen Film The Other Side of the Wind (gefördert u.a. von Mehdi Boushehri, dem Schwiegerbruder des iranischen Shah) über die Regie-Legende Jake Hannaford (gespielt von John Huston) ein ausuferndes Gespräch mit Dennis Hopper geführt, der in einer Partyszene auftauchen sollte und gerade von Neu Mexiko geflohen war, wo er The Last Movie drehte.

 

Hopper/Welles (1970/2020)

© Creative Artists Agency / Viennale

 

Der Film ist voller Symmetrien und Kontraste. Ich habe fast jedes Wort genossen, aufgesogen. Es ist letztendlich die Konfrontation zweier Formen – ja, vor allem Formen, es geht um Posing, gerade noch oder gerade nicht mehr politisch links zu sein. In einem dunklen Zimmer in Los Angeles, mit Kamin, den Tisch voller Gin und Tonic, sitzen sich zwei Romantiker gegenüber, die auf verschiedene Art Romantiker sind. Das Ganze ist 130 Minuten lang, in Schwarzweiss gefilmt (16mm, mit zwei Kameras), blieb lange liegen, wurde vom Produzent Filip Jan Rymsza wiederentdeckt und kaum (oder gar nicht) geschnitten. Unser Glück. Auch, dass Rymsza persönlich zu Gast ist, dem ich gerne zuhöre.

Am Beginn der Konversation, die größtenteils ein Verhör ist, scheinen die Positionen noch eher klar: auf der einen Seite der nie sichtbare zynische Souverän, auf der anderen Seite die Stimme der Counter-Culture. Wobei der Stetson auf Hoppers Kopf ein nicht unbedingt eindeutiges Indiz für Linkssein ist. Ja, nennen wir es beim Namen: So haben früher (mehr oder weniger selbsternannte) ‹Querdenker› ausgesehen. «I want John Wayne’s audience» (Hopper). Auch ist den Beiden anzumerken, dass sie sich erstmal gegenseitig beeindrucken wollen. Das ist wunderschön anzusehen, packend anzuhören. Hopper redet von Neorealismus, Umberto D, formuliert seine Auffassung von Zeitbild und Wirklichkeitseffekt (»I want to experience time»), will zum Teil mit Wissen angeben (das manchmal alkoholbedingt zerfällt), zum Teil Welles aber auch provozieren, als alt dasitzen lassen. Das gelingt nur manchmal und in the long run gar nicht. Wellesʼ Respekt artikuliert sich anders. Er fragt anfänglich erstaunlich oft nach Orgien und Grenzüberschreitung («Where are your limits?»), markiert dadurch Distanz (und sich selbst als Kontroll- und Vernunftmensch), gibt dadurch aber auch seine Hermeneutik des Verdachts und seine Komplexe preis. Nach dem Motto: ‹Hier sitzt mir ein Mann gegenüber, der womöglich mehr (mit Frauen und Drogen) erlebt hat.› 

Welles (oder spielt er Hannaford?) möchte Hopper fast im Stil eines McCarthy-Schau-Prozesses auspressen, künstlerisch und politisch festnageln. Erstmal tut einem – zumindest mir – Hopper irgendwie leid. Er möchte ja schließlich auch Spaß (und mit den umgebenden Frauen Blickkontakt) haben und kein unaufhörlich seriöses Tiefeninterview geben. Er weicht aus. Macht Witze. «Zum Film bin ich ja nur wegen den Frauen gekommen.» Seine Augen wandern, sind manchmal entrückt, irgendwelchen Rissen, Hexenlinien und LSD-Erinnerungen folgend. Hopper ist ein restless mind. Immer will er etwas sagen, das er vergessen hat. Der inkohärente Denker schlechthin. Welles ist das master mind. Der kohärente Denker schlechthin. Alles ein Planspiel, fest im Sattel, den unaufhörlich ausweichenden Hopper in die Enge treibend.

