ausstellung

8. Oktober 2015

Wellen, Fäden, Netzwerke Biennalen/Triennalen 2015: Venedig, Istanbul, Kaunas, Vilnius

Von Michaela Ott

Die abwertenden Kritiken, