doclisoboa 2016

27. Oktober 2016

Doclisboa 2016

Von Ekkehard Knörer

Doclisboa, 4. und letzter Tag

Zum Abschluss ein paar Punkte zur Hommage an den Filmemacher Peter Hutton, der in diesem Jahr starb. Fünf kurze oder mittellange Werke wurden gezeigt. Sie ähneln einander, so verschieden sie sind.

 

Stumm

Ein kurzes analoges Bratzeln ganz zu Beginn, als der Film eingelegt wird, dann bleibt der Saal neunzig Minuten lang stumm. (Sieht man von zwei oder drei Handys ab und den Geräuschen der Leute, die gehen.) Stumm, wie es das Kino auch zu Stummfilmzeiten nie war. Die Stummheit verlangt dem Blick und dem Ohr etwas ab. Man lernt nicht zuletzt, tausend verschiedene Stummheiten zu unterscheiden. So unterschiedlich ist das, was man nicht hört. Das Knirschen des Eises unter dem Eisbrecher, das Geschrei am Strand von New York, der Lärm auf den Straßen von Thailand, die Stille der Nebellandschaft am Hudson River, die Straßenbahn in der Ferne in Lodz, das Rattern des Feuerwerks. All das hört man nicht. Und vernimmt es doch, als Echo der Frage des berühmten Koan: «Was ist das Klatschen einer Hand?»

Schwarzbild

Die Filme von Hutton sind rhythmisiert. Einzelne Einstellungen mal länger, mal kürzer, immer ist ein Schwarzbild dazwischen. Auch die Dauer des Schwarzbilds variiert. Es kann trennen und es kann verbinden, es kann Jump Cut oder heftiger Schnitt sein, in dieselbe Szene hineingehen, die Tür zu einer ganz anderen Szene öffnen. Man weiß nie, was kommt. Das Schwarzbild ist nicht Schnitt, aber es ist auch nicht Montage. Es schließt und öffnet zugleich. Es ist ein Platzhalter. Es ist ein Atemholen. Es ist ein Aufmerken. Es ist ein Abwarten. In den ein, zwei, drei Sekunden des Schwarzbilds hält der Film inne, es ist, als spreche er - stumm - stets aufs Neue aus, dass er jetzt gleich ganz anders weitermachen, ja, dass er auch auf der Stelle aufhören könnte. Kurze Redepausen, die erst irritieren, aber man gewöhnt sich daran, an diesen Rhythmus, der jede neue Einstellung aus einem drohenden Nichts, aus einer schwarzen Reflexion auftauchen lässt. Bis zur letzten, auf die lange Schwarzbild und dann nichts mehr folgt.

Wasser

Peter Hutton verdiente sich das Geld für die Kunsthochschule durch Arbeit bei der Handelsmarine. Sein Vater war Seemann. Hutton wollte Maler werden und ist Filmemacher geworden. Das Wasser blieb sein Sujet. Study of a River von 1997 folgt dem Hudson in 27 unbewegten Einstellungen. Es ist Winter. Wir sind zu Schiff, zu Land, auf einer Brücke. Eis ist weiße Farbe im dunkelgrauen Wasser. Wasser ist in diesem Film bewegliche Farbe. Sprenkel und Strudel, Fließen, Treiben. Schwarzer Rumpf des Schiffs im weißen Eis. Schattierungen ins Helle und Dunkle. Später dann Auflösung noch dieser minimalen Figuration von flussdurchzogener Landschaft, von Vorder- und Hintergrund. Lichtgekräusel im Dunkeln, von schwarzen Schlieren durchzogen, ein lebendiges Allover, das kein Außen mehr kennt. Es gehen einem die Augen über und auch die Ohren und auch der Sinn in diesem Ineinander von Signal und Noise. Ein Rauschen ohne Geräusch.

Datum

Es ist den Bildern kaum anzusehen, wann sie entstanden sind. Nicht den Bildern als Bildern. Man kann in ihnen suchen. Sie enthalten Informationen, wie könnten sie nicht, aber auf die Informationen kommt es Hutton nicht an. Eher geht es ihm darum, alles, was Information ist, in den Schatten zu rücken und den Schatten der Nicht-Information dafür ins Bild. Dennoch, zum Beispiel New York. Zwar geht es auch hier, in dem einen Film aus einer Trilogie, der gezeigt wird, viel um Muster, Häuser mit zackigen dunklen Umrissen vor hellem Himmel, Blick auf spielende Kinder von fast direkt oben, Schatten, die einander auf dem Asphalt jagen, auf dem ein «Mother» in den Boden gekrakelt ist. Aber «Mother» ist ja kein Datum, alles andere als das. Der Goodyear-Ballon, dem der Film von der Häuserschlucht ins Freie folgt, an den Strand. Wörter werden an den Himmel gesprüht, Zeichen, die von Schwarzbild zu Schwarzbild kein Ganzes ergeben. Zwischen 1991 und 1993 entstand die Lodz Symphony. Von Ruttmann bleibt diese Stadtsinfonie Welten entfernt. Sie ist dem Abblätternden ergeben, der Leere der Straßen, verlorenen Fotografien. Dem Staub, dem Verfall, der Melancholie. Auch Melancholie hat kein Datum, wenngleich sie jedem Datum den Grund gibt: Sie zeigt Vergänglichkeit an.

Objekte

Viele Einstellungen sind fast Fotografien. Sie ähneln sich dem Fotografischen an. Sie lieben das Licht und den Schatten. Das Eis und das fließende, das glitzernde, das mähliche Wasser. Aber es gibt auch Leben, plötzliche Energie, kaum zu glauben, wie die Kamera bei einem Hahnenkampf auf dem Schiff Richtung Thailand in hektische Bewegung gerät. Als wollte sie mitmischen beim Kampf. Sie geht, selbst sehr lebendig, los auf die rasenden Hähne als  Objekte, die einander bekämpfen. Auch in Thailand dann: Die Straßen mit ihren Gefährten. Im Wald und im Zimmer Zeitrafferbilder, in denen Lichtwürfe Lichtwürfe jagen, aber auch Menschen als Schattenrisse im Hellen. Ganz ins Licht geht der Blick von einem kleinen Rudel von Kähnen am Ufer in den strahlenden Bildhintergrund. Man sieht nicht direkt, aber ahnt: Die Sonne, monochrom und erhaben.