Man redet über Magie & Maschinen: machine magic vs. magic magic. Diese Differenz macht nur Hopper auf. Welles macht eine andere Differenz auf, zwischen Wunder (Gott) und Regisseurenmagie, wobei der Regisseur dann doch auch zu Gott wird. Es regnen lassen. Man redet über Hamlet und Jesus. Während Hopper Hamler spielen will (H&H), will Welles ihm die Rolle von Jesus geben. Wer führt Regie? Letztendlich will Welles auf einen Begriff von Revolution und Hoppers politische Haltung hinaus. Welchen Sinn macht es, bloß ein silent revolutionary zu sein? Können Filme game changer sein? Kann es eine Revolution ohne Plan geben? Der Wind dreht sich, die Positionen verteilen sich neu. Wo ist links, wo rechts? Die Fluchtlinie des Gesprächs – Wellesʼ Insistieren – läßt Hopper plötzlich als höchst oberflächlichen Hipster, lose Kanone und Politposeur (ohne kohärente Ansicht) dasitzen, der sich selbst vor allem von seiner Mutterbindung und einem Hang zu Kommunitarismus her begreift. The FBI will tell me if I am a leftie. (Hopper) Welles weiß, dass er das ernsthaftere Lied vom Verfolgtwerden (in der McCarthy-Ära) singen kann. Trotzdem bleiben beide Romantiker, jeder auf seine eigene Art: der Zerrissene & der souverän mit Realitätsebenen und Fiktionsverschachtelungen Jonglierende. Und beide Montieren beim Sprechen. Das Gespräch über die Gewalt des Schneidens – Itʼs like cutting away a newbornʼs arms and legs (Hopper) – am Beginn des Films ist nicht zuletzt deshalb ein Genuß. Hier haben sich zwei Virtuosen der Montage und des Rollenspiels gefunden, zwei Trickster verschiedener Generationen, die sich hartnäckig-neckisch-schelmisch jeglicher Festschreibung verweigern. Leichter ist es in der Tat, einen Pudding festzunageln.

 

 

TEIL 1

Ein fassungsloses Gesicht. Das war die Reaktion, die ich hervorrief, als ich im Zug von Basel nach Wien meinem Gegenüber erzählte, dass ich unterwegs zu einem Filmfestival sei. «Ist nicht wahr?» Ja, Sachen gibts, die gibts schon noch. Zum Beispiel auch, dass Zugfahren nicht nur Serienschauen am Laptopscreen bedeutet, sondern plötzlich wieder zur Einübung auf das Kinogehen wird. Das wäre an sich nichts Neues: Bewegtbilder hier, Vorbeiziehbilder dort. Doch beginnen die Wahrnehmungsvoraussetzungen aktuell, unter gegebenen Maßnahmen (wie hieß das früher doch gleich? Umständen) auf einer anderen, neuen Ebene zu kommunizieren: Acht Stunden Zugfahrt von Basel nach Wien mit Maske und Brille – das heißt: getrübten, behauchten Blickes – sind schon mal ein gutes Training für 10 Tage Filmfestival unter Maskentragevorschrift, auch im Sitzen. The Loneliness of the Cinema-Goer. (Immerhin ist kein stereoskopischer (D)3D Film im Programm, dann wäre die Isolation, das Confinement, die Bubble, die Rahmenbedingung, buchstäblich, noch perfekter). Doch andererseits: Mehr als die physische Vergemeinschaftung in einem Raum (neben mir sitzt eh niemand) zählt doch eigentlich: aus dem Kino kommen und ausnahmsweise einmal ein gemeinsames Referenzsystem haben, über dasselbe reden können. Wirklich? Die Kunst besteht allein schon darin, jemand zum Plaudern zu finden. Woran lässt sich das ablesen? An den Lippen nicht. Lauter neue Kulturtechniken, die sehr leise sind: zum Beispiel auch, durch drei Schichten – die Maske der Kassiererin, die Glasscheibe und meine Mütze – zu verstehen, was Gesagt wurde, zumal mir vor einigen Wochen eine Hördifferenz von 30 Prozent zwischen dem linken und dem rechten Ohr attestiert wurde.

