dok leipzig 2016

8. November 2016

DOK Leipzig 2016 Notizen

Von Stefanie Diekmann

Cinema Futures (R: Michael Palm; A 2016)

Der Film über die Zukunft beginnt im Museum. Vitrinen, Schaukästen; Fossilien, Ammoniten, Dinosaurier-Skelette; bald auch ein versteinerter Fußabdruck als Memo der indexikalischen Bildlichkeit. «Ich glaube, wir befinden uns gerade im Übergang vom Filmarchiv zum Filmmuseum», wird später ein Leiter jener Abteilung der Library of Congress sagen, in der Filmrollen restauriert und konserviert werden. Aber wenn mit der Bedeutung dieser Bestände eines Tages auch das Archiv verschwinden wird, das um ihre Erhaltung bemüht ist, hat es hier noch einmal seinen großen Auftritt in Gestalt von Archivwerkstätten und -korridoren, Archivtüren, -regalen, -systemen, archivierten Apparaturen und archivierten Filmrollen in runden Metalldosen, die noch viel besser aussehen, wenn man sie in einem langen Traveling in gleicher Höhe gestapelt abfilmt.

Von der Zukunft des Kinos interessiert hier nur die Zukunft des Analogen, das vielleicht keine hat, in Cinema Futures aber umso entschiedener gegen den Einbruch des Digitalen gesichert wird, konservatorisch, diskursiv, als Material mit Eigengesetzlichkeit und einzigartigen Speicherqualitäten. («This film is from 1905, and it is still projectable.») Über Material und Qualitäten sprechen die Experten, ein ganzes Defilée der Filmregisseure, -künstlerinnen, -kuratoren, -theoretiker: viel Celebrity, als hätte man irgendwann nicht mehr gewusst, wen man wieder ausladen könnte, oder als hätte die Sache des Analogen sehr viel Fürsprache nötig. Die Experten ihrerseits, meist Männer eines gewissen Alters und einer gewissen Statur, sind mit jener beflissenen Aufmerksamkeit in Szene gesetzt, die ihnen andernorts nicht mehr unbedingt entgegen gebracht wird.

Dass ein Film selbst musealisierend wirken kann: Cinema Futures führt es in 120 Minuten vor, ohne mit dieser Absicht konzipiert zu sein.

 

15 Zimmer (R: Silke Schissler; D 2016)

15 Zimmer, in allen wird gestorben, was erst spät explizit gemacht wird und zugleich von der ersten Minute an impliziert ist. Das Licht ist ein wenig fahl, die Auslegeware mittelblau, die Farbpalette der Decken und Tassen sehr bunt, der Ton sachlich und ziemlich freundlich, und dass ein Tag ohne Kaffee und Zigarettenpausen irgendwie nicht richtig rund ist, wird hier von niemandem in Frage gestellt.

Im Gang steht der Staubsauger; in den Zimmern wird viel mit Reinigungsmitteln und Fotos hantiert und sehr wenig mit Tabletten, Spritzen, Schläuchen, vielleicht weil Krankheit, wo nichts mehr gegen sie ausgerichtet werden kann, auch nicht mehr mit Requisiten und Gesten markiert werden muss. Stattdessen geht es um das Leben als vie materielle. Klappbetten werden transportiert und Deckenfenster abgedichtet; man schiebt Tassen hin und her, wischt Telefonhörer ab, manchmal auch einen Türrahmen; und wie viele Personen außer den Haushaltskräften noch mit den 15 Zimmern befasst sind, ist allenfalls in den Aufnahmen aus den morgendlichen Besprechungen zur Übergabe erahnbar.

Sterben als Alltag ist der halbe Satz, den man über 15 Zimmer nicht schreiben will, weil dieser Film auf der einen Seite nichts anderes zeigt und erzählt und auf der anderen sehr genau darum weiß, wie viel Mühe und Sorgfalt die Fortsetzung dieses Alltag erfordert. Im Hospiz wird kein Aufhebens darum gemacht, also macht der Film über das Hospiz auch keines: Was dabei heraus kommt, ist einer der klügsten Beiträge, die DOK Leipzig in diesem Jahr im Programm hat.

 

La vie active (R: Martin Rit, Mariette Désert, F 2016)

Sie heißen Filip, Marlon,  Steve, Jonathan. Sie sind 14 oder 15, also in dem Alter, in dem alles eine Zumutung ist, sie selbst und die Kommunikation mit ihnen inklusive; und bis Ende des Schuljahres, das zu Beginn des Films bereits kurz bevor steht, werden sie eine Ansage dazu machen müssen, welchen Beruf sie wählen und für welche Ausbildung sie sich entscheiden wollen.

So, wie es unredlich wäre, über den Film 15 Zimmer zu schreiben, dass er vom Ende handelt, da es in ihm vielmehr darum geht, dem Ende eine Dauer (Routinen, Abläufe, ein 9 to 5, eine Kaffestunde) zu geben, wäre es nicht redlich zu sagen, La vie active handelte von einem Anfang, weil die Schwere in diesem sehr lichten Beitrag damit zu tun hat, dass er endgültige Entscheidungen in den Blick rückt und mit den Entscheidungen die Wahlmöglichkeiten, die manchmal nur so aussehen, als wären sie welche, weil das französische Bildungssystem für die, die ihm nicht genügen, eine sehr limitierte Anzahl von Perspektiven bereit hält.

Maurer oder Maler. Bäcker, wenn die Noten besser werden, Mechaniker, wenn sie wirklich gut sind; vielleicht eine Fachoberschule, für einen oder zwei des Jahrgangs, in dem manche wie Kinder aussehen, andere wie junge Männer und alle so, als hätten sie doch  eine Ahnung davon, wie viele Wege ihnen verschlossen bleiben werden. Das alles vor der umwerfenden Bergkulisse des Département Rhônes-Alpes, die indes nur ab und an ins Bild kommt. Um daran zu erinnern, dass die Welt sehr groß erscheinen kann. Um daran zu erinnern, dass sie für viele sehr klein bleibt.