Bewegung

Filme der Kontemplation, die stets unterwegs sind. Die Kamera selbst, so ruhig sie meist bleibt, vertraut sich Bewegungen an. Sie findet sie zur Erde, zu Luft und, natürlich, im Wasser. Im Wasser zuerst und zuletzt. Sie findet sie im Himmel und im Wald, im Strom und am Ufer. Sie findet sie in der Stadt auf der Straße und auch auf dem Dach: im Lodz-Film die Schornsteinfeger, die ihre Bürsten und Besen nach getaner Reinigungsarbeit am Kamin ausschlagen, was die Spuren an den Kaminen, die man zuvor sah, erklärt. Sie findet sie im Augenwinkel des Bildes rechts oben als Fahrt eines Zuges am Ufer. Sie findet sie als Mond oder Sonne in Wolken, sie findet sie durch den Nebel als kaum erkennbaren schwarzen Bagger in Titan's Goblet, dem Film, der sich im Titel auf ein rätselhaftes Gemälde des Hudson-River-Malers Thomas Cole bezieht. Eine Kelch-Welt in der Welt, ein Trinkgefäß in der Landschaft, ein See, aus dem Spuren weißer Farbe in die Tiefe abfließen. Ein Wind weht von rechts. Still und starr ruht hier nichts.

Doclisboa, 3. Tag

Ich habe gestern drei Filme gesehen und keiner davon versteht das Dokumentarische auch nur irgendwie ähnlich wie einer der andern. Ich bin nicht einmal sicher, ob einer davon überhaupt ein Dokumentarfilm war. Was immer das heißt.

Was immer das heißt: Louis Henderson, der mitteljunge Regisseur des mittellangen Films The Sea is History, ist vor Ort und führt im kleinen Saal des monströsen Culturgest-Gebäudes in seinen Film ein. Nicht viel Publikum da, eine junge Frau, die in einem alten Buch las, verlässt, kaum beginnt Henderson zu sprechen, gleich wieder das Kino, es ist ein phänomenaler Tag, sonnig, fast dreißig Grad, ich bin mittags im Bairro Alto gewesen, der Oberstadt in Lissabons Zentrum, es war ein sehr angenehmer Wind, der einem da den Schweiß von der Haut geweht hat. Dazu vom Mirador San Pedro de Alcantara ein Postkartenblick auf den Tejo in seiner meernahen Endlosigkeit, auf die Hügel ringsum, die geraden Linien der in der Tiefe liegenden Baixa, die freilich mittags zum Food Court mutiert, und auch Richtung Osten, wo etwas weiter landeinwärts das Culturgest liegt inmitten all der postmodernen Architektur, von der ich möglichst viele Exemplare auf Instagram festhalten muss.

The Sea is History erzählt von Haiti und der Dominikanischen Republik, der Entdeckung und  Eroberung durch Kolumbus, jener brutalen Landnahme und Ausbeutung also, die Europa Gold und andere Schätze brachte und so vielen Bewohnern Unterjochung und Tod. Er erzählt vom Beginn des Sklavenhandels, der noch viel mehr Schätze brachte und noch viel mehr Unterjochung und noch viel mehr Tod, aber andererseits erzählt er weniger davon, als dass er Stiche aus alten Büchern präsentiert und das titelgebende Gedicht von Derek Walcott rezitiert – das so beginnt:

Where are your monuments, your battles, martyrs?
Where is your tribal memory? Sirs,
in that grey vault. The sea. The sea
has locked them up. The sea is History.

– und später dann unter Wasser zu peitschend elektronischer Musik traumhaft schöne Korallen und einen großen Oktobpus und Schlangen und andere Tiere zeigt. Davor gab es Jazz, in seiner kurzen Einführung hat Henderson Coltrane zitiert. In den Unterwasserpassagen ist das ein Musikvideo, fast. Und sonst insgesamt ein Hybrid, eine Historiendoku, die Poesie und Geschichte ineinander schlingt und den Akzent synkopisch zwischen dem Dokumentarischen und dem Poetischen verschiebt.

A Road, das Debüt von Daichi Sugimoto ist ein ganz anderer Fall. Der Regisseur ist sehr jung, Anfang zwanzig. Er ist der Protagonist dieses Films, der eine Übung in seinem Filmstudium ist. Er spielt sich selbst. Oder ist er er selbst? Schwer zu sagen. Seine Mutter spielt und ist seine Mutter. Man sieht Filme aus seiner Jugend, einen, ganz zu Beginn, in dem er eine Eidechse fängt. Vom Vater ist die Rede, ihn sieht man nicht. Aus dem eigenen Leben, in dem noch wenig passiert ist, in dem überhaupt die ganze Zeit eher wenig passiert, formt Sugimoto den Film. Man sieht ihn mit Freunden, solchen von früher, solchen aus dem Studium. Sie fahren mit den Rädern ans Meer, einer kommt nicht mit, ein anderer lässt das Fahrrad irgendwo weit vor der Stadt mit den andern zurück.

Ich denke an Liu Jiayin, die ungefähr im selben Alter wie Sugimoto ihr Meisterwerk Oxhide drehte, einen Film, der ihr eigenes Leben und das ihrer Familie in die erstaunlichste Form gebracht hat. Lange, auf schlichteste Weise raffinierte Einstellungen, die sie und den Mutter und den Vater und die Katze in der Wohnung bei der Arbeit zeigen, sonst nichts. Die Dialoge sind geübt, nichts an dem Leben, das gezeigt wird, ist ohne Formung gelassen. Aber die Form transformiert Leben in Leben, sie gibt dem Leben, das in seiner ganzen Alltäglichkeit dargestellt wird, eine andere, eine neue, eine eigene Gültigkeit und Energie. (Und dann Oxhide II, Fortsetzung des Lebens beim Kochen in noch strengerer Form. Und so weiter, hat Liu Jiayin versprochen. Wir warten.)

