fundbüro

4. August 2021

Die Bibliothek im Haus

Vignette zu Fundstück #1

Von Ralph Eue 

 

Ich glaube, es begann mit zwei Übersetzungen, an denen ich für die Zeitschrift DAIDALOS gearbeitet habe. Eine war gerade erschienen, die andere noch in Arbeit. Bei der ersten ging es um Passagen aus dem opulenten und eben frisch in Frankreich herausgekommenen Coffeetable Book Des lumières et des ombres von Henri Alekan für die Ausgabe Lichtarchitektur (DAIDALOS 27/1988). Bei der zweiten, mit der ich noch am Kämpfen war, um einen Essay von Philippe Duboy über das Konzept der mobilen Wohnmaschine von Raymond Roussel für das Heft Seelenkisten (DAIDALOS 28/1988). DAIDALOS, Anfang der 1980er Jahre von u.a. Ulrich Conrads gegründet, war das großzügig finanzierte, musische und metaphysische Exkurse zum Prinzip erhebende luxuriöse Beiboot der BAUWELT. Den Luxus konnte und wollte sich der Bertelsmann Fachzeitschriften Verlag damals noch leisten.

Bei einem ‹Rumstehchen› von Autoren und Übersetzern lernte ich Martina Düttmann (1938 – 2009) kennen.

Sie flößte Respekt ein. Nicht nur mir. Dabei war sie alles andere als distanziert oder gar abweisend, allein ihre Aura ‹natürlicher› Autorität war selbsterklärend und damit fraglos.

Damals wusste ich von ihr lediglich, dass sie 1967 als Redakteurin bei der BAUWELT angefangen hatte und dass sie 1979 ihren Verlag ARCHIBOOK gegründet hatte. Dass sie außerdem Herausgeberin einiger legendärer Titel der BAUWELT FUNDAMENTE war. Und dass sie seit kurzem die Reihe Architektur Bibliothek beim BIRKHÄUSER VERLAG (BASEL BOSTON BERLIN) verantwortete. Im Rahmen von DAIDALOS war sie eine geschmeidig und effektiv wirkende Netzwerkerin. Außerdem wusste ich noch, dass sie von 1979 bis zu dessen Tod (1983) mit Werner Düttmann (siehe cargo 50) verheiratet war.

Bei besagtem ‹Rumstehchen› stellte uns Felix Zwoch, Initiator der STADTBAUWELT-Sonderhefte, einander vor, weil er glaubte, dass wir uns etwas zu sagen hätten. Zuerst fragte mich Martina Düttmann über «meine Roussel Übersetzung» aus und darüber kamen wir, ich weiß nicht mehr wie, auf Michel Butor. Allerdings weiß ich noch genau, dass ich, 15 Jahre später, wie vom Schlag gerührt war, als ich in ihrem 2003 in der BAUWELT erschienenen und hier als Fundstück wieder hervorgeholten Text über die Bibliothek in ihrem irgendwie verwunschenen Haus in der Siedlung Heerstraße, Spuren unseres Gesprächs von damals wieder entdeckte.

Über das Haus also Ganzes hat sie einmal den wunderbaren Text Innen und Außen, beides geschrieben: «Ein sehr großes Thema braucht einen sehr kleinen Anfang. Ich stelle mich vor mein eigenes Haus. Es ist wahrhaftig nicht schön. Teil einer Siedlung, die, spät in den zwanziger Jahren erbaut im Krieg halb und halb verbrannte. Heute wirkt jedes Haus ein bisschen anders durch die neueingesetzten Fenster, hier eine kleinäugige Dachgaube, dort graugelbes Welleternit über engen, seitlich eingefassten Stufen. Innen sind die Häuser im Grundsatz einander gleich, schmal sind sie und gehen in die Tiefe. Eng ist die Treppe, die Räume werden nie ganz hell, weil man die Tiefe des Hauses geteilt hat in Zimmer zur Straße und Zimmer zum Garten, das eine sind die Morgenzimmer, das andere sind die Nachmittagzimmer. Wenn man sie gegen die Uhrzeit nutzt, sind sie dunkel.»

Mit ihrem Kollegen und Freund Felix Zwoch hat Martina Düttmann seit den 1990er Jahren viele Reisen unternommen. Beide sahen sie das als geniale Verbindung zwischen Angenehmem und Nützlichem. Es waren Reisen, die als soziogeografische Erkundungen in den Feldern zwischen Sehnsucht und Albtraum spielten. Viele dieser Reisen waren auch die Anfänge späterer STADTBAUWELT-Hefte, wie jene über Neapel, Marseille, Algier und Kopenhagen. Dann weiter weg: New Orleans, Caracas, Havanna. Und schließlich: Saigon oder Hongkong. Und selbst als einmal eine dieser Reisen ins Wasser fiel, schrieb Martina Düttmann für die STADTBAUWELT einen Text und nannte ihn Nachträgliche Vorbereitung auf eine Reise nach Teheran: «Die Reise nach Teheran, die für den späten April dieses Jahres geplant war und aus der ein Einführungstext für die STADTBAUWELT hervorgehen sollte, fand nicht statt. Das Visum, im Februar beantragt, wurde nicht verweigert, aber allzu lange verzögert. Als wir es Ende Mai erhielten, waren die Gesprächspartner in Teheran wieder in alle Winde zerstreut. Was lag also näher, als der Verzögerung auf den Grund zu gehen und den Kalender der islamischen wie der persischen Feiertage zu konsultieren? ... Das Lesen häuft zu viele Wahrheiten an. Wenn wir hätten reisen können, hätten wir Teheran Straße um Straße und Viertel um Viertel erkundet. Wenn wir später einmal reisen werden, werde ich von Zitaten beherrscht sein, die sich wie unscharfe Erinnerungen über die Augen legen.»

Wirklich zusammengearbeitet habe ich mit Martina Düttmann nur zweimal.

Zuerst als sie mir Anfang 1989 die Übersetzung und Neuherausgabe des Buchs von Donald Albrecht Designing Dreams. Modern Architecture in the Movies für den BIRKHÄUSER VERLAG anvertraute. Taktisch unklug fragte ich: «Warum gerade ich?» Sie antwortete nur: «Wissen Sie jemand anderen?»

Ende der 1980er war der spätere Trend, Architektur und Film als ‹Twin Arts› zu behandeln noch nicht eindeutig als Trend zu erkennen. Die Übersetzung von Donald Albrechts Buch, das dann in der erweiterten deutschen Ausgabe Architektur im Film. Die Moderne als große Illusion hieß, war ein Projekt, das nicht ohne Reibungen zwischen ihr und mir verlief, weil sie mir, wie ich es selten sonst in so konzentrierter Form erleben durfte, einige Lektionen in Sachen Schreiben und Übersetzen erteilte. Lektionen, die ich in jugendlich stolzem Leichtsinn zuerst nicht ohne weiteres annehmen wollte, die mir danach aber mehr oder weniger in Fleisch und Blut übergegangen sind – zum Beispiel «sparsam mit Adjektiven verfahren», «Substantivierungen vermeiden» oder, von Adorno entliehen, «die Güte eines Gedanken bemisst sich nach seiner Distanz zur Kontinuität des Bekannten». Und manchen Eingriff, den sie in meiner Übersetzung vornahm, nannte sie: «eine Alternative hinein hexen.»

Ein weiteres Mal arbeiteten wir zusammen, als ich sie 2005 einladen konnte, für die Publikation zur Berlinale-Retrospektive «Schauplätze Drehorte Spielräume» einen Beitrag beizusteuern: Sehen was man sieht. Production Design als Erzählung. Sie eröffnete mit einem Satz von Frieda Grafe: «Ich sehe was, was du nicht fühlst.» Ich hätte es wissen können, denn die Kunst des Zitats beherrschte sie meisterlich. Eine Art Making Of dieser Kunst findet sich in ihrem Buch: Wie die Architektur zur Sprache kommt. Aufsätze 1972-1992: «Es spukt. Es ist, als wollten die Sätze, die ich eingeladen habe, um den Gedanken auf die Sprünge zu helfen, nicht kommen, ohne in guter Gesellschaft zu sein. Man verspricht ihnen einen Ehrengast. Man beginnt mit einem Zitat.»

Martina Düttmanns Anliegen war es, glaube ich, immer gewesen, die Dinge, mit denen sie sich beschäftigte – und das waren überwiegend, aber nicht ausschließlich, solche aus den Bereichen von Architektur, Design und Urbanistik – zum Reden zu bringen, denn man könne, so sagte sie, Gegenstände entweder «zum Reden bringen» oder «sie zur Rede stellen».

