filmkritik

15. September 2021

Letzte Ratio Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (35): Heft 08 1971

Von Bert Rebhandl

 

Ein großer Teil dieses Hefts besteht aus einer Liste amerikanischer Western aus den Jahren 1962 bis 1970, genauer: Ein Verzeichnis aller in den USA von 1962 bis 1970 hergestellten und in der Bundesrepublik gezeigten Western.

Sie beginnt mit vier Filmen aus dem Jahr 1961, der erste ist The Comancheros von Michael Curtiz, es folgen ausführliche Credits, die mit Längenangaben (in Minuten und in Metern: 2922!) sowie der Verleihangabe (Centfox) enden.

22 Seiten später endet das Verzeichnis mit There Was a Crooked Man (Zwei dreckige Halunken) von Joseph L. Mankiewicz (126 Minuten, 3450 Meter, Warner, spielt in Arizona, 1883).

Es folgen deutsche Titel und eine Liste der Stars, Nebendarsteller und Vertreter anderer Gewerke.

Aus dem restlichen redaktionellen Inhalt greife ich einen einzelnen Film heraus, es ist auch der, dem der größte Text im Heft gewidmet ist: Yawar Mallku (Das Blut des Kondors) von Jorge Sanjinés. In Deutschland wurde er nicht im Kino gezeigt, sondern in der ARD, so wie schon Ukamuru (So ist es) aus dem Jahr 1966 im ZDF lief.

In Bolivien wurde der Film «zunächst auf eine Eingabe des amerikanischen Botschafters hin von der Zensur verboten, dann nach Protestdemonstrationen freigegeben», schreibt Jürgen Ebert. «Wir sollten uns also bewußt sein, daß wir vor unseren Guckkästen nicht vor der Quelle sitzen.» Das Publikum in Deutschland kann die «Realitätsbezogenheit» von Yawar Mallku nicht nachvollziehen, es kann daran nur «schmarotzen». Die Quelle wäre eine revolutionäre Praxis, auf die der Film von Sanjinés hinausläuft.

Er erzählt von dem indigenen Bolivianer Ignacio, der in den Bergen (die Region von Kaata wird als Schauplatz genannt) von der Polizei angeschossen wird, und nach langem Transport in einem Krankenhaus in La Paz auf eine lebensrettende Bluttransfusion wartet. Während sein Bruder Sixto, der schon länger in der Hauptstadt lebt, verzweifelt das Blut oder das Geld dafür aufzutreiben versucht, wird in Rückblenden der Grund für Ignacios Auseinandersetzung mit der Polizei erzählt. Er war der Anführer eines Aufstands gegen Vertreter eines amerikanischen Peace Corps, die eine gynäkologische Station eingerichtet haben, die offiziell Hilfe bei Entbindungen etc anbietet, heimlich aber Frauen sterilisiert, um das Bevölkerungswachstum zu hemmen. «Die Gringos (gringos abusivos) säen Tod in den Bäuchen unserer Frauen.»

Die revolutionäre Politik ist sowohl identitäts- wie sozial- oder klassenpolitisch bestimmt. Die Indigenen mit ihrer Sprache Quechua und ihren Ritualen (sie befragen Koka-Blätter und opfern in Bergheiligtümern) sind das Subjekt des Kampfes, auf den Sanjinés hinauswill. Jürgen Ebert spricht von dem «Nichtsahnenden indianischen Aberglaubens», und zieht doch eine direkte Linie von der indigenen Kultur zu dem politischen Film, den er letztendlich im Kopf hat, nämlich den politischen Film, der in Deutschland fehlt: «So erfaßt die mythische Schicht der Filmerzählung das Unfaßliche der Realität und darf Sanjinés es sich leisten, Solidarität mit den Unterdrückten zu behaupten.» Yawar Mallku ist «aus Klugheit ein volkstümlicher Film».

Für Ebert verändert sich vor seinem Guckkasten die Perspektive: Nicht Bolivien ist das Entwicklungsland, sondern Deutschland, jedenfalls was das Kino betrifft. Deutschland ist «im Rückstand» mit seiner Filmkultur, «deren Originalität nicht der Hunger sein kann» (er spielt hier auf das Manifest Eine Ästhetik des Hungers von Glauber Rocha an), sondern die sich nur mit einem «Monopol der Unterhaltungsindustrie» konfrontiert sieht. Der politische Film fühlt sich «im Stich gelassen ... von den Massen».

Der Campesino (Bauer) Ignacio Mallku stirbt als Märtyrer einer Idee, in der kulturelle Unabhängigkeit dem politischem Kampf den Weg bereitet. Die Wahrheit der «Mutter Coca» geht der Wahrheit der Analyse der Entwicklungsoptionen voraus («camino del progreso» ist der Slogan des lokalen Establishments, das sich mit dem amerikanischen Engagement verbündet: «Entwicklungshilfe als eine Form des Neokolonialismus», schreibt Ebert).

Zu Jorge Sanjinés findet sich eine Menge griffbereit, nicht zuletzt hat die Bewegung Ukamau eine Präsenz im Netz. Besonders interessant aber ist eine Doktorarbeit, die ich an der University of Iowa gefunden habe, open access, wie es sich gehört.

Der Text von Ebert deutet an, dass die Filmkritik Mühe hatte, das Dritte Kino in ihre damals vorherrschenden Interessen (vor allem die starke Amerikanophilie, daneben aber doch auch der Versuch, an marxistischer Theorie festzuhalten) zu integrieren. Das lässt auch sein zweiter, kürzerer Text in diesem Heft erkennen, in dem er über Das Irrenhaus von Nelson Pereira dos Santos schreibt, im Original O Alienista, nach einer berühmten Geschichte von Machado de Assis. «Das autonome Irresein der Filmbilder als letzte ratio des nicht entfremdeten Sinns. ... Das Handlungsmodell des Films ... ist ein Hohn auf geschichtliche Dialektik.» Ebert sieht hier Ansätze eines «Neuen Kinos, das sich mit seinen Bildern entschlossen hat, in der Manie ihrer unvernünftig überwältigenden Eindrücke die Grenzen ihrer Kultur aufzusuchen und sie womöglich von der Kulturillusion falscher Filmbilder zu befreien». Der Wahn befreit die Bilder von vorausgesetzten Ideologien, denen sie zu entsprechen oder vorzuarbeiten hätten. Dem Wahn in Das Irrenhaus entspricht Mutter Coca in Yawar Mallku. Die weltgeistige Vernunft vor den deutschen Guckkästen trifft auf Ansätze eines wilderen Denkens.