Aber ich schwärme davon. Zurück nach Japan, zu diesem viel schwächeren Film. Nun ist das bei A Road keineswegs so, dass die Kamera einfach draufhält. Auch hier sind die Szenen deutlich «gespielt». Aber es mangelt an Form. Dieser Mangel hat seinen Charme, dem Charme, den das Unfertige hat. Und sehr unfertig ist es. Auf der Differenz zwischen Dokument und Inszenierung balanciert dieser Film nicht, sondern er bewegt sich auf ihr, zwar ganz selbstbewusst, mit einiger Tolpatschigkeit. Nun hat auch das Tolpatschige seinen Charme, aber er verliert sich ein wenig im Verlauf von neunzig Minuten. Am Ende werden wieder Eidechsen gefangen, zwischendurch, hier auch wieder, bekommt A Road etwas wie Injektionen von Jugendlichkeit, da schießen die Jungs auf den Rädern davon. Dass dazwischen viel Ödes liegt, ist für das Leben als solches zwar wahr. Aber diese Wahrheit in eine Wahrheit der Form zu transformieren, das gelingt Sugimoto noch nicht.

Rithy Panh, in Paris lebend, in Kambodscha geboren und aufgewachsen, ist ohne Frage ein Meister. Seine Heimat, die Vergangenheit, das Morden unter Pol Pot, lassen ihn nicht los. In seinem bisherigen Werk nicht, und sicher auch nicht in Zukunft. Er hat Mutter, Vater, Geschwister, die ganze Familie an die kommunistische Diktatur verloren. Das Blut, die unendliche Mengen von Blut an den Händen der Khmer Rouge, werden niemals aus der Geschichte des Landes (oder des Kommunismus) wegzuwischen sein. Und Rithy Panh ist immer weiter auf der Suche nach Darstellungen für das, was geschah. Sein eigenes Schicksal ist Teil dieser Geschichte, daraus, dass dies der Ausgangspunkt seiner Arbeiten ist, macht er kein Geheimnis.

Exil heißt der neueste Film, der in Cannes seine Premiere erlebte. Einerseits Konzentration: auf eine Stimme, eine Person, einen Raum. Die Stimme zitiert Texte. Manche davon stammen von Rithy Panh, andere von Dichtern und Denkern von Saint-Just bis Badiou. Die Stimme zitiert diese Texte in einem verführerischen Glissando, das freilich dazu verführt, mich jedenfalls, etwas müde, wie ich bin nach der Hitze des Tages, vom Sinn, den sie haben, wegzugleiten anderswohin. Ich halte mich dann wieder an dem einen oder anderen Satz fest, aber es zeigt sich, dass der Sinn auch dann gleitet, wenn man ihn festzuhalten versucht.  

Der Raum. Es ist immer derselbe. Aber er ist einem steten Gestaltwandel unterworfen. Manchmal ganz karg, manchmal schweben Wolken aus Watte darin oder der Mond, manchmal regnet es, die Künstlichkeit der Natur, die hier nachgestellt wird, steht dabei niemals in Frage. Der Mann in diesem Raum – nur selten ist der Raum leer – spielt nach, was Rithy Panh (und anderen, namenlos Bleibenden) auf der Flucht geschah, im Versteck. Von rechts nach links wälzt der Mann Steine Steine, sie kehren, wie es bei Sisyphos war,  an den Platz zurück, von dem er sie weggerollt hat, was hier, anders als bei Sisyphos, per Überblendung geschieht. Diese Überblendungen gibt es häufig, sie geben den Bildern eine ganz eigene fragile Materialität.

Der Mann röstet eine Ratte am Stecken, einen Käfer am Stock und verspeist sie. So wütet der Hunger ganz naturalistisch im künstlichsten Raum. So ist Exil ein hoch artifizieller Versuch, die Geschichte in eine Form zu bringen, die dokumentiert und erzählt, ohne in einem schlichten Sinn dokumentarisch zu sein. Dokumentarische Bilder im engeren Sinn spielt er dabei auch mehrfach ein. Sie sind projiziert auf die Pupillen des Manns, eingebrannt in seinen Gesichtssinn, sie spiegeln sich auf der Oberfläche des Wassers in der Schüssel, aus der der Mann trinkt.

Und die Musik. Durchgehend ist Musik. Eintönig. Schön. Der Kontrabass von Marc Marder. Zum Gleitenden, von Sinn und Verstand Davontragenden, das dem Film eignet, trägt diese Musik sehr viel bei. Sie ist das schwimmende Fundament, auf dem die Bilder, die Texte, die Erinnerungen ruhen. Sie ruhen und und sie vibrieren dabei. Ein Film, der noch die dokumentarischen Bilder, die er inkorporiert, als immer neu zu inkorporierende inszeniert. Und doch schlägt das artifizielle Arrangement wieder und wieder in ganz einfache Wahrheiten um. Im Text, im Raum, in der Musik. Es ergreift mich. Etwas an der Wahrheit, etwas an der Form, etwas an der Wahrheit der Form.

Doclisboa, 2. Tag

Eine Tochter, ein Sohn – ein Großvater, eine Großmutter. Beide sind 95. Honolulu, New York – Südafrika, Niederlande. Zwei sehr persönliche Filme. Die Regisseurin begleitet den Großvater, der noch allein lebt, seine Frau ist, auch im hohen Alter, vor wenigen Jahren gestorben, auch von ihr sieht man, spät, nachgeschoben, nachgeholt, noch Filmmaterial. 95 and 6 to go von Kimi Takesue ist ein ruhiger Film, konzentriert auf ein Haus, einen Mann, zwischen die häuslichen Szenen sind immer wieder die Bilder des Meers, der Klippen, der Landschaft von Honolulu gelegt. Auch Musik dann dazu. Das ist nicht aufdringlich, ein freundliches Luftholen hier und da, mehr braucht es nicht, denn auch die Szenen mit dem alten Mann sind nicht bedrückend.