Doch erstmal befinden wir uns nicht zwischen meinen Ohren, sondern vorläufig noch zwischen Basel und Wien. Die Fassungslosigkeit meines Gegenübers – Wirklich? Es gibt noch Filmfestivals am Boden? – konnte ich immerhin schon am Blick ablesen. Das hab ich gelernt, durch die beschlagene, behauchte Brille, die dann doch nicht so betrübt war, weil ich – extra (!) – Schnabelmaske trage. Mit Schnabelmaske im Kino und zur Einübung: im Zug sitzen. Das Leben ist ein Karneval inmitten einer Fastenzeit. Ich möchte mir eine Lachkultur, gewisse Narrenwahrheiten wiederaneignen, die nichts mit Covididotie einerseits, Datenhuberei andererseits zutun haben. Das war mein Vorsatz, nein, mein Bedürfnis. Und ein Motiv, zur Viennale zu fahren. Mit Dingen konfrontiert zu werden, die man nicht kontrollieren kann, ohne dass das bedrohlich wird, neue Begriffe finden oder diese neu aneignen: Kontakt, Übertragung; Kaninchenloch; Recht auf Differenz (vgl. Derrida… das hätte ich vor ein paar Jahren nie in Klammer hinzugefügt); Wahnsinn (vgl. Foucault… das hätte ich vor ein paar Jahren nie in Klammer hinzugefügt); Widerstand (von wo aus? wogegen? sind wir soweit? nicht mehr zu wissen, wo counter-culturecounter-memory etwas machtkritisches sein kann?). Wahrnehmung im Zustand der Zerstreuung und Ambiguität, Perspektiven ausprobieren (Sehen dass, Sehen mit, Sehen durch, Sehen gegen, Sehen wie, Sehen für), Sehakrobatik mit Mut zum Risiko, ohne gebundene Hände (vielleicht mir Sicherheitsnetz, aber ohne Sicherheitsdispositiv), von den Tentakeln widerstreitender Kräfte, multidirektionaler Vektoren, sich ständig neuformierender Achsen ergriffen werden… das möchte ich wieder lernen, wieder erfahren.

Dachte ich, auf dem Weg nach Wien. Zwei Bilder, die mir entgegenreisen: die psychedelischen Pilze (eher symbiotisch als parasitär) auf dem Viennaleplakat – John Cage lässt grüßen – fordern mich heraus, da ich immer noch, qua Buchprojekt, im Griff der Krakententakel bin (Sind Pilze die neuen Oktopoden, die wiederum die neuen Delphine waren?) Und ein Apfel auf dem Kopf in dem wunderschönen Viennaletrailer von Alice Rohrwacher. Der Apfel auf dem Kopf passte dann auch ganz gut: zu dem Weg, von Basel nach Wien, von einer Porta Orientis zur anderen (dass Wilhelm Tells Apfelschuss mit großer Wahrscheinlichkeit eine transkulturelle Appropriation und zuvor in Persien, ohne Wilhelm Tell, auftritt, könnte man wissen).

Ein Filmfestival gegenwärtig – will heißen: inmitten der zweiten Welle, die ein Steilhang ist – on the ground und nicht hybrid oder nur an virtuellen Orten stattfinden zu lassen, ist ein politisches Statement geworden. Darauf weist auch Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi in einem Gespräch mit Patrick Holzapfel hin. Zu einen Filmfestival zu fahren, ist auch ein Statement geworden, etwas, das man mit sich selbst neu aushandeln, gegenüber Anderen neu legitimieren muss. Es versteht sich nicht von selbst. Es spricht aber auch Vieles dafür. Zum Beispiel der Umstand, dass es in Kinos tatsächlich kaum Clusterbildungen gibt, vielleicht, weil doch kaum gesprochen wird, und wenn, dann flüsternd und nicht rabiat plosiv (Je mehr Plosive in der Sprache, desto höher die Ansteckungsgefahr, das hat eine aktuelle, wenn auch sehr kurze Studie erwiesen). Im Kino finden andere Kontaminationen statt, Infektionsketten, für die es keine Tests, gegen die es auch nie und nimmer einen Impfstoff geben wird. Das muss uns keine Sorgen machen. Nicht, um das Kino «gegen etwas» zu lieben, fahre ich zur Viennale. Auch nicht, um eine verlorene Zeit wiederzufinden. Ich habe dort tatsächlich nichts verloren. Sondern möchte dort Zeit stehlen und neue Orte finden, von denen aus sich differenzierter sprechen lässt. So differenziert wie Saša Stanišić in Herkunft schreibt. Ein Buch, das mich auf dem Weg, von Basel nach Wien, begleitet hat und bestimmt mitgeschrieben hat, an der Tatsache, dass ich nun bevorzugt in Filme mit Balkanbezug (jenseits einer Kustirica’schen Selbstbalkanisierung) gehen werde.