 

Moschee.DE  (R: Mina Salehpour; Mihal Honnens, D 2016)

In Berlin-Heinersdorf haben sie gegen den Bau einer Moschee protestiert. 2006, was die entsprechenden Protokolle und Transkripte zehn Jahre später, nach Paris, nach Brüssel, nach Nizza, im dritten Herbst der Pegida, beinahe als historische Dokumente erscheinen lässt. Der Ton, möchte man sich einbilden, sei noch ein anderer gewesen, die Worte noch mit etwas mehr Vorsicht gewählt. Mit Vertretern der Presse haben sie alle gesprochen, miteinander schon damals eher nicht, wenngleich sie es am Anfang vorhatten und bis zum Schluss niemand etwas gegen den Imam sagen will.

Die Aussagen, die Kolja Mensing und Robert Thalheim damals protokolliert haben, sind in dem Film von Mina Salehpour und Mihal Honnens zu einem Skript und zu Figuren verdichtet. Es treten auf: der Konvertit, der Pfarrer, der Imam, der Sprecher der Gegeninitiative sowie die Sprecherin der Initiative, die gegen die Gegeninitiative gegründet worden ist. Alle hart am Rande der Karikatur, alle nicht zum Liebhaben, was teils an den Figuren, teils an den Schauspielern liegt, die in Moschee.De, wie in so vielen Fällen der Inszenierung dokumentarischen Materials, nicht auf Distanz zu den Texten und Figuren gehalten werden können. Also wird gespielt: der Zorn des Pfarrers, die Frustration des Wutbürgers, die bornierte Rechtschaffenheit der Zugezogenen, die Ambivalenz, die zu gerne mit Unterbrechungen der eigenen Rede und mit einem Blick zur Seite markiert wird.

Ästhetisch ist Moschee.De ambitionierter als die meisten Filme des Deutschen Wettbewerbs. Statement und Sprachlabor (wie einer der sehr pointierten Zwischentitel lautet), Podium und Wiederholung, freigestellte Sprecher vor weißer Wand, als Material das, was eben so geredet wird, und was, wie die kluge Mina Salehpour während des Q&A an einer Stelle anmerkt, immer schon bekannt scheint und deshalb von den Orginalstimmen abgelöst werden muss, um wieder als Rede betrachtet werden zu können. Das war die Idee. Dann kamen die Schauspieler. Und denen (das hat jetzt nicht Salehpour gesagt) kann man einen Text vielleicht nur dann anvertrauen, wenn sie Manfred Zapatka heißen und ihnen die Figuren so fern stehen wie im Himmler Projekt oder in den Hamburger Lektionen.

 

Une jeune fille de 90 ans (R: Valéria Bruni Tedeschi & Yann Coridian; F 2016)

Auf jedem Festival gibt es mindestens einen Dokumentarfilm, der für einen Spielfilm gehalten werden könnte. 2016 ist dieser Film für DOK Leipzig Une jeune fille de 90 ans, in dem eine über 90-jährige, die an Alzheimer und Einsamkeit leidet, durch die Begegnung mit einem Choreographen zu neuer Energie und neuem Lebensmut findet. Das ist ungefähr so anzusehen, wie es sich in der Beschreibung anhört: ein Film wie eine Formel, eine Geschichte, die nur einen Ausgang kennt; dabei ließe sich über diese Begegnung manches erzählen, nur wäre das nicht ganz so einfach wie das Märchen über die Wiedererwachte, die am Ende sagt: «Ich bin Blanche.»

Dass mit dem Choreographen sei praktisch gewesen, soll Yann Coridian im Interview nach der zweiten Filmvorführung erzählt haben. Weil sie nicht mehr selbst überlegen mussten, wie sie ihre Annäherung an die Patienten und ihren Alltag gestalten wollten, sondern dabei zusehen konnten, wie ein anderer seine gestaltet, durch Bewegung, Berührungen, Gesten, die von der Kamera nur erfasst zu werden scheinen und doch sehr genau mit ihr koordiniert sind. Une jeune fille ist ein Film der Nah- und Detailaufnahmen: Hände, Füße, Finger, Arme, ein Knie und die Schiene, auf der es abgestützt ist; ein Haarschopf und das Gesicht darunter; überhaupt und vor allem die Gesichter der Alten, die nicht so aussehen als wüssten sie sich noch, wie man sich für den Blick der Kamera einzurichten hat; und in den Gesichtern die sehr nackten Regungen, die der Tanz, die Berührung manchmal hervorrufen.

Ob irgendetwas davon zulässig ist: die Intervention, die Zäsur, das irre Glücksversprechen, die Gefühle ohne Perspektive («je t’aime», sagt Blanche am dritten Tag nach dem Tanz), und was es bedeutet, all dies für ein Filmpublikum festzuhalten, ist die ziemlich abgründige Frage, die an beide Projekte zu richten wäre, das pädagogische wie das filmische, das nun zur Erbauung der Zuschauer präsentiert wird. «Tous ceux qui étaient présents ce soir-là en sont sortis conquis» heißt es in einer Rezension vom Festival de Namur: Der Film habe sein Publikum erobert und ergriffen, ohne Ausnahme, als hätte sich die Frage damit erledigt oder als sei Ergriffenheit genug, um zu erklären, was eine Kamera hier verdammt noch mal zu suchen hat. Ich meine nicht: im Altersheim. Sondern: in den Gesichtern von Demenzpatienten.