Sein Vater war aus Japan in die USA eingewandert, es gibt eine japanische Community auf Hawaii, die – anders als japanische Immigranten vor allem an der Westküste der USA – während des Zweiten Weltkriegs nicht interniert worden war. Der Großvater und seine Tochter sind im Gespräch, sie als Stimme aus dem Off, er als Gegenstand der nie zu drängenden Neugier immer im On; sie sind im Gespräch über den Spielfilm, auf dessen Finanzierung sie hofft; auch über die verstorbene Frau, über die er freilich nicht viel Gutes sagen kann. Sie hat sich nicht für das Kino interessiert, sie schlief schon beim Dating mitten im Samurai-Film einfach ein, sie hat sich, sagt er, eigentlich für nichts interessiert. Trotzdem im Haus: ein Schrein für die Tote. Eine Gedenktafel in bewegten Bildern für den Großvater, mit dessen Beerdigung der Film endet: Das ist 95 and 6 to go.

Ein Film ganz anderen Kalibers: A Family Affair von Tom Fossaert. Wo fängt man an? Fast durchs ganze 20. Jahrhundert bewegt sich der Film. Das hat mit seinem Zentrum, seinem zentralen Faszinosum, der Protagonistin zu tun: Marianne Cillies, geborene Hertz. In Deutschland geboren, in Berlin aufgewachsen, als Tochter eines jüdischen Antisemiten, der vor Hitler in die Niederlande floh, reich war in Deutschland, arm in den Niederlanden neu anfing. Falls das alles stimmt. So erzählt Marianne ihre Geschichte. Sie war schön, sie war ein erfolgreiches Model, da waren viele Männer, eine ungewollte Schwangerschaft, ein ungewollter erster Sohn, ein zweiter – und beide schob sie ab in ein Kinderheim, da waren sie drei und vier Jahre alt. Sie nahm sie wieder zu sich zwei Jahre später, von Liebe, sagen die Kinder, war nichts mehr zu spüren. René ist psychisch krank, ein Messie, einer, der es mit allem auf der Welt zu genau nimmt, starr im Körper, empfindlich im Geist, allein, er hat nur den Bruder, beide jetzt (im Jetzt der Erzählgegenwart des Films) über siebzig. Und auch für Robbie, den jüngeren Bruder, ist vieles zerbrochen durch das Trauma, das ihm die Verstoßung durch die Mutter verursacht hat. Trauma, das ist sein Wort. Wie es scheint, hält er sich, sein Leben, seine Existenz etwas besser zusammen, es gibt ein Band für die Trümmer, in die Marianne sein Leben gelegt hat. Es gibt aber auch die schiere Unvernunft, mit der er sich wider besseres Wissen (wider ganz genau und präzise und auch in Worte zu fassendes besseres Wissen) nach der Liebe der Mutter sehnt wie nach nichts Gutem.

Der Film fängt anders an. Mit dem Ende erst, Marianne kann nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen. Dieser Kreis wird sich schließen. Dazwischen aber ist sie das blühende Leben. Mitte neunzig, beweglich und schnell, ihre Attraktivität ist noch sichtbar, sie ist, Schönheitsoperationen sicherlich inklusive, auch sehr darum bemüht: Großer Sinn für Mode, sie kann die Kleider tragen, die nicht die einer alten Frau sind, und sie hat davon reichlich. Marianne ist, keine Frage, das Zentrum, aber der Film hat ein anderes Ich. Der, der erzählt, der, der die Kamera führt, der, der den Film gemacht hat, der, der meist nicht im Bild, aber immer als Subjekt anwesend ist, ist der Enkel: der Filmemacher Tom Fossaert. Er hat einen Anruf der Großmutter aus Südafrika bekommen, er soll sie auf einer letzten Reise zur Familie in den Niederlanden begleiten. Er kommt wie gerufen. Sie ist für ihn eine beinahe Fremde, die Frau in Südafrika. Einmal, in einer der nicht wirklich begreiflichen, nicht wirklich fasslichen Episoden des Films, also des Lebens dieser Familie, wird erzählt, wie der Vater auf den bloßen Ruf der Mutter seine Existenz in den Niederlanden aufgibt, mit Sack und Pack und Frau und drei Kindern nach Südafrika zieht. Was ihm die Mutter versprach (einen Job in ihrer Modefirma), löst sich in Luft auf. Wie sie selbst. Er bleibt dennoch, einige Jahre. Manches an den Geschichten, die Fossaert erzählt, bleibt in den Details ziemlich vage. Scharf umrissen aber: Der Vater tut für sie alles; für sie, die für ihn nie etwas tat.

Sie ist die geborene Manipulatorin, sagt der Vater, sie spielt Schach mit den Menschen und wenn ihr danach ist, fegt sie die Figur auch vom Brett. Dass sie ihn mehrfach vom Brett gefegt hat, muss er nicht sagen. Er schlägt die Hände vors Gesicht. Später, wenn sie wirklich zu Besuch kommt, wird sie René nichts zu sagen haben, sie plappert von ihrem Anwesen mit dem großen Garten. Aber Robbie, der andere Sohn, er scheint glücklich, auch sie scheint glücklich, die große Manipulatorin hat ihn wieder um den Finger gewickelt, vielleicht. Wie sie auch die Zuschauerin und den Zuschauer fast um den Finger wickelt, manchmal; und wie sie Tom um den Finger wickelt, den Enkel, das beobachtende Subjekt, durch das unsere Blicke und Wünsche, unser eigenes Liebesbegehren (das Begehren danach, diese faszinierende und monströse Person lieben zu können) hindurchgehen.

