experimentalfilm

23. November 2015

Einrichtung des Lebens Liu Jiayins Oxhide 2

Von Ekkehard Knörer

Oxhide 2

© Liu Jiayin

 

Oxhide 2 ist ein Film von 132 Minuten Länge, in dessen Verlauf 73 Dumplings produziert (und großteils verspeist) werden. Er besteht aus 9 Einstellungen. Ich habe dazu fünf kurze Punkte.

Punkt 1 Die Dinge

Der Tisch. Der Schraubstock. Das Leder. Der Hammer. Werkzeuge. Die Lampe. Die Schüssel. Das Brett. Der Löffel. Die Kelle. Das Lineal. Das Hackmesser. Der Wok. Die eine Wand. Die andere Wand. Die dritte Wand. Die vierte Wand. Das Glas. Die Bilder an der einen Wand. Die Bilder an der anderen Wand. Eine Art Liege. Die Tür. Der Gang. Ganz hinten das Fahrrad. Ein Hocker. Die Zeitung. Das Mehl. Das Wasser. Der Teig. Töpfe. Teller. Eine Flasche mit Öl. Ein Glas mit essbarem Inhalt. Der Schnittlauch. Das Klemmbrett mit den Lederzuschnitten. Das Shirt. Die Weste. Die eine Brille. Die andere Brille. Die Gasflasche. Ganz hinten das Fahrrad. Das sind die Dinge.

Es gibt eine Performance von Forced Entertainment mit dem Titel Complete Works: Table Top Shakespeare. Da sitzen die Performer am Tisch und erzählen in eigenen Worten und spielen mit ihren eigenen Händen Shakespeare-Stücke nach. Die Figuren werden dargestellt von Objekten des alltäglichen Lebens: Flasche, Radiergummi, Espressokanne, Salzstreuer (König), Pfefferstreuer (Königin) und so weiter. Je ein Performer schafft diese Table-Top-Shakespeare-Dingwelt, indem er die Gegenstände manipuliert, also ganz wörtlich: mit den Händen da hinstellt und auf der Oberfläche des Tisches bewegt.

In Oxhide 2 gibt es einen Tisch, auf dem Gegenstände manipuliert werden. Dumplingteig wird geknetet, es wird mit Kochutensilien hantiert. Von Shakespeare jedoch keine Spur. Auf den erste Blick bedeuten die Dinge hier nichts anderes als sie sind: keine tragische Liebe zwischen Wok und Lineal. Kein Königsdrama. Kein Eifersuchtsspiel. Die alltäglichen Dinge sind in diesem Film Teil einer Welt, die nichts bedeuten, die nicht transzendiert werden soll: Dieser Tisch, dieser Wok, diese Dumplings. Reine Gegenwart. That's it.

Punkt 2 Die Familie

Um den Tisch versammelt: Vater, Mutter, Tochter. Eine Ein-Kind-Familie im China von heute. Es ist die Familie der Regisseurin Liu Jiayin. Ihre Mutter Jia Huifen, ihr Vater Liu Zaiping. Der Abspann verzeichnet Liu nicht nur als Regisseurin und Darstellerin, sondern auch unter Drehbuch, Kamera, Sound, Schnitt. Oxhide 2 ist ein Home-Movie, wenn es je eines gab. Liu inszeniert sich als sich selbst, ihre Eltern als ihre Eltern, ihre Küche, die auch Arbeitszimmer ist, als ihre Küche, die auch Arbeitszimmer ist. Die Eltern rufen sie bei ihrem Kosenamen Beibei. Ihr Umgang miteinander ist vertraut; so vertraut, wie nur ein Tag für Tag miteinander verbrachtes Leben den Umgang vertraut machen kann.

In dieses Leben gibt der Film Einblick. Wir kennen es schon. Oxhide 2 nimmt die Vorgaben von Oxhide, Liu Jiayins Erstling von 2005, auf. Damals war Liu 24. Jetzt, 2009, ist sie 29. Oxhide III ist seit Jahren in Arbeit und wird, verspricht die Regisseurin, «genauso öde wie die ersten beiden», die natürlich überhaupt nicht öde sind. Nach dem aktuellen Stand sollen acht Filme entstehen. Bei jeweils  fünf Jahren Abstand wäre das Lebenswerk von Liu Jiayin bis in die Nähe des Ruhestands schon verplant. Das ist eine ernsthafte Sache. Sehr trocken freilich ist Lius Humor. Man weiß darum nie.

Die Tochter, die Mutter, der Vater: Sie sind sie selbst, und sie sind es auch nicht. Es geht um nichts anderes als ihr eigenes Leben, aber vorgestellt wird dieses Leben als Film. Das Fenster, durch das wir sehen ist klein. Gut zwei Stunden, fast wie in Echtzeit, mit Betonung auf «fast». Man tut nichts weiter, fast nichts jedenfalls, als gemeinsam Dumplings zu kochen. Der Vater, die Mutter: Sie können das schon. Die Tochter noch nicht. Alle verhalten sich fast durchweg, als gäbe es die Kamera nicht. Einmal, nach einer Stunde neununddreißig Minuten blickt der Vater direkt in die Kamera und albert herum. Der Status diese Blicks bleibt aber unklar. Blickt er «uns» wirklich an? Und andersherum: Was geht uns dieser Blick an? Wie nah sind wir dem Vater, der Mutter, der Tochter?

