carthage film festival tunis 2016

13. November 2016

JCC 2016 27. Journées Cinématographiques de Carthage

Von Michaela Ott

Anlässlich seines 50-jährigen Jubiläums behauptet das älteste Filmfest der arabischen Welt, die Journées Cinématographiques de Carthage (JCC), gegründet 1966 in Tunis, noch einmal seine symbolische Eingebundenheit in den afrikanischen Kontinent. Obwohl die panafrikanische Idee tot sei, weil alle Filmemacher längst Individualisten geworden seien, so eine wiederholte Klage, blättert das tunesische Filmfest ein arabisch-afrikanisches Selbstverständnis entlang seiner Tanit-d'or-Verleihungen und ausgewählter filmästhetischer Wegmarken auf. Denn an der Reaktion des jugendlichen Publikums könne man sehr wohl erkennen, dass es sich für Filme aus Schwarzafrika interessiert und frenetisch klatscht, wenn etwa der senegalesische Wettbewerbsbeitrag Bois d'ébène von Moussa Touré über den historischen Sklavenhandel angekündigt wird.

Bereits die arabische Welt reicht hier von Marokko bis mindestens in den Irak. Und sie reicht hin zu den Brüdern in der subsaharischen Welt, was die komplementären Filmfestivals Fespaco von Burkina Faso und der JCC in Tunis unter Beweis stellen sollen. In den Jubiläums-Hommagen werden denn auch der Senegalese Dijbril Diob Mambéty, der Burkinabé Idrissa Ouédraogo, der Tunesier Ferid Boughedir und seine Landsmännin Kalthoum Bornaz und noch weitere geehrt. Diob Mambéty steht dabei für die Poetisierung der afrikanischen Filmsprache in seinem ästhetisch reizvollen Werk Touki Bouki von 1972, Ouédraogo für die Idee einer afrikanisch-sozialistischen Kinematografie. Sein preisgekrönter Spielfilm Yam Daabo/Le Choix, entstanden 1987 unter der Regierung von Thomas Sankara im umbenannten Burkina Faso, schildert die Kämpfe von Landbewohnern, die die internationale Hilfe zurückweisen und zur Selbsthilfe greifen, gegen die Trockenheit des Landes, zusätzliche Unfälle, auch  Liebesverirrungen. Der aktuelle Burkinabé-Wettbewerbsbeitrag Thom seines Bruders Tahirou Tassere Ouédraogo gibt sich da vergleichsweise ortsunbestimmt: Geschildert wird das Verhältnis eines jungen Mannes aus gutem Hause zu einer Prostituierten und beider aussichtsloser Kampf um Unabhängigkeit vom Herkunftsmilieu. Burkina Faso, eines der wenigen afrikanischen Länder mit eigener Filmindustrie, wird bei den JCC als Vorbild gepriesen, verfügt es doch über eine staatliche Filmförderung, wie in Tunesien nun endlich ebenfalls erkämpft.

Dass der Doyen des tunesischen Kinos, der Regisseur und Filmkritiker Ferid Boughedir einst vehement für die panafrikanische Sache eintrat, führen noch einmal seine Dokumentationen Caméra d'Afrique und Caméra Arabe aus den 1980er Jahren vor. In seiner Spielfilmtrilogie, von Halfaounie (1990) über Un été à la Goulette (1996) bis zu seinem jüngsten Werk Zizou schildert er tunesische Konflikte als Symptome der gesamtafrikanischen Situation. Und erobert, zusammen mit cineastischen Kompatrioten, fortgesetzt neues Erzählterrain: Bereits der 1980 ausgezeichnete tunesische Spielfilm Aziza von Abdellatif Ben Ammar engagiert sich für die Emanzipation der Frau, wobei die Familie selbst kolonial geschädigt erscheint. Weibliche Selbständigkeit wird da allerdings mit den Preis eines stupiden Alltags als Näherin in einer Fabrik erkauft. Hieran knüpft der neue tunesische Beitrag Thala mon amour von Mehdi Hmili an, wenn er die Frauen der Jasminrevolution ihre Nähmaschinen verlassen, gegen die Ausbeutungsverhältnisse aufbegehren und im Eigennamen «Houriya/Hoffnung» die Revolution – gegen den Willen der Männer – weitertragen lässt.