Sie flirtet mit ihm, sie flirtet mit uns. Aber dann ist es mehr als ein Flirt. Es ist Liebe. Sie sagt es, so deutlich, und es ist keine Metapher für großmütterliche Gefühle der zarten und harmlosen Art. Sie liebt Tom, den Enkel, sie will, dass er ihr Liebhaber wird. Als sie am Ende das Foto sieht, auf dem alle drauf sind (außer René), die ganze Familie, ist sie empört, auch Toms Freundin darauf zu sehen. Man hält den Atem an. Sie will mit ihm schlafen. Sie kann das nicht ernst meinen. Sie ist verrückt. Und ja, natürlich, auf einer Ebene ist sie verrückt. Sie hat sich ihr Leben immer aus Realität und Wahn zusammengebaut; eine Narzisstin, wenn es je eine gab. Man will aber nicht glauben, dass sie verrückt ist. Auf so vielen Ebenen ist sie es nicht. Sie hat ihr Leben gemeistert, dabei aber andere Leben beschädigt oder zerstört. Sie wandelt majestätisch durch die Trümmer der Familie und wenn es sein muss, kann sie ihre eigene Pathologie auch erklären: Das ist das Geständnis, auf das Tom hinauswill, aber noch dieses Geständnis ist vergiftet. Womöglich nur ein Zug, ein Schachzug, in ihrem Werben um Liebe. Sie erzählt vom Vater, der nur ihr Äußeres attraktiv fand, sie aber nicht liebte, sie ablehnte, sie heruntermachte, ihr Selbstwertgefühl zerstört hat. Das mag stimmen, aber umso perfider: strategischer Einsatz der tiefen Verletzung, die sie für ihr Leben geprägt hat.

So könnte man das durchaus erklären: Eine Person, die bewusst und unbewusst immer darum gekämpft hat, alles dafür gegeben hat, sich selbst lieben zu können, die alle Energien mobilisiert hat, um die Liebe der Anderen auf sich zu lenken. Eine Liebe, die aber im Anderen immer nur sich selbst liebt, ein Selbst, ein Ich, das sich anders nicht lieben kann als in den Blicken in die Spiegel, als die sie die anderen sieht. Kein Wunder, dass sie René nicht erträgt, der verrückt ist, weil er nichts verkennen kann, der in der nackten Wahrheit verharrt, den die Melancholie der Vergänglichkeit zu Tränen rührt, der alles buchstäblich nimmt. Ihm fehlt der Sinn für das Imaginäre, das den Kern des Liebesbegehrens ausmacht. Er spiegelt die reine Wahrheit zurück. Zu seinem Bruder, fürs Leben traumatisiert wie er selbst, hat er ein gutes Verhältnis. Niemand aber auf der Welt könnte ihm fremder sein als diese Mutter, die kein Wort hat und kein Gefühl, das zum Nennwert zu nehmen wäre: Mutter und Sohn, sie müssen einander Aliens bleiben.

***

Die Kritiken zu Sergej Loznitsas Austerlitz, die meisten sind hymnisch, stellen alle fest, wie einfach das Dispositiv des Films ist. Die Kamera ist Einstellung für Einstellung starr, sie blickt auf Besucher des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Manche Einstellungen währen einige Minuten, andere sind kürzer; der Rahmen ist mal enger, mal weiter gesetzt; es gibt einen Sinn für Komposition, aber die Komposition bleibt im Dienst des Sehens und Zeigens der Menschen auf dem Gelände, vor den Gebäuden, im Bild. Eine Entscheidung: Der Film ist schwarz-weiß. Nicht untypisch für Loznitsa (aber Maidan war in Farbe). Hier fragt sich jedoch, was daraus folgt. Oder ob etwas anderes daraus folgt als eine Distanzierung, eine Verschiebung der Realität ins Abstrakte, der Gegenwart der Aufzeichnung in etwas dieser selben Zeit nicht ganz Angehörendes, und sei es nur um einen einzigen Schritt.

Welchen Sinn hätte eine solche Verschiebung? Wo es doch um die Wirklichkeit geht. Die Wirklichkeit eines Konzentrationslagertourismus, der ausweislich des Gezeigten profaner nicht sein könnte. Das ist es, was man sieht: Gruppen von Menschen, die meisten recht jung, die durch diesen Ort schlimmster Verbrechen schlendern, als wäre es irgendein Ort. Die sich die Erklärungen der Guides anhören, die wie Guides an irgendeinem Ort klingen, wenngleich man über manche Eigenwilligkeit der Erklärungen staunt, und die sich dabei langweilen, albern sind, die fotografieren an allen passenden und unpassenden Stellen, die Selfies machen, auch sehr geschmacklose sind darunter. Was man sieht bei der Produktion dieser Selfies, ist ein selbstbewusstes Sich-an-den-Ort-Setzen, ein Ich-bin-hier-Gewesen als Versicherung an die Mitwelt, über das «Hier» wird nicht reflektiert, es geht, denke ich, wenn ich das sehe, vor allem um ein Präsenz-Zeichen, das vermutlich viel weniger laut «Ich» sagt als einfach nur «Hier» und «Jetzt».

Das reine «Jetzt», das Here-and-Now des Selfie, steht mit diesem Ort, einem Ort, der das Eingedenken des Vergangenen in strengster Weise verlangt, in einem gewaltigen Konflikt. Um diesen Konflikt, lässt sich vermuten, ist es Loznitsa in erster Linie zu tun. Das KZ ist ein Ort, der sich nicht so schlicht aneignen lässt. Wer sich in ihm ins Bild bannt, fasst nichts davon auf. Das Selfie als Fixierung des Hier-und-Jetzt versperrt womöglich sogar den Weg zur Imagination, die es für das Gedenken als Heraufrufen und Herbeirufen des Vergangenen braucht. Das Selfie ist ein Bild, das nicht reflektiert, jedenfalls nicht, wenn Reflexion eine Zäsur in der Wirklichkeit ist, ein Schritt zurück, eine Form des Abstands, die etwas in einen Rahmen fasst, um es zu bedenken. Dagegen ist an anderen Orten nicht viel  zu sagen. Im Hier und Jetzt des KZ aber doch.