Auf dem Weg zum Viennaleauftakt noch schnell einen Blick auf die Karlskirche werfen – auf ihre barocken Türme (Coronasäulen?), die von Moscheen aus Istanbul inspiriert sind.

 

Miss Marx (Susanne Nicchiarellis, 2020)

© Celluloid Dreams / Viennale

 

Opium ohne Volk

Der Auftakt, Susanne Nicchiarellis Miss Marx, über Eleanor Marx, die versucht, über ihren Vater Karl, das Korsett ihrer Zeit und die organisierte Hypokrisie ihres Privatlebens hinauszuwachsen und schließlich, im Alter von 43 Jahren, Suizid begeht, ist als Statement okay, als Film aber nicht wirklich virtuos. Zu sehr ist der Film damit beschäftigt, seinen Hang zum Ausstattungs- und Oberflächenpostpunk à la Sofia Coppolas Marie Antoinette (2006) zu verstecken. Gegen die Liebe des Films zu Tapeten- und persischen Teppichmustern, die durch Draufsichten auf Opiumrauchrituale wohlarrangiert zur Geltung kommen sollen (Opium ohne Volk!),  hätte ich kaum was einzuwenden. Dass Miss Marx dann in ihrem schönsten Kleid Suizid begeht, auch nicht. Hierin hat sich der Film konzeptuell konsequent im Griff, geht es doch auch um eine Frau, die Madame Bovary übersetzt und wie Bovary endet. Dass der Film seine Romantizismen dann allerdings hinter drei alibimässig und vignettenhaft eingestreuten Politaktivismusszenen – I want to be part of something bigger – und drei allzu abgezirkelte Brecht’schen Illusionsbrechungen – Zuschaueradressierung, Mise en Abyme (Theater im Film), Anachronismen (Punksongeinlage im Opiumrausch) – zu kaschieren sucht, ist dann doch etwas dünn aufgetragen. Der Film hätte viel zu erzählen gehabt (Eleanore Marx hat sich z.B. intensiv mit den Verhältnissen des jüdischen Proletariats beschäftigt.) Das Bemühen um eine Politisierung des Privaten ist dem Film anzumerken. Herausgekommen ist eine Privatisierung des Politischen, die sich darin erschöpft, Widerstand und Krawall als adoleszentes Aufbegehren im Jugendzimmer zu konservieren, und damit ver- und begnügt, Miss Marx auf einer Metaebene daran zu hindern, erwachsen zu werden und über ihren omnipräsenten Vater oder heuchlerischen Ehemann oder über die Nachlass-Verwaltungsübermacht namens Friedrich Engels hinauszuwachsen.  

 

Domovine / Homelands (Jelena Maksimović, 2020)

© ENFM / Viennale

 

Geradezu diametral hierzu – und das war mein eigentlicher Viennaleauftakt am Morgen danach – verhält sich Jelena Maksimović Domovine / Homelands (Serbien 2020). Während es Miss Marx zu sehr um Emotion und Protest ohne historische Spezifität geht – um das ewige Mädchen hinter den Geschichtsbüchern, das immer noch und immer wieder denselben Kampf führen muss –, lässt Maksimović in jeglicher Hinsicht mutiger Film Vergangenheit und Gegenwart nicht zusammenfallen, sondern über einen unüberbrückbaren Riss in Spannung  zueinander treten. Es ist beeindruckend, auf welch leisen, schneegedämpften Sohlen sich in diesem Film eine  politisch anklagende, feministische Wucht zusammensetzt, die nicht nur ihresgleichen sucht, sondern aufzuzeigen vermag, dass ein politisch klares Anliegen und eine ansprechende (eben nicht nur entsprechende) ästhetische Form kein Widerspruch sein müssen, ganz entgegen jener Auffassung, die Orson Welles im Gartenbaukino, in klassischer Manier gegenüber Dennis Hopper formulieren wird: Social message is primitive to say.