Überhaupt die Frauen: Sie geben in den Kinosälen nicht weniger als in zahlreichen der Filme den Ton an, selbstbewusst bis militant, und lassen die bedächtigeren oder frustrierten Männer hinter sich. Sie sind es, die Diskussionen zu den Filmen einfordern und sich nicht einschüchtern lassen von der Ordnungsmacht. Scheinbar zu Kriegerinnen geboren, verleihen sie den Filmen mit ihrem auftrumpfenden Charme erhöhten Spektakelwert, oft freilich auf stereotypisierte Ikonen und die Affekttransmission Richtung Publikum reduziert. Denn Ermächtigungsbestrebungen werden schnell von Actionfilm-Dramaturgien absorbiert und mutieren zu Drogenthrillern wie der zweite tunesische Wettbewerbsbeitrag Chouf von Karim Drindi, in dem sich ein Einwanderermilieu in Frankreich sukzessive selbst massakriert.

Wert und Bedeutung der Filme: Sie sollen sich hier am Zuspruch des Publikums erweisen, das hier als Vertreter der Volkssouveränität ernst genommen – und narrativ bedient wird. Und doch kommt es nur bedingt zum Zug: Diskutiert wird schon aufgrund organisatorischer Verspätungen kaum, die Filme werden trotz Internationalitätsanspruchs häufig nur auf Arabisch präsentiert. Dafür kommen sie dem Wunsch nach persönlichem Wiedererkennen und nach Identifizierung des Gegners entgegen, wie im dritten tunesischen Spielfilm Demain dès l'Aube von Lotfi Achour. Oder auch im palästinensischen Wettbewerbsbeitrag 3000 Layla/Nuits von Mai Masri, der, aus der Innenansicht eines israelischen Frauengefängnisses, vor allem um Parteinahme für die palästinensische Sache wirbt und von einem tobenden Publikum dafür bejubelt wird. Filmästhetisch lässt sich hieran mancherlei bedauern und vor allem konstatieren, dass die Jasminrevolte zu lauten Tönen und populistisch wirksamer Handlungsrasanz, nicht aber zu filmsprachlicher Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Aushandlungsspektrums Anlass gegeben hat.   

Ein wohltuende Ausnahme, die nicht auf die Gunst des Publikums setzt, ist der marokkanische Wettbewerbsbeitrag Starve Your Dog von Hicham Lasri: Dieser essayistische Film hebt mit Beispielen sozialer Vernachlässigung an und entfaltet in abgehakter Montage eine schräge selbstreflexive Etüde, die an das gläserne Gefängnis der aktuellen arabischen Welt mit ihrer Nur-Beinahe-Freiheit und ihren mehr Nationalhymnen als funktionierenden Staaten gemahnt.

Am Beispiel seines neues Spielfilms beklagt auch Boughedir einen sich hartnäckig haltenden Aspekt des gläsernen Gefängnisses: die fortgesetzte kulturelle Bevormundung durch den ehemaligen Kolonisator. Koproduziert von französischen Fernsehsendern wird eine schnell geschnittene Version seines Films unter dem Titel Parfum de Printemps in Umlauf gebracht, welcher er nun mit Zizou seine eigene entgegenstellt. Diese beiden Versionen einer arabischen-Frühlingserzählung sollen demnächst auf DVD erscheinen, wobei Boughedir darauf hofft, dass die europäische Rezeption «seiner» Version den Vorzug geben werden wird.

Auch Idrissa Ouédraogo beklagt die Gängelung der afrikanischen Filmproduktion durch westliche Fernsehsender: TV5 aus Frankreich bestimme bis heute über den Auf- oder Abstieg afrikanischer Filmemacher und lehne englischsprachige Produktionen rundweg ab. Daher müssten an die Stelle des notorischen Minderwertigkeitskomplexes endlich technologisch geschärfte Kompetenzen, eigene TV-Produktionen und die Rückbesinnung auf die Geschichte der afrikanischen Kinematografie treten. Dass man im Kongo nichts von Ousmane Sembène wisse, sei nicht länger hinnehmbar!

Verschiedene Wettbewerbsbeiträge führen allerdings vor, dass eine afrikaspezifische Ästhetik, aber auch das hier vorherrschende Modell des französischen Autorenfilms längst obsolet geworden sind. Die Erzählmodi haben sich globalisiert, die Filme verstehen sich als Weltkino und be- und untertiteln sich englisch. Eine Coming-of-Age-Geschichte speist sich gleichermaßen aus französischen Banlieue-Schilderungen wie in La Haine, aus brasilianischen Dead-end-Dramaturgien à la Cuidade de Deus und US-amerikanischen HBO-Serien wie The Wire. Wenn die Marokko-Französin Houda Benyamina in Divines die Selbstbehauptungskämpfe junger farbiger Frauen, gleichsam Dardennes' Rosetta in Potenz, in Szene setzt, ist nicht auszumachen, wo der physisch brutale Kampf um Vorherrschaft, Drogen und Geld, tanzakrobatisch und schauspielerisch höchst facettenreich, ausgefochten wird.

