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Brutalistische Lyrik Stadt als Ausstellungsfläche: Über Audiowalks, Audiotracks und Videoporträts zu Architektur im Nicht-Kiez-Kreuzberg

Von Elena Meilicke

Seit einigen Jahren interessiere ich mich für Stadtplanung und Architektur. Ich habe das nicht studiert, bin keine Expertin, kann aber, wie viele Menschen, lebenslange Erfahrungen städtischen Wohnens vorweisen. Angefangen hat mein Interesse damit, dass ich vor fast zehn Jahren in ein Hochhaus am Halleschen Tor in Berlin-Kreuzberg gezogen bin, das der Architekt Werner Düttmann in den 70er Jahren gebaut hat. Meine Freundin, von der ich die Wohnung übernahm, hob als Plus der Gegend das «Nicht-Kiezige» hervor und implizierte damit, dass der Berliner Hang, es sich in renovierten Altbauvierteln von fast kleinstädtischer Beschaulichkeit gemütlich zu machen, irgendwie spießig sei: «Am Ende wollen’s alle nur a lichtdurchflutete Altbauscheiße», wie Helmut Dietl, zitiert nach Stuckrad-Barre, einmal meinte.

Ich bemühte mich, es wie meine Freundin zu sehen, Neubau und Nicht-Kiez zu umarmen, anderes blieb mir auch kaum übrig. Die Gegend ums Hallesche Tor ist tatsächlich kein in sich geschlossener Kiez und auf den ersten Blick alles andere als einladend. Sie ist Verkehrsknotenpunkt (drei U-Bahn-Linien, eine mehrspurige Bundesstraße), Sozialwohnungsbau, permanente Baustelle, eines der ärmsten Viertel Berlins. Dabei liegt es nur einen Steinwurf entfernt vom mondänen Prachtboulevard Unter den Linden in die eine Richtung und vom bürgerlichen Neo-Biedermeier im Bergmannkiez in die andere.

Ich mochte meine Wohnung sofort, mit ihrem unwirtlichen Umfeld aber habe ich mich lange nicht befasst. Die ersten Jahre, in denen ich am Halleschen Tor wohnte, war ich gar nicht wirklich da. Ich betrachtete den Ort vor allem als Ausgangspunkt und schätzte, dass sich von hier aus Mitte, Neukölln, der Westen schnell erreichen ließen. Es dauerte einige Zeit, bis ich merkte, dass direkt vor meinem Haus die Spazierwege entlang des Landwehrkanals begannen, dass das Prinzenbad nur fünf Minuten entfernt lag. Spätestens mit der Pandemie verkleinerte sich mein Bewegungsradius, war ich auf meinen Nicht-Kiez zurückgeworfen. Ich zog also meine Runden durch die Südliche Friedrichstadt (so hieß das Viertel, wie ich irgendwann herausfand) und stellte mir mit erneuter Dringlichkeit die Frage, was zum Teufel das für eine Gegend ist, in der ich wohne.

Die Südliche Friedrichstadt ist voller Gedenktafeln, oder auch: voller Gespenster. Hier war die Parteizentrale der SPD, da der Redaktionssitz des Vorwärts. Dieser ganze Block gehörte zum Ullstein-Verlag, um die Ecke lagen die Film-Ateliers von Oskar Messter. Schräg gegenüber betrieb die SA einen ihrer ersten Folterkeller, im Nebenhaus wohnte Hedwig Dohm, daneben Adalbert von Chamisso. Die Zeiten gehen durcheinander, verschiedene Vergangenheiten existieren nebeneinander, übriggeblieben ist gar nichts. Im Krieg wurde das alte Zeitungsviertel schwer zerstört, ab 1961 von der Mauer durchteilt, anschließend vom West-Berliner Senat neu aufgebaut: unter anderem eben von Düttmann, der zeitweise auch Senatsbaudirektor war. In den 1980er Jahren gestaltete das Prestige-Projekt der Internationalen Bauausstellung die Gegend weiter um.