Austerlitz macht schon im Titel einen beachtlichen Schritt, indem Loznitsa die Sache nicht beim Namen nennt, sondern W.G. Sebalds schon zum Klassiker avanciertes Buch zitiert. (Über Sebalds ganz und gar nicht selfie-haftes Verhältnis zur Fotografie sind längst Dissertationen geschrieben. Das könnte man natürlich weiterverfolgen.) Man darf annehmen, dass er seinen Film als Reflexion versteht, genau in dem Sinn: Er setzt das Hier und Jetzt in einen Rahmen, der es zu beobachten und zu bedenken erlaubt. Ich frage mich dabei aber manches. Zum Beispiel, was ich von dem ausgestellten abstrahierenden Desengagement halte, das mit der Distanzierung ins Schwarz-Weiße beginnt, das in der raffiniert mal zum Massengeräuschdurcheinander raufgepegelten, mal runtergedimmten Tonspur, aus der dann Guide-Erklärungen deutlich herauspräpariert werden, seine Fortsetzung findet. Ich frage mich auch, warum er die Leute kein bisschen befragt, sondern in seinen klug gerahmten Bildern immer auch ausstellt. Dieser Blick ist nicht freundlich, schon gar nicht zärtlich, er ist nicht brutal wie bei Seidl, aber er hat in seiner geradezu aristokratischen Berührungsverweigerung etwas, das mir ungut vorkommt. Noch dazu reagiert kein einziger Mensch auf die Anwesenheit der Kamera. War sie versteckt? Und wenn ja: Hat er die Leute hinterher gefragt, ob sie so auftreten wollen, in diesen Bildern, die sie durchaus gezielt entsubjektivieren, zu einer Art Ameisen machen?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit ihnen gesprochen hat. Das ist ein Film, der sich jeder direkten Adressierung verweigert. Fürs Nachfragen, was sich die Menschen in ihren manchmal geschmacklosen Posen, in ihrem unreflektierten Hier-und-Jetzt-Dokumentieren so denken, ist sich Loznitsa zu fein. Auch darum können einem die neunzig Minuten des Films, wenn man in das, was man sieht, keine Empörung zu investieren bereit ist, ganz schön öde werden. Man sieht da Menschen, die halt tun, was sie tun. Man sieht Menschen, die in ihrer ganzen erstaunlichen Gedankenlosigkeit aber auch etwas Freies haben. Das sind Menschen, die sind das Gegenteil des autoritären Charakters, der sich von anderen sagen lässt, was er zu tun oder zu lassen hat. Sie tun, was sie wollen, sie profanieren diesen Ort und lassen sich nicht sagen, dass er etwas Heiliges sei. Es weht sie kein Schauder an. Sie tragen T-Shirts, die nach Sachsenhausen nicht passen. Sie bewegen ihre Körper in gelassener Art. Sie gehorchen keinem Ruf nach Gedenken. Sie haben diesen Ruf nicht mal gehört.

Das ist für Leute wie mich durchaus erst mal ein Schock. Aber ist es wirklich schlimm? Zeugt es nicht auch davon, wie fern ihnen allen das Unfassbare ist, wie noch einmal viel unfassbarer als es die einschlägigen Topoi der Undarstellbarkeit wollen? Nämlich ganz banal ziemlich egal. Die Besucher bewegen sich durch die Zeugnisse der Vergangenheit wie durch die Hinterlassenschaften einer sehr fremden Zivilisation. Ihr Hier und Jetzt hat mit dieser Vergangenheit ganz buchstäblich nichts zu tun. Aber vielleicht ist das schon zu viel gesagt und gedeutet. Es kann auch einfach so sein, dass diese Sorte eines verordneten Massentourismus, und sei es ins KZ, das Desinteresse, das man sieht, mitproduziert. Und so ganz traue ich Loznitsa ohnehin nicht. Er hat das Ameisenhafte gewollt. Seine Bild, Einstellung, Ton gewordene Reflexion legt es auf diesen Effekt an. Gedankenlosigkeit ist ein Problem. Aber die bewusste Zurichtung, die sich den Anschein der Neutralität gibt, ist auch eins.

Doclisboa, 1. Tag

Von guter Architektur hat man in Lissabon einen eigenwilligen Begriff. Die Postmoderne hat im Stadtbild – nicht im Zentrum, aber weit davon auch wieder nicht – Verheerungen von fast immer faszinierender Zweit- oder Drittklassigkeit hinterlassen. Was rund um den gar nicht so kleinen Campo Pequeno versammelt ist, muss jedoch Puristen aller Couleur den Knockout versetzen. In der Mitte die einstige Stierkampfarena, 1892 in einem arabisiert-kolossealen Stil erbaut (neo-Mudéjar, sagt die Wikipedia), 2006 renoviert und heute neben Arena auch Konzertort und Shopping-Center (im Untergeschoss). Weiß Gott nicht dahinter verstecken muss sich der Bau, der heute Culturgest heißt und neben der Caixa Geral de Despositos auch einen – eben von dieser Bank gesponserten – Kulturveranstaltungsort beherbergt. Das Gebäude ist riesig, vorne dran geblendete monströse, betonfokussierte Orgelpfeifenarchitektur ohne (außerportugiesischen) Sinn für Eleganz und Proportion, am ehesten noch dem römischen Vittorio-Emmanuele-Palast vergleichbar, der im Volksmund noch zu freundlich Schreibmaschine genannt wird.

Geht man hinein ins Culturgest-Gebäude, gelangt man in eine marmorplüschige Höhle und aus der Gegenwart in eine nicht näher definierbare Zeit von einer gewissen Siebzigerjahrehaftigkeit. Das Ding ist so in den Hügel gebaut, dass man sich zu ebener Erde am Eingang im dritten Untergeschoss befindet. Ins Große Auditorium gelangt man, Stockwerk minus eins, darum auf der Treppe nach oben. Das ist verwirrend. Weit vorgedrungen bin ich noch nicht, war nur gestern kurz zu einem ersten Besuch da, für eine Doppelvorstellung mit zwei Filmen, die beide sehenswert waren, jedoch ist, liest man im Netz über Culturgest nach, von labyrinthischen und sich verzweigenden Gängen die Rede. Das passt.