Dass physische Gewalt zum kinematografischen Sujet schlechthin avanciert ist und zu ästhetisch innovativen Umsetzungen führen kann, verrät der ägyptische Wettbewerbsbeitrag von Mohamed Diab, Clash, bereits im Titel. Personen unterschiedlicher politischer Überzeugung werden während einer Demonstration verhaftet, in einen Gefängniswagen gesperrt und fallen auf den 8 Quadratmetern umgehend übereinander her. Erst auf Drohungen der Polizei, sie mit Tränengas oder Schüssen lahm zu legen, beginnen sie sich ansatzweise zu verständigen und, trotz immer wieder aufflackernden Hasses, zuletzt unter vereinigter Kraftanstrengung aus der klaustrophobischen Situation zu befreien: eine Parabel auf die heutige politische Lage in Ägypten?

Neben derart ästhetisch und narrativ gewagten Spielfilmen wirken Dokumentationen wie Action Kommandant von Nadine Angel Cloete aus Südafrika, die Rekonstruktion des kurzen Lebens des Anti-Apartheidkämpfers Ashley Kriel, trotz animierter Veranschaulichung, nur politisch bemüht. Zu unbescholten und dramaturgisch verleppert präsentiert sich auch der vierte tunesische Beitrag Zaineb n'aime pas la neige von Kaouther Ben Hania, der eine zeitgenössische Patchworkfamilie zwischen Tunesien und Canada entlang des Erlebens von Kindern porträtiert. Tragikkomisch erhellend dagegen das saudiarabische Erstlingswerk Barakah meets Barakah von Mahmoud Sabagh, das die Unmöglichkeit amouröser Begegnung zweier Jugendlicher im öffentlichen Raum, aber auch die Verlogenheit und Berechnung traditioneller saudischer Milieus persifiliert.

Auteurhaft überanstrengt zeigt sich dagegen der jordanisch-dänische Wettbewerbsfilm Al Medina: Ein aus Europa zurückkehrender, (wegen der Fördergelder) dänisch verheirateter Jordanier bewegt sich nach einem versehentlichen Totschlag – in scheinbarer Analogie zur gesamten Region – schicksalshaft auf den Abgrund zu, von Gefängnisaufenthalt über Organhandel bis zu seiner Aussetzung in der Wüste, immer anspruchsvoll bildästhetisch verexistentialisiert. Auch der äygptische Beitrag Haram Al Gasad von Khaled El Hagar behauptet ein stahlhartes gesellschaftliches Gehäuse, wenn er, ausgelöst durch die Freilassung von Gefängnisinsassen unter Mubarak, das Schicksal einer jungen Frau zwischen verschiedenen Männern und unter der Willkür eines Gutsbesitzers dramatisiert. Zu der zeitgenössischen Sklaverei auf einem Landgut scheinen nach wie vor verschiedene Grade von Leibeigenschaft zu gehören, was Mord, psychophysische Vergewaltigung und zuletzt unfreiwilligen Selbstmord zur Folge hat.

Der erwähnte senegalesische Beitrag Bois d'ébène, der den historischen Sklavenhandel anprangert, beklagt seine heutige (post)koloniale Verstrickung indes nicht: Die französisch vorgetragenen Berichte und Zeugnisse von Deportierten, in den bekannten Bilderreigen von Schiffspassage und Misshandlung und schnulzige Musik integriert, bieten, französisch finanziert, eine Rekapitulation dieser Kolonialgeschichte mit ihrem offiziellen Ende um 1848 und widerlegen dieses doch sinnfällig in Ton und Bild. Dass die Verstrickungen weitergehen, führt auch der brisante Dokumentarfilm Tragédie Tchadienne von Mahmat Saleh Haroun vor, in dem die Verfolgung der Bevölkerung unter dem Diktator Hissein Habré – und unter der Protektion der USA und Frankreichs – von Opfern anhand ihrer Verstümmlungen und Narben vor Augen geführt wird.

Dass das Festival selbst unter seiner Jubiläumsüberanstrengung leidet und allerhand Frustration gerade ob seines uneinlösbaren Anspruchs, aber auch der unzulänglichen technischen Infrastruktur produziert, verrät, wo Tunesien gegenwärtig steht. Zu wünschen wären ihm weniger filmischer Populismus, schnellere Modems, kürzere Schlangen vor den Kassenhäuschen und mehr Muße für politisch-ästhetische Reflexion. Dass der arabische Frühling mittlerweile zu einem Vielfrontenkrieg entartet ist: Sich dem gewachsen zu zeigen wird Aufgabe der kommenden JCC-Ausgaben sein.