Zu diesen beiden Architektur-Geschichten, die das heutige Aussehen der Südlichen Friedrichstadt geprägt haben, laufen im Moment zwei Ausstellungen, die ich mir in der Hoffnung anschaue, meinen Nicht-Kiez besser kennen-, vielleicht sogar lieben zu lernen. In der Berlinischen Galerie, die nicht weit vom Halleschen Tor entfernt liegt, läuft Anything Goes? Berliner Architekturen der 80er Jahre, und das Brücke-Museum in Dahlem zeigt die Schau Werner Düttmann. Berlin. Bau. Werk. Beide Museen sind im Zeitraum, in dem ich diesen Text schreibe, wegen Corona geschlossen, was nicht weiter schlimm ist. Denn beide verlagern einen Teil ihrer Ausstellungen aus dem Museumsraum heraus in die Stadt (bzw. ins Netz), was bei Architektur Sinn macht und ziemlich gut funktioniert. Architektur wird hier nicht, nicht nur, über Pläne, Skizzen und Modelle ausgestellt, sondern die Stadt wird zur Ausstellungsfläche, ihre Gebäude zu Exponaten.

Die Berlinische Galerie bietet über ihre Website einen Audiowalk zu den IBA-Bauten in der Südlichen Friedrichstadt an. Am röddeligen Checkpoint Charlie, lerne ich, haben Rem Koolhaas und Peter Eisenman gebaut, das auffällige Haus mit den metallenen grünen Markisen, die der Fassade ein gesichthaftes Anlitz geben, stammt vom New Yorker John Hejduk. Ganz in der Nähe steht, versteckt in einem Innenhof, ein Bau von Arata Isozaki, der 2019 mit dem Prizker-Preis ausgezeichnet wurde. Big names also, die im Kreuzberger Straßenalltag allerdings keinen großen Auftritt haben. Jahrelang war ich, in Unkenntnis der architektonischen Prominenz, ungerührt an diesen Bauten vorübergegangen, und auch jetzt stehe ich ein wenig ratlos vor den angeschmuddelten 80er-Jahre-Fassaden und frage mich, woher diese seltsame Nicht-Patina alternder Neubauten rührt.

Die strahlt auch der halbrunde LiMa-Wohnhof (S.  35) des Holländers Herman Hertzberger aus (LiMa steht für dessen Adresse, Linden- Ecke Markgrafenstraße), spannend aber sind die Ideen von nachbarschaftlichem Miteinander und Gemeinschaft, die sich im und durch den Bau materialisieren sollten: mit versetzten Balkonen, die sowohl Rückzug als auch Kontakt zu Nachbarn ermöglichen sollten, mit Gemeinschaftsräumen und transparenten Wohnungstüren aus Glasbausteinen. Heute verfällt der Komplex mehr und mehr, sind die Gemeinschaftsräume verschlossen, ist die Fassade ramponiert. Eine Anwohnergruppe bemüht sich um die Anerkennung des Wohnhofs als Denkmal.

Toll am Audiowalk ist, dass er mich von den Straßen weg- und in einige Höfe hineinführt, in die ich mich alleine nicht reingetraut hätte. Der gesamte Block zwischen Ritter- und Oranienstraße ist eine weiträumige Wohnanlage mit mehreren, hintereinanderliegenden Höfen, die, wie ich jetzt merke, öffentlich zugänglich und passierbar sind. Ich sehe, wie deutlich sich die Hofseiten der Häuser von ihren Straßenseiten unterscheiden, wie sehr viele der IBA-Architekturen auf Höfe hin ausgerichtet sind und sich dagegen zur Straße hin abschotten. Was auch erklärt, weshalb viele Fassaden eher unzugänglich und abweisend wirken und warum es sich auf den Straßen der Südlichen Friedrichstadt, trotz Stararchitekturen, eher schlecht flanieren lässt.

Gerne würde ich einen Blick in die Häuser selbst werfen, mir die Wohnungen anschauen, von drinnen nach draußen sehen – vielleicht würden sich diese Architekturen mir dann erschließen? Vielleicht ist es aber auch so, dass mich die Architektur an und für sich doch weniger interessiert als vielmehr das Leben, das darin stattfinden kann.

Mein Interesse an der bewohnten Architektur (dem natürlich ein Schuss Voyeurismus beigemischt ist) wird in der Düttmann-Ausstellung befriedigt. Neben Stadtspaziergängen und historischen Fotos (S. 34) bietet die schöne, aufwendige Ausstellungs-Website Audiotracks und vor allem Videoporträts zu allen Düttmann-Bauten, die diese als lebendige und bewohnte in den Blick nehmen: Bewohner*innen öffnen ihre Türen und erzählen davon, wie es sich hier lebt. Düttmanns Kreuzberger Sozialbauten bekommen hier die gleiche Aufmerksamkeit wie seine gerühmten Kulturbauten (Akademie der Künste, Hansabibliothek, St. Agnes…), Mieter*innen erhalten ebenso das Wort wie der Villenbesitzer vom Stadtrand.