Herkunft und Krieg

Wenn Herkunft in erster Linie Zufall (irgendwo geboren werden) und Zerfall (Krieg) bedeutet, wie das Saša Stanišić in seinem grandiosen Roman Herkunft formuliert, dann findet Domovine hierfür eine spezifische Sprache, und macht damit aber doch auch einen Unterschied zu Stanišić’ Roman: Es geht nicht darum, «wie es sich anfühlt, für etwas keine Sprache zu haben» (Stanišić). Ganz im Gegenteil, der Film geht von einer entschieden gewählten Form aus – Wie ist es, eine Form für das Nichts zu haben? – und versucht, von dort aus die Vergangenheit heraufzubeschwören und die Heldentaten einer Großmutter zu erinnern, die als kommunistische Partisanin während des griechischen Bürgerkrieges in das damalige Jugoslawien – gleichsam von einem Krieg in einen zukünftigen Krieg – fliehen musste.

Ihre Enkelin namens Jenka (Jelena Angelovski) kommt zu Beginn des Films, des nächtens, mit Auto (und  melancholischem Popsong) in einem verschlafenen Dorf an. Das Dorf heißt Agios Athanasios und befindet sich inmitten eines Skiressort im Norden Griechenlands. Der Film ist in seiner Anlage (und Anklage)  dokumentarisch, auch wenn die Regisseurin sich selbst von einer Schauspielerin verkörpern lässt, aus der (teilweisen) Inszenierung der Investigation also kein Geheimnis macht. «Yes, it is partly my own story but I wanted the film to be free enough to discover some other elements out of the stories we found during the shooting.» 

In mehreren Anläufen, auch buchstäblich, bei einer Snowboardfahrt, versucht Jenka durch verschiedene Schichten – nebst der dicken Schneeschicht jene Schichten, die von den Ritualen einer tiefpatriarchalen Gesellschaft präpariert, betoniert wurden – zu der Geschichte ihrer heroischen Partisanengrossmutter durchzudringen. Es geht um feministisches Erinnern inmitten machistischer Geschichts- und Gegenwartskonstruktion. Zunächst ist es beeindruckend, wie langsam und leise der Film seine Vergessens-, Trauma- und Memoryscape aus (Geradenoch-)Kriegspuren, Ruinen, Stimmen, Folklorefragmenten, Tanzeinlagen, Smartphoneclips, Archivaufnahmen, Widerstandsliedern aufbaut, webt. Alles ist persönlich grundiert, aber nicht zu persönlich. Dann aber gibt es etwas eigentümlich Dräuendes, das in den verschlafenen, melancholischen Bildern nistet, das sich allmählich verdichtet und in einer finalen, sehr wuchtigen, lyrischen Form entlädt, wenn die Schauspielerin, im Zuge einer 360°-Plansequenz, zunächst sitzend, als Rückenfigur, inmitten einer nunmehr sommerlichen Schilflandschaft, dann sich umdrehend, auf die Kamera zugehend, in diese sprechend-sprachlich Rache nimmt, indem sie anruft, anklagt, heraufbeschwört, vor allem einen enorm gelungenen Text vorträgt, der in der Natur, inmitten des Schilfs und der Bäume, die dort (immer noch) versteckten Partisanen, vor allem Partisaninnen anruft, an einen feministischen Kampf für Gerechtigkeit weniger erinnert, sondern diesen mit den Mitteln einer «poetic justice» in die Gegenwart einträgt. 

Hierin funktioniert Domovine auch diametral zu einem Film, den ich am folgenden Tag sah, nämlich Was bleibt von Clarissa Thieme. Während in Domovine die Vergangenheit aus einer Jetzt-Zeit heraus gleichsam mit Ekrasit (würde Walter Benjamin sagen) erfüllt wird und die Bezüge zur Vergangenheit aus einer zornerfüllten Gegenwart heraus hergestellt werden, fragt Thiemes Film nach dem, was übrig bleibt, wenn die Spuren vergangener Schrecken im Begriff sind, zu verblassen. Wie kann das sichtbar gemacht werden, was kaum mehr sichtbar ist und kaum mehr (kollektiv wie individuell) erinnert wird? Der Film ist eine Re-Vision: Schon 2009 drehte Thieme an Orten in Bosnien-Herzegovina, an denen Vergewaltigungen, Massenexekutionen und Folterungen stattfanden. Nun hat sie eben diese Orte wieder aufgesucht, die damaligen Kadrierungen  nachgestellt und innerhalb der Einstellungen Plakate enthüllt, auf denen die Stills aus dem Film von 2009 zu sehen sind. Das funktioniert zwar nicht immer, aber fast immer. Ehemalige Baustellen sind nun verschwunden, die Ziegelmauerwerke verputzt. Aussichten sind verstellt, durch Gebüsch, das gewachsen ist. Manches ist verschwunden, manches aber auch hinzugekommen, wie zum Beispiel ein Minarett, das 2009 noch nicht zu sehen war. Passant*innen reagieren, wollen das Plakat – etwa als Erinnerungsstück – haben, erwerben, aufhängen, wobei es nicht um Erinnerung an die Verbrechen und Genozide in der Vergangenheit geht, sondern um Erinnerung an den gegenwärtigen Moment, der als Wandbild das Tourismusbüro des Dorfes schmücken soll.