Das passt, weil es in Bertrand Bonellos 24-Minüter Sarah Winchester nicht zuerst, aber doch auch nicht zuletzt um das sagenumwobene Haus geht, das die Titelheldin sich, vom Wahn schlimm, aber produktiv umnachtet, in San José bauen und umbauen ließ, mit 160 Zimmern und labyrinthischen Fluren, Treppen, die im Nirgendwo enden, Türen, die nirgends hin führen, Zimmern, die an Zimmer gebaut sind, die an Zimmer gebaut sind, sieben Stockwerke hoch einst, heute noch vier, aber mirakulöserweise hat das Gebäude die schlimmsten kalifornischen Erdbeben im Kern heil überstanden. (Oder nicht so mirakulöserweise: Es ist auf seinem Fundament schwimmend erbaut, was Bewegung der Teile gegeneinander erlaubt. Michael Sicinski übrigens hat in seinem Text über Guy Maddins The Forbidden Room in Cargo #29 die Bauweise dieses Films mit der Bauweise des Winchester Mystery House verglichen. Nicht nur lebten, wie Sarah Winchester glaubte, in ihrem Haus Gespenster. Es ist selbst ein gespenstisches Haus, ein Wiedergänger und Wiederkehrer in Texten und Filmen und Texten zu Filmen.)

Es geht in Bonellos Film zunächst um Winchesters Gesamtbiografie. Sie war die Frau, nach dessen Tuberkulosetod dann die Witwe des Waffenbauers Simon Winchester, dessen Waffen ein riesiges Heer von amerikanischen Bürgerkriegstoten ins Jenseits geschickt haben, und hat von ihm ein enormes Vermögen geerbt. So konnte sie bauen und bauen und bauen. Die Tochter Annie verlor sie ganz früh, sie war an Marasmus erkrankt, doch kam Sarah Winchester nie von ihr los, pathologische Trauer, Unmöglichkeit eines Abschieds, ein Wahn, der keine Grenzen kannte, und des Vermögens wegen nicht kennen musste, die Tochter ging um, nicht nur in Träumen, sondern in Totengesprächen, die Sarah Winchester durch ein Medium mit Tochter und Ehemann führte. Daraus macht Bonello im Auftrag der Pariser Oper eine Oper, die keine ist. «Ghost Opera» steht darüber oder darunter. Der Film ist eine Auftragsarbeit. Er fingiert eine Auftragsoper, zu deren Vollendung es nicht kommt.

Man kann aber sagen, was man sieht, was man hört. Eine Tänzerin auf der Bühne im riesigen Auditorium (das dem riesigen Auditorium im Culturgest durchaus gleicht). Das Auditorium ist leer, nur ein Mann, mit Brille, es ist oder spielt ihn der famose Reda Kateb, er steht an einem Mac und einem Mischpult. Man hört Bonello-Musik. Bonello-Musik ist elektronisch, schon irgendwie tanzbar, auf etwas tapsigen Füßen synthie-reminiszent, ich kenne sie – als Genre: Bonello-Musik – schon aus seinem jüngsten Spielfilm Nocturama, über den ich gleich noch was sage. Die Tänzerin probt, Reda Kateb unterbricht, sie sprechen über ihre Choreografie, die aus Mustern des traditionellen Balletts (die Tänzerin trägt Tutu) etwas Moderneres, Zuckendes, zu Boden Stürzendes macht. Dazu sind in Texttafeln und in Zeichnungen auch Daten und Fakten zum Leben Sarah Winchesters eingeblendet. Es gibt außerdem, in einem anderen Raum, der ohne Verbindung mit dem Auditorium ist, ohne eine andere Verbindung, genauer gesagt, als dem Schnitt, es gibt in diesem anderen Raum, der erst leer ist und sich dann füllt, einen Chor, der neutönerisch zu sparsamer Klavierbegleitung ein Lied singt, dessen Refrain «Sarah Winchest» lautet. Man sieht den Chor und man hört ihn. Man sieht die Tänzerin und Reda Kateb. Man hört und sieht diese und jene Musik. Die Kamera (von Irina Lubtchansky) folgt sehr beweglich der Tänzerin auf der Bühne, sie tastet aber auch, eher starr, das Auditorium ab. Eine Auftragsarbeit, aber eine, bei der sich Bonello die Oper und ihre Bühne als Freiraum für seine eigene dokumentarisch grundierte Fantasiearbeit klug angeeignet hat. Ich komme dann, wie gesagt, noch zu Nocturama, zunächst aber der andere Film.