Letzteres war für sie das Geschäft der gewöhnlichen Kritik – in welchem Bereich der Künste oder Medien auch immer – und obwohl selber Kritikerin, geringschätzte sie solcherart kritischen ‹Ansatz› zutiefst: «Kritiker haben eine Vorstellung von der eigenen Zeit als einer Epoche und halten die Architektur, Stück für Stück, dran und prüfen, ob sie dazu passt. Warum? Weil Kritik nicht zum Sehen ermutigt, sondern Erbsen zählt.»

Die Conditio sine qua non ihres eigenen Schreibens war es, ICH zu sagen und zugleich die Verfasstheit dieses ICH, relativierend, ins Sichtfeld zu rücken. Also nicht der Autor/die Autorin als absolute Herrscherin der eigenen Galaxis, sondern als komplexes, manchmal auch, warum nicht, perplexes Bedingungsgefüge: «Das ICH der meisten ist doch nur ein mehr oder weniger zufälliger Schnittpunkt des multimedialen Zeitgeistes oder sagen wir der ‹Kulturindustrie›». Die kritische Rationalität Adornos kam ihr ebenso leicht über die Lippen wie die gelehrte Esoterik im Wörterbuch des Aberglaubens.

Den Gegenständen, denen sie ihre Aufmerksamkeit widmete, gab sie tatsächlich Gestik und Habitus. «Ich sehe was, was du nicht fühlst.» Ihre Sätze waren schön, klar und klug. Wie sie selbst. Dicht und konzentriert schrieb sie. An freien Tagen blätterte sie oft ziellos und wiederholt in Büchern, die ihr die Liebsten waren. Das tat sie an allen möglichen Orten im Haus, entdeckte einen Satz, drehte und wendete ihn. Bis neue Sätze entstanden.

 

 

Die Bibliothek im Haus

Von Martina Düttmann

 

«Das haben Sie alles gelesen?» «Das ist alles, was ich eines Tages noch lesen will.» Ich mache mir etwas vor, wenn ich von meiner Bibliothek rede. Das zeigt sich immer dann, wenn ich das Haus umräume und die Bibliothek betroffen ist. Sie ist immer betroffen. Ohne eine bestimmte Art der Nähe sind mir meine Bü­cher nicht viel mehr wert als das Gästezimmer, das ich der Gastfreundschaft wegen vorhalte, die zum Stil des Hauses gehört. Wenn ich dann die Bücher in großen Stapeln über die Treppe nach unten oder nach oben trage, stellen sie sich auf ihre Art selbst in Frage. Bände, die einer vergangenen Leidenschaft angehören, werden mir schwer im Arm, ich verteile sie auf dem Fußboden, und sie räumen sich wie von selbst an die Seite. Sie und ich, wir gehören schon nicht mehr zusammen. Die aussortierten Bücher, die dann verschenkt, ver­kauft oder verschleudert werden, sind vielleicht einem anderen etwas wert, das weiß der Antiquar. Diesmal verbrauche ich ihrer drei, den Antiquar, der sich auf wertvolle Bücher spezialisiert hat, den Antiquar, der etwas über Architektur und Kunst weiß, und einen dritten, der das, was die beiden anderen übrig lassen, auf dem Trödel verkauft. Manchmal trage ich reumütig den einen oder anderen Titel vom Teppich wieder ins Regal zurück mit dem Gefühl, ihm Unrecht getan zu haben. Um das Unrecht komme ich nicht drumherum. Dennoch mache ich mir keine Gedanken, wenn ich ein Buch, das ohne Standpunkt und ohne Sprache auskommt, auch wenn es funkelnagelneu ist, sogleich in den Papierkorb versenke. Mit dem möchte ich nicht unter einem Dach leben.

«Ein wichtiger Bestandteil meiner Bibliothek ist das Unbekannte in ihr», schreibt Peter Suhrkamp 1955, das natürlich beim Umräumen nicht verloren geht. Verloren geht eine Ordnung, in der ich mich vorher auskannte und ich mit ungeheurer Lust (und dem Gefühl, es diesmal endgültig richtig zu machen) durch eine andere ersetze. Das birgt Fallen. Denn so sehr ich das Unbekannte in meinen Büchern liebe, das sich durch Lektüre in etwas Vertrautes verwandelt, von dem ich dann wieder nicht genug kriegen kann, will ich doch nach einem Buch, das mir gerade über die Seele läuft, beinahe gedankenlos die Hand ausstrecken können. Das müsste meine Ordnung leisten. Was sie natürlich nicht kann. Wie auch? «Wer sich nur recht beobachtet, wird sich kaum zweimal in der gleichen Verfassung finden», schreibt Michel de Montaigne in dem Essay Über die Unbeständigkeit unseres Tuns, «denn es findet sich ebenso viel Verschiedenheit zwischen uns und uns selber wie zwischen uns und anderen.» Er schreibt es um 1580. Also ist die neue Platzierung ebenso ein Risiko wie das Aussortieren vorher. Es sei denn, man wählt eine ganz und gar rationale Ordnung, aber auch die ist, wie man jüngst bei Wolfgang Bachmann hat lesen können, mehr als unvollkommen, verwirrt sich selbst und zeitigt am Ende unheilige Kategorien. Christopher Morley erzählt, dass er seine Schriften in der Library of Congress unter 818.5 registriert fand. Ist das eine Wertschätzung von eins bis tausend, fragt er sich, und wenn ja, an welchem Ende der Scala beginnt und endet sie? Stehe ich knapp unter der Crème de la Crème oder beinahe am Ende der Schlange? Er erkundigt sich. 818.5, wird ihm mitgeteilt, bedeutet «American Miscellanous».

Kein Bücherliebhaber wird seine Bücher in eine rationale Ordnung zwingen, denn sein Verhältnis zu ihnen ist und bleibt, das macht die Umräumerei überdeutlich, ein für immer irrationales. Wenn ich es recht bedenke, sortiere ich nach Wertschätzung, was eigentlich das falsche Wort ist, denn ich sortiere nach dem Maß meiner Zuneigung.

Es gibt natürlich so etwas wie Gruppierungen, die auch einem Fremden verständlich sind. Die wachsen und schrumpfen mit der Zeit. Was einst jede Menge Regalboden verschlang (einst, das sind bei mir die sechziger Jahre), waren pädagogische Bücher aller Art, von Summerhill bis Ronald Laing, von Hartmut von Hentig bis zum Programm eines proletarischen Kindertheaters von Walter Benjamin.

Walter Benjamin ist mir natürlich geblieben, die meisten anderen machten irgendwann einer neuen Leidenschaft Platz, die sich in dicken lilafarbenen Bänden und ihren Anhängseln weiterhin in meinem Bücherregal tummelt, ein wenig weniger geliebt als dazumal, aber anscheinend immer noch nicht bewältigt. Die zehn etwas instabilen lilafarbenen Bände enthalten das komplette Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Die Gruppe Krimis bleibt, aber mit wechselnder Besetzung. Die Kunst ist geblieben, aber sie war immer schon so reich besetzt, dass ich sie wider besseres Wissen nur hin und wieder ergänze (es sei denn, man zählt die Fotografie dazu, darin tut sich immer etwas). Die Gedichtbände, einst das Kernstück, aus dem die Bibliothek langsam heranwuchs, haben als einzige ihr Regal von damals behalten, es ist kaum einer dazugekommen, aber ich habe auch noch keinen einzigen Band weggegeben. Die Berlinbibliothek, die sich, weiter unten, um andere Städte und andere Länder erweitert, wächst und schrumpft, hier kann ich ganz sachlich bleiben. (Sie ist unsichtbar, weil ich, der vielen farbigen Rücken leid, die Regale einen Gang breit von der Wand gerückt, umgedreht und von hinten verputzt habe.)

Eine Kategorie Belletristik gibt es nicht. Gesamtausgaben stehen als Schmuck zwischen zwei Fenstern, Biographien über dem Fenster und Märchen unter dem Fenster. Die Gesellschaft der Bücher, ohne die ich nicht leben kann, steht rechts vom Fenster und links vom Fenster (ich rede von mehreren Fenstern). Auch hier gibt es Bewegungen, aber keine allzu heftigen. W.G. Sebald ist vor nicht allzu langer Zeit in ihr aufgetaucht, wird verschenkt und sofort wieder nachgekauft.

In dieser Gesellschaft gibt es unterschiedliche Ausgaben von ein und dem selben Autor. Das, würde man annehmen, wäre doch der erste, der einfachste Schritt, um sich von Büchern zu trennen. Aber könnte ich je das rororo-Ta­schenbuch Panther Tiger & Co in Gelb und Orange wieder hergeben, meine erste Begegnung mit Kurt Tucholsky, auch wenn über die Jahre zwölf Tucholsky-Bände vom Trödel (auf die der eine oder andere anscheinend ver­zichten konnte) hinzugekommen sind, die die gleichen Texte enthalten? Könnte ich mich je von einer der drei verschiedenen Übersetzungen eines meiner Lieblingsbücher von Dostojewski trennen?

Eine andere Etage, ein anderer Raum: die Architekturbücher. Mit denen ist es eine besondere Sache. Nicht nur, weil sie so zahlreich sind. Auch, weil sie sich nach Wertschätzung nicht ordnen lassen. Für sie habe ich die Regale senkrecht zur Wand gestellt wie in einer öffentlichen Bibliothek. Um aber der Sachlichkeit ein bisschen abzuhelfen, habe ich den Regalbrettern von oben nach unten immer mehr Abstand gegeben und sie dann ein für allemal verschraubt. Nun stehen die Monographien bei den Monographien, der Städtebau beim Städ­tebau, die Theorie bei der Theorie (im Prinzip) und der Wohnungsbau beim Wohnungsbau, da aber Architekturbücher in jedwedem Format gedruckt (und immer größer) werden, rutschen die kleinen Werke nach oben (winzig: Der Mo­dulor von Le Corbusier. Ein Testament von Frank Lloyd Wright. La Charte d'Athènes), die großen nach unten, und die neuen, übergroßen, wandern ins oberste Fach, wo sie liegen müssen. In den mittleren Gefächern stehen die Buchreihen. Eigentlich sehr übersichtlich, wenn man weiß, wo man zu suchen hat. Zur Architekturbibliothek, das merke ich, wenn ich aufräume, habe ich ein stiefmütterliches Verhältnis. Viele der Bücher sind mir wichtig, wenige sind mir lieb. Von diesen wenigen, das ist der Vorteil, wenn man zwischenzeitlich einen kleinen Verlag besitzt, habe ich das eine oder andere übersetzt oder neu herausgegeben. Die Originale stehen wieder dort, wo sie hingehören, die Nachdrucke (handlich) haben ein Regal für sich. Was in dieser Bibliothek wächst, sind Publikationen aus dem Verlag Lars Müller in Baden in der Schweiz. Kaum zu entscheiden, ob ich sie unter Architektur, unter Design, unter Graphik oder einige von ihnen unter Theorie abstellen soll. Sie sind fabelhaft gemacht. Sie sind eigen. Sie haben immer ein Thema, das weiter reicht als der Gegenstand oder die Person, um die es sich handelt. Wenn sie bei mir angekommen sind, liegen sie erst einmal lange auf dem Tisch. Oder auf Stühlen, denn auch die Stühle haben ihre Rolle in der Gesamtordnung. Auf Stühlen liegen die Bücher, die mich gerade beschäftigen, Bücher, die ich zurückgeben muss, und Bücher, die mich zwar nicht mehr beschäftigen (in Form einer Rezension zum Beispiel), aber nicht loslassen und die ich deshalb noch nicht als Rücken ins Regal bannen kann. In diese Kategorie fallen die Bücher von Lars Müller Publishers.

«Was ich will, ist dies», sagt Michel Butor 1992 in einem Gespräch mit Bruno de Cessole, «ich möchte vagabundieren in meinen Büchern wie in der ganzen Welt. Einer meiner Träume besteht darin, einen Wohnwagen zu haben mit einer gut bestückten Bibliothek.» Michel Butor ist Professor für Literatur. Wenn der Wohnwagen nicht ausreicht, müsste er ihn umräumen, so wie ich es in meinem Haus tue. In seinem Buch Le Génie du lieu beschreibt er Städte wie Istanbul, Córdoba, Delphi oder Ferrara, in Repertoire 2 schreibt er über das Buch als Objekt. «Ist es angebracht», fragt er dort, «sich noch an dieses Objekt zu halten, das so viele Ereignisse ausgelöst hat? Und wenn ja, warum? (...) Die einzige, allerdings beträchtliche Überlegenheit, die nicht nur das Buch besitzt, sondern alles Geschriebene, ist die simultane Entfaltung dessen vor unseren Augen, was unsere Ohren nur sukzessive erfassen können.» In einem Buch verwischen sich die ersten Zeilen nicht, wenn ich die letzte erreiche, in einem Buch kann ich vorwärts und rückwärts blättern, es erträgt, dass ich es nicht auf einmal lese, und wartet geduldig, bis ich zu ihm zurückkehre.