Noch einmal zurück zu Domovine: Es ist faszinierend, mitzuerleben, wie der Film ganz bewusst auf eine anachronistische Form zusteuert, die kein bisschen abgestanden wirkt, hierin Anne Webers soeben mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetem Heldinnenepos Annette vergleichbar, das auf so vielen Ebenen einen Unterschied macht, wie eben auch Domovine. Erfrischend und kein bisschen nostalgisch – Nostalgie ist Erinnerung an etwas, das nur damals eine Bedeutung hatte – ist vor allem, dass die Natur, das Schilf, die Bäume nicht, wie so oft, als Metaphern des Vergessens angerufen werden (Natur frisst Geschichte), sondern als ehemaliges Versteck für Partisaninnen, die dort immer noch auf die Verwirklichung ihres Ideals von Kollektivität und Verteilungsgerechtigkeit warten oder dort, im Schilf bzw. ins Schilf übergegangen, einen shared space gefunden haben. Der menschliche Krieg gegen die Natur wird so in einen Kampf gegen den Kulturraum und den Zufluchtsort von Partisaninnen umgedeutet. 

Orgienmysterien und Bilderstörmaschinen

Darum, die verlorenen Utopien in der Unterwelt aufzusammeln, geht es übrigens auch in Orphea (2020), der Kooproduktion von Alexander Kluge mit dem philippinischen Regisseur Khavin, ein Film, den ich hier nur en passant erwähnen möchte, da er zwar vieles sein will – ein bisschen Schlingensief-Trash da, ein bisschen Godard-Collage dort –, aber in der Art, wie er Migrationsdramen (auch das Bild des syrischen Jungen Alan Kurdi) in mythologische Fluss-Narrative einarbeitet, dann doch eher eine Orgie der Schöngeistigkeit bleibt, und darin ein wenig unappetitlich wirkt. Dass Kluge der Schauspielerin Lilith Stangenberg nun auch noch Lip-Syncing zu einem von ihm selbst eingesprochenen Text abverlangt, muss nun wirklich nicht mehr sein; trotz Voodooironie wird in Szenen wie diesen deutlich, dass Kluge eine Transkulturalität, die nicht deutschzentriert ist, dann doch einigermaßen schwer fällt. (präsenter als Voodoo ist dann doch Dr. Mabuse… zu transkulturellen Kontakzonen siehe besser: Bonellos Zombi Child). 

Da hat Heinz Emigholz in seinem «Spielfilm» Die Letzte Stadt mit seiner deutsch-japanischen Kollektivschuldwurst, die aus den Innereien einer als Japanerin verkleideten Deutschen hergestellt wird – die in einer Szene zuvor Harakiri begeht, beschämt durch eine lange Liste an japanischen Gräueltaten, die ihr von einer Chinesin vorgelesen wird –, das weitaus verstörendere, auch untergründig humorvollere Bild gefunden. Das Filmische an Emigholzens sprechtextlastigem Anti-Film mit Anti-Schauspielern konnte ich – trotz fortgesetzter Kultivierung seiner verkantet-gekippten Einstellungen aus den Architekturfilmen (the Dutch Angle Style) – trotzdem nicht erkennen, wobei ich Filmemacher, die eigentlich keine Filme mögen oder das Filmische gegen den Film mögen, doch meistens interessant finde – vgl. hierzu Alexander Horwaths Essay über Guy Debord («Um ehrlich zu sein, das sei ohne Koketterie gesagt, wird solch ein Antikino-Kanon ohnehin das einzige größere Gräberfeld sein, das vom Kino langfristig bleibt. Der Rest ist Content für andere Maschinen.»)