Er stammt vom portugiesischen Regisseur André Gil Mata, der auch anwesend ist und sehr stockend ein paar Sätze, die ich sowieso nicht verstehe, vor sich hin brummt. Aber egal, der Film, er heißt How I Fell in Love With Eva Ras, ist sehr interessant. Entstanden mit Unterstützung, wie der Abspann verrät, von Bela Tarrs Film Factory. (Mehr dazu kann man wiederum in Jonathan Rosenbaums Text in Cargo #19 nachlesen.) Alles spielt in Sarajevo einem fast klaustrophobischen Raum. Darin bewegt sich die etwa siebzigjährige Sena. Sie isst, trinkt, alles in ziemlichem Dämmerlicht, dann sieht man sie beim Putzen eines vorsintflutlich anmutenden Filmprojektors. Und da ist noch ein zweiter. Aber das ist kein Museum. Das Ganze ist nicht ihre Wohnung, sondern der Projektorraum eines Kinos. Und der Projektor lebt! Sie führt hier 35-mm-Filme vor, mehrere am Tag, sie betreibt ein Kino und Mata montiert die tristen Alltagsszenen aus dem Leben von Sena gegen Ausschnitte aus den Filmen, die sie vorführt, jugoslawische Filme in Farbe und in Schwarz-Weiß, alles, was man sieht, ist grandios, nichts davon kenne ich. Sehr bewusst montiert Mata das äußerst banale Leben gegen den romantischen Überschwang der Filme, in denen es um die Liebe geht und um Verzicht und in einem mit verblüffend zotiger Offenheit um Sex und Sozialismus und wie beides niemals im Widerspruch zueinander stehen darf. Zu Sena kommt nur ein Mann, der bringt die Kasse aus dem Kino vorbei und redet immer wieder von einem Problem, über das er nicht reden kann. Ein anderer Mann macht einen etwas lebendigeren Eindruck, ist viel im Kino zu Besuch, schleppt Freunde von anderswo mit, die dann anderswo von diesem letzten 35-mm-Kino in Sarajewo erzählen. Ich male mir aus, dass auch André Gil Mata so vielleicht auf das Kino stieß und sich also in die Schauspielerin Eva Ras (in Deutschland kennt man sie aus ein paar Karl-May-Verfilmungen) verliebte, die, denke ich, in den Filmen, die man in Ausschnitten sieht, mitspielt. Um nicht nur zu sagen, was man sieht, sondern auch, was man hört: Fast die ganze Zeit untermalt das Rattern der durchlaufenden Filme die Bilder vom Tag, der für Sena ein Alltag ist, ein Tag wie viele davor, ein Tag mit dem Kino, mit den Bildern, dem Rattern, eines Alltags, der sicher nicht mehr lange so geht.

Nocturama, der nicht in Lissabon läuft, schon weil er kein Dokumentar-, sondern ein Spielfilm ist, habe ich kürzlich in Brüssel ganz regulär im Kino gesehen. Stark sind aber auch hier die dokumentarischen Züge, wie es in Sarah Winchester  einen doppelten quasi-fiktionalen Unterstrom gibt: die Ghost Opera bleibt ja Fiktion. Oder anders, für Nocturama: Schroff stehen die schrille Fiktion und die hinreißende Banalität der Gesichter und Körper, der Bewegung der Figuren, ihr Tun und ihr Sein gegeneinander. Die Fiktion: Eine Gruppe vor allem junger Leute, Männer und Frauen oder Mädchen und Jungs um die zwanzig, tut sich zusammen zur Revolution. Sie haben eine Kette von Anschlägen geplant, auf öffentliche Gebäude, Personen, ein Denkmal. Lange folgt die Kamera ihnen bei der Ausführung, aber ohne Anzeige einer Teleologie. Rückblenden gibt es auch, die sich zwischen das Gegenwärtige als von diesem kaum Unterscheidbares schieben. Nocturama ist Erkundung des Stadtraums, Haften an den jungen Menschen, die noch keine Stars sind, noch wenig Erkennungswert haben fürs Kino, ist ein Blick auf zeitgenössische Gesten der Körper und der Worte, die etwas Abgeschautes haben, denn eine Revolution macht man ja nicht aus dem Nichts, auch die schaut man sich ab, Revolte haben diese jungen Menschen im Kino gelernt.

Dann aber macht Nocturama einen Schnitt. Menschen sind tot, Gebäude sind in die Luft geflogen. Die Revolutionärinnen und Revolutionäre ziehen sich in ein Kaufhaus zurück. Ein Gebäude, das sich nach außen abschließt, nur auf Bildschirmen kann man dann sehen, was draußen passiert. Aber drinnen, in einem Drinnen aus Fluren, inszenierten Shopping-Räumen und Rolltreppen, aus Konsumgegenständen noch und noch, in diesem Drinnen verbringen die Revolutionäre nun diese Nacht. Eine Nacht wie im Traum. Sie eignen sich an, was sie finden, sie rasen mit dem Gefährt aus der Spielzeugabteilung durch die Einkaufswelt. Sie sind nicht Fremde, sie kennen sich aus mit diesen Zeichen und Dingen, seltsame neue Kinder von Marx und Coca-Cola sind das in diesem künstlichen Raum ohne Fenster, in den Bonello sie sperrt und in dem sie sich dann bewegen, als wäre er das Zuhause, das er als verdichteter Konsumraum schließlich auch ist. Erst recht sind sie jetzt ohne Ziel, politische Phrasen etwa hört man gar nicht von ihnen, sie sind wortlos dagegen, sie sind Körper, die zerfallen: in mörderische Tat und hedonistischen Rückzug und Genuss der Performance ihrer selbst oder auch eines Anderen ihres Selbst. Sie probieren Kleider an und setzen sich in Szene, sie begehen ihre Verbrechen, als könne man auch sie anprobieren. Bonello gibt einem als Zuschauer wenig vor zur Deutung der Bewegungen, der Aneignungen und Abstoßungen, die er zeigt. Die Intelligenz des Films liegt ganz im Vordiskursiven. An seiner Oberfläche ist er schön, aber sagen tut er fast nichts. Man muss sich ganz aufs Strömen und Mitströmen durch seine Räume, man muss sich aufs Genießen der Moves, das geschmeidige In-der-Welt-nicht-ganz-Zuhause-Sein dieser Körper einlassen, die einen Weg suchen, sich eine Welt zu schaffen, die ihnen passt. (Oder vielleicht sind sie zu sehr zuhause in dieser Welt, darum die Geschmeidigkeit – und stattdessen suchen sie nach Möglichkeiten, sich diese Geschmeidigkeit abzutrainieren. Ein Bruch muss sein, ein Schnitt, eine Ungelenkheit muss über die Welt kommen, die viel zu gelenkig geworden ist.)

Muss man sagen, wie das ausgeht? Muss man wissen, wie Bertrand Bonello zu alledem steht? Nein, muss man nicht. Es ist auch gar nicht so wichtig. Man sollte Nocturama nicht vom Ende, sondern von seinen Augenblicken und Momenten her denken. Nicht zu vergessen: die Bonello-Musik. Und noch ganz andere Musik, der sich der Film seinerseits anfallsweise ganz überlässt und der er zutraut, etwas zu sagen, das er anders nicht sagen kann und nicht sagen will.