«Bin ich eines Buches überdrüssig, nehme ich ein anderes zur Hand. Von den Gedanken und Einfällen, die ich auf meinen Boden verpflanze und mit den meinen vermenge, habe ich oft mit Vorbedacht die Urheber verschwiegen», schreibt Montaigne in seinem Essay Über die Bücher. «Bei dem, was ich mir dann wirklich ausborge, achte man darauf, ob ich zu wählen wusste, was meine Gedanken ins Licht rückt. Denn ich lasse andere das sagen, was ich nicht so gut zu sagen vermag, manchmal aus Schwäche meiner Sprache, manchmal aus Schwäche meines Verstandes. Ich zähle meine Anleihen nicht.»

Auf Michel de Montaigne bin ich gekommen, weil ich zuerst bei Peter Suhrkamp nachgelesen habe. Das war leicht, denn seine Aufsatzsammlung heißt Der Leser. Auf Christopher Morley bin ich gekommen, weil ich die Essaysammlung, in der er erschien, erst jüngst wieder vom Teppich aufgehoben habe, und er auf einem der Stühle landete. Michel Butor, das weiß ich einfach, hilft immer, wenn's um Bücher geht.

Meine Bibliothek ist ein sonderbares, geheimnisvolles und mir nur manchmal verständliches Assoziationsgefüge. Manchmal finde ich, ohne zu wissen, was ich suche. Aber irgendwann muss ich doch davon gewusst haben? Vielleicht ja, vielleicht nein. Oft leitet mich die Lektüre des einen zum anderen, weil ich dem vertraue, der einen anderen gelesen hat, dem er vertraut. So habe ich Montaigne mit Hilfe von Peter Suhrkamp gefunden und bin vor kurzem zu Sartre durch den Umweg über Francis Ponge zurückgekehrt, den ich nie kennen gelernt hätte, wenn ich nicht immer wieder bei Italo Calvino einkehren würde. «Assoziation» übersetzt mir das Lexikon mit Verbindung, Vergesellschaftung. Meine Bücher bilden unter sich Gesellschaften, von denen ich oft nichts weiß, und ich bilde Gesellschaften aus meinen Büchern, wenn ich sie beim Aufräumen nebeneinander stelle.

Diesmal haben mir die Bücher, die ich in die Nähe von Michel Butor gerückt hatte, nicht weiter geholfen. Aber eigentlich erwarte ich, dass sie solches tun. (Früher gab es in der Kunstbibliothek, als sie sich noch in der Jebenstraße befand, handgeschriebene Bandkataloge, und immer führte der Titel, den ich auf der einen Seite aufgesucht hatte, durch seine Nachbarschaften zu denen, die ich sonst noch brauchte und darüber hinaus.) Auf welche Weise sich Christopher Morley eingeschlichen hat, weiß ich nicht, aber auch das erwarte ich von meinen Büchern, dass sie sich von selbst melden, wenn ich ihrer bedarf. Warum sonst behielte ich das windschiefe Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, das allerdings nicht in die Abgründe des Zufalls steigt, sondern sich mit dem Stichwort Schicksal heraushält.

Meine Bibliothek ist kollektiv. Keines der Bücher gehört mir allein, manche von ihnen lassen sich in hunderttausend anderen Haushalten finden. Doch sie stellen sich auf mich ein. Sie lassen es zu, dass ich sie als Rohstoff missbrauche, dass ich sie zitiere, dass ich sie als meine persönlichen Freunde ausgebe, dass ich ihnen so lange ausweiche, bis sie mir in die Hand spielen, dass ich sie verschlinge, wenn mir danach ist. Danach stehen sie völlig unberührt für jede Art von Umgang erneut bereit.

 

Aus: Bauwelt 38/2003, S.24f.

Für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck bedanken wir uns bei Frieda Schneider und Redaktion sowie Verlag der Bauwelt. Besonderer Dank auch an Sebastian Redecke für schnelle Hilfe und unkomplizierte Vermittlung