Die kurzen Videos beginnen meist mit einer Annäherung von außen, vertikale und horizontale Kamerabewegungen tasten sich an Fassaden entlang. Auf der Tonspur keine Musik, sondern Atmo, intensives Eintauchen in die städtische Umgebung der Bauten, Verkehrsrauschen und Vogelgezwitscher, in der Ferne menschliche Stimmen. Dann wechselt die Kamera ins Innere, die Bewohner*innen sind mal im Bild, mal nur als Stimmen präsent. Eine Künstlerin führt durch ihre kleine Maisonette-Wohnung am Halleschen Tor, zeigt den offenen, hellen Raum, spricht über die Treppe, die Herzstück der Wohnung ist, und die vielfältigen Blicke und Perspektiven, die sie ermöglicht. Die Kamera bewegt sich dabei leicht durch den Raum, ist unaufdringlich, aber eigensinnig, es gibt keine Doppelungen, sondern Ergänzungen von Beschreibung und Bild, ohne die Architektur zu ästhetisieren oder monumentalisieren.

Ein weiteres Video stellt die «Die Graue Laus» vor, Düttmanns Hochhaus am Kreuzberger Wassertorplatz, hier wohnt ein junges Paar, er Künstler, sie Filmemacherin. (Eine Herausforderung ist natürlich, dass «wohnen», als eine sich über Dauer erstreckende Tätigkeit, nicht leicht darstellbar ist. Hier stehen dafür ein: am Küchentisch sitzen und Tee trinken; auf dem Sofa sitzen und Buch gucken; diverse Arrangements von Grünpflanzen.) Anlässlich der «Grauen Laus» geht es auch um die Geschichte der Kahlschlagsanierung, gibt es kritische Stimmen zu Düttmann als Apologet von Abriss und Neubau: «Die Brutalität, mit der wir da Lyrik gemacht haben», hat Düttmann einmal gesagt, als er gefragt wurde, was das Besondere an seinen West-Berliner Massensiedlungsbauprojekten gewesen sei.

Auffällig ist, dass das Panorama, das die Videoporträts der Düttmann-Ausstellung aufspannen, grotesk homogen ist, was vor dem Hintergrund der seit Jahren auch in Berlin heiß diskutierten und kritisierten Gentrifizierung und Verdrängung ein echtes Versäumnis ist. Es sind ausnahmslos Künstler*innen und Kulturwissenschaftler*innen, die hier recht eloquent und qualifiziert, auf Deutsch oder Englisch, über das Wohnen in den Kreuzberger Düttmann-Bauten sprechen. Keine einzige Person mit türkischem, arabischem oder russischem Hintergrund erzählt von ihren Wohnerfahrungen, auch kein*e einzige*r Nicht-Akademiker*in – und das, wo über 70 % der Bewohner*innen der Südlichen Friedrichstadt eine familiäre Migrationsgeschichte haben und um die 40 % von Transferleistungen leben.

Auch mein Hochhaus (S. 32) ist Teil der Düttmann-Ausstellung. Ein auf dem Gehweg platzierter Aufsteller beschreibt es knapp und präzise, in, wenn man so will, brutalistischer Lyrik: «Gelbes Mosaik, Fertigteilbau, Müllabwurfschacht». Mosaik, das meint die kleinen Kacheln in 70er-Jahre-Orange, die die Fassaden des Hochhauses schmücken. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gefällt, dieses gekachelte Orange. Aber es hebt sich ab vom pseudo-eleganten Grau der protzigen Investoren-Architekturen aus den letzten Jahrzehnten. Und es bildet einen schönen Kontrast zum Himmel, wenn der blau ist, und zu den Linden auf der Straße, wenn die grün sind. 

 

Anything Goes? Berliner Architekturen der 1980er Jahre (Berlinische Galerie, noch bis zum 16. August 2021) | Werner Düttmann. Berlin. Bau. Werk (Brücke-Museum, noch bis zum 29. August 2021)