 

The African Twintowers (Christoph Schlingensief, 2005-2008)

© Filmgalerie 451 / Viennale

 

Von Kluge führt ein direkter Kontaktübertragungsweg zu Christoph Schlingensief, dessen filmischen Steinbruch an Unfertigem ich zwar gut (meinte ich) kenne – vor allem hatte ich Wochen zuvor einen ausführlichen Essay über Bettina Böhlers Dokumentation und die Aktualisierbarkeit des Schlingensief-Komplexes verfasst, nachzulesen hier –, doch wollte ich meine Erinnerungen an die Arbeiten Schlingensiefs dann doch noch einmal überprüfen, anhand eines Material-Massivs, das mir gänzlich unbekannt war: The African Twintowers. Es handelt sich weniger um einen Schlingensief-Film, sondern um eine Art Diary-Film: das Dokument – das nur ein kleiner Auszug ist (aus hundert Stunden Material) –  scheiternder Dreharbeiten in Lüderitz/Namibia/ehemals Deutsch-Südwestafrika. Im Unklaren, was aus diesem Steinbruch an Filmmaterial hätte werden sollen, liegt die Stärke des Films, wie überhaupt das Zustandekommen und Nichtfertigwerden eines Schlingensief-Films interessanter ist als das, was rauskommt und meistens eher unbefriedigender Outtake eines Outtakes eines Outtakes… bleibt).

Ich sah den Film mit überraschend gemischten Gefühlen und Gedanken und war erstaunt, dass mich Schlingensief nun doch stärker als erwartet an einen Fitzcarraldo in Namibia erinnerte, der immer und immer wieder einen spezifisch mitteleuropäischen Wahnsinn (eine durchdrehende koloniale Vernunft) erzeugt, potenziert und exorziert. Gleichzeitig konnte ich einen differenzierteren Blick gewinnen auf Schlingensiefs dann doch wiederum virtuose Art, mit dem Chaos (und nicht gegen das Chaos) Ereignisse zu produzieren, von denen nicht nur Schlingensief etwas hat, sondern alle irgendwie Beteiligten oder zu Beteiligenden, die eben nicht nur Mitteleuropäer*innen sind. Die schillernde Diversität des «Animatographen», eine Art Gegenschuss zum Ausländer-Raus-Container (in Wien), eine Art afrikanische Wiederermächtigungs-Bilderstörmaschine mit radikal anti-identitärer Identitätspolitik, vermag jedes noch so vorbildliche Diversity-Management plötzlich als ausgesprochen blass, eng, einfältig, kleinkariert zu entlarven. 

Schlingensief wird gerne mit Milo Rau verglichen. Keine Frage, beide Künstler haben einen Hang zu Gigantomanie, eine Liebe zum Gesamtkunstwerk und stellen Fragen danach, was im Rahmen der Kunst gerade noch oder gerade nicht mehr möglich ist, weil das, was in dem Rahmen stattfindet, über den Rahmen hinaus- und in die Realität eingreift. Wo Milo Raus Globalhumanismus dann aber doch ein klein wenig zu selbstgerecht meint wissen zu können, wie eine erlöste Welt auszusehen hat – nach dem Motto: «Ich male ein Square auf den Boden und innerhalb dieses Vierecks herrscht Gerechtigkeit» –, agierte Schlingensief lokaler, vielleicht auch tatsächlich dilettantischer – im Sinne von hysterischer, widersprüchlicher, ohne klare Vision –, und setzte sich selbst den Eskalationen und Kontaktkontaminationen viel stärker aus; auch wenn er Monteur (mit wachem Sensorium für Rhythmen) inmitten des Kontrollverlustes blieb. Genau diese Offenheit und Anschlussfähigkeit seiner Montagen, diese responsive Intelligenz, etwas zuzulassen, (manchmal) auch wirklich zuzuhören, zu reagieren und zu improvisieren – sprich: Stimmen und Stimmungen situationistisch zu bündeln (und Schlingensief ist sicher an Fluxus und Situationismus anschließbar), unterscheidet Schlingensiefs Kunst auch von dem, was Moira Weigel einmal als strukturstrengen «Sadomodernismus» bezeichnet und Michael Haneke attestiert hat. Schlingensiefs Kunst ist auch eine Kunst des Machtabgebens, Kontrolleabgebens.   