Punkt 3 Die Arbeit

Der Vater glättet und dehnt das Leder am Tisch, die Mutter hat die Nadeln eingefädelt: Arbeit am Werkstück. In der ersten und längsten Einstellung findet ein doppelter Übergang statt. Zum einen: Vom ersten Film in den zweiten; in Oxhide sah man neben Szenen aus dem Privaten den Vater beim Zuschneiden, Bearbeiten des Leders. Sein Körper und seine Hände wussten schon da, was sie tun: ein durch langen Umgang entstandenes sichtbares Körperwissen, das die Darstellung der Tätigkeit in- und auswendig macht. Die erste Einstellung zeigt zum zweiten aber auch den Übergang von der Arbeit ins Private, von der Erwerbsarbeit zum Kochvergnügen, von der Werkbank zum Küchentisch, auf dem nun allerdings auch eine Art Arbeit beginnt. Dafür wird der Tisch abgeräumt, aber nicht ganz. Er wird gedreht und kommt da zu stehen, wo die Kamera schon die ganze Zeit auf ihn wartet. Dann schlägt der Vater mit den Händen auf den Tisch. Er bereitet die Szene, er klopft das Bild fest. Der Tisch ist fast so leer wie eine Leinwand, auf die noch nichts projiziert wird, und er wird mit dem Titel des Films und dem Namen der Regisseurin beschrieben.

Es beginnt eine andere Arbeit. Eine Arbeit, die man für sich macht, nein: für einander. Arbeiter betreten die Küche. Die Familie, die Darsteller der Familie: Nun führen sie vor, wer sie sind, wenn sie kochen. Das Kochen zerfällt in Können und Lehre. Die Zubereitung der Speise ist Gegenstand des Films, aber sie ist auch das Medium, in dem sich die Familie zur Aufführung bringt. Man will gar nicht wissen, wie oft, wie lange, wie genau das alles geprobt ist; wie oft die Gesten geübt, die Dumplings gekocht, die Sätze gesprochen worden sind, bis das so herauskam, wie es nun herauskommt und da ist. Ganz sicher konnte die Tochter das Kochen am Ende viel besser als sie nun zeigt, dass sie es kann. Das ist die Arbeit, die fast nicht im Bild ist: die Arbeit der Tochter mit den Eltern am Film.

Punkt 4 Der Rahmen

Diese Arbeit ist nicht im Bild, aber sie ist doch präsent, zwischen den Bildern, in einer Bewegung eigener Art. Die Kamera von Oxhide 2 ist keine Fliege an der Wand. Oder jedenfalls ist sie eine sehr methodische Fliege. Sie macht acht Sprünge im Abstand von 45 Grad, das ergibt einen Kreis. Acht Schnitte, acht Einstellungen aus verschiedenen Winkeln, in verschiedener Höhe, der Tisch von oben, von unten, von der Seite, eine Serie von nicht ganzen Bildern, bevor die neunte Einstellung an den Ausgang zurückkehrt. Die mathematische Präzision markiert die filmische Arbeit. Spürbarer noch sind die Rahmen, die die Kamera mit den gewählten Bildausschnitten sichtbar willkürlich zieht. Köpfe sind selten im Bild, manchmal im Anschnitt, dann aber in der siebten Einstellung ergibt sich plötzlich und wie von selbst eine Kopfchoreografie auf der anderen Seite des Tisches, in der sich die Tiefenstaffelung fast vollständig aufhebt.

Die scharf zugeschnittenen, in Sprüngen variierenden Kader eröffnen einen Bildraum, in dem sich das On und das Off aufeinander beziehen: Der Rahmen ist starr, aber er hält die Figuren nicht fest, sie dürfen kommen und gehen und tun es. Gerade weil die Kamera nicht Übersicht schafft, sondern jeweils stur in ihrer Position verharrt, ergibt sich für die Menschen ein Freiraum. Dinge und Teile, Körperteile und Kochdinge ragen ins Bild, beugen sich hinein und heraus, verschwinden, erscheinen. Gegeneinander verschoben sind im gefesselten Freiraum des Films Bild und Geräusch. Das Kneten und Reißen des Teigs, die ruppige und zarte Arbeit der Hände sieht man im On und hört die Stimmen im Off, man sieht nicht die sprechenden Münder, man sieht sprechende Hände. Zwischendurch putzt sich, wie man hört, aber nicht sieht, in einem Waschbecken-Off die Tochter die Zähne, während am Tisch und im On weiter Dumplings entstehen.

Punkt 5 Die Einrichtung

Der Rahmen, den die Kamera zieht, der Rahmen, der nicht nur ein Innen, sondern auch ein Außen anwesend macht und der zudem die Innen/Außen-Differenz spürbar präsentiert, dieser Rahmen ermöglicht die Einrichtung der Dinge, der Familie, der Arbeit im Film. Einrichtung eines Lebens, aber so, dass die Differenz von Dokument und Inszenierung seltsam uninteressant wird. Oxhide II ist die Einrichtung eines Lebens als Film, es ist aber auch die Einrichtung eines Zuschauerblicks, der bei aller Intimität auf Distanz bleibt. Der Film hält etwas fest, das sich nicht festhalten lässt, das Hier und das Jetzt. Liu Jiayin sieht das nicht tragisch. Erstens ist ja noch Zeit für die neue Einrichtung des weitergehenden Lebens, Oxhide III, IV, V, VI, VII, VIII. Und zweitens begreift Liu die Missverhältnisse, in denen sie lebt, und die Missverhältnisse, mit denen sie ihnen in Inhalt und Form zu Leibe zu rücken versucht, als inhärent komisch. Starre Einrichtungen von Leben und Bild erfahren so eine Auflösung, die sich zu ihren eigenen Spannungen so souverän verhält, dass das Ergebnis auf wunderbare Weise entspannt ist.