Ich habe Schlingensief und seinen Mitstreiter*****innen gerne bei ihren verzweifelt-vergnüglichen Anläufen zugesehen, unerklärbare Zustände nach vorne treten zu lassen (während Geplantes zurücktreten muss), und bei ihren Versuchen, zumindest kurz über das Gleiche zu reden (was dann meistens misslingt) oder auch die Kante des Bildes zu erreichen, um allerdings immer wieder Bestandteil eines neuen Bildes zu werden.

Tipografic majuscul (Radu Jude, 2020)

© Best Friend Forever / Viennale

 

Das Leben der infamen Menschen in Rumänien

Blicke in die Kamera. Visuelle und textuelle Zuwendungen. Interpellationen. Tropen, die mich gegenwärtig zu verfolgen scheinen. Nur mich? Kameraadressierungen sind derzeit omnipräsent und die Rede von einer vierten Wand (oder ihrer Durchbrechung) gänzlich obsolet geworden. Das Bild ist eine Realität von Relationen. Weder Wand noch Fenster. Die Zoom-, Webex- und Jitsi-strukturierten digitalen Vergemeinschaftungen in Form von Raster- und Setzkastenästhetiken, die sich aus frontalen Closeups zusammensetzen, setzen sich im Kino fort: Miss Marx (Erste Kameraadressierung). Domovine (Zweite Ansprache in die Kamera). Gleich darauf, Radu Judes Tipografic Majuscul (Rumänien 2020): der Blick in die Kamera wird zum Strukturprinzip.

Basierend auf Securitate-Akten und Protokollen – das Wort Protokoll wird die Viennale übrigens begleiten, in Form von Corona-Schutzprotokollen –, entwickelt der Film eine Collage an Formen und Perspektiven: Was die Protokolle vorgeblich objektiv dokumentieren, de facto jedoch konstruieren, ist ein Vorfall aus dem Jahr 1981: Ein 16-jähriger Gymnasiast beginnt, womöglich unter dem Einfluss eines feindlichen Hörfunkprogramms (Radio Free Europe), in der rumänischen Stadt Botoşani mit Kreide systemkritische Parolen und Freiheitsbotschaften auf Hauswände zu schreiben. 2012 werden die Protokolle in ein dokumentarisches Bühnenstück eingearbeitet. 2020 reinszeniert der Film dieses Bühnenstück, wobei die – in Figurenrede und Dialoge übersetzten – Protokollpassagen in die Kamera gesprochen werden, dialektisch unterbrochen von Archivaufnahmen aus dem rumänischen Fernsehen, welche die Inkorporierung des Individuums in einen harmonischen, solidarischen und organischen Volkskörper propagieren.

Es geht um die Rekonstruktion einer Einflussforschung von Seiten der Staatsintelligenz: Woher kommen die ‹hostile inscriptions› (von Charlie Chaplin? aus dem Radio)? Wo fanden Kontaktübertragungen statt, vielleicht sogar in der Familie? Hat die Mutter gegenüber ihrem Sohn darüber geklagt, dass sie bei der Arbeit ungerecht behandelt wird, und dadurch seine Regierungskritik befeuert. Es ist ganz besonders beklemmend, mitzuverfolgen, mit welcher Akribie die Securitate das Objekt «Familie» infiltriert und die Familienmitglieder zu gegenseitiger Verdächtigung animiert. Wovon wird eine Familie zusammengehalten? «Es gibt keine Überwachung. Nur Jugendschutz.»  

Die stur durchgehaltene, dialektische Struktur des Films – Bühnenszenen alternieren mit Propagandaaufnahmen – wirkt zwar etwas ermüdend. Seine schillernde Vieldimensionalität entwickelt der Film allerdings über eine gleichzeitig ebenso konsequent durchgehaltene diskursanalytische Ausrichtung. Letztendlich geht es um das mikroskopische Nachvollziehen von Subjektivierung als Unterwerfung (assujettissement), um infame Existenzen, die in institutionellen Diskursen einen blitzhaften Niederschlag finden, und um die Frage, welche Sprache den Menschen im Fernsehen eigentlich noch bleibt, wenn der Teleprompter (oder die Stimme Alexander Kluges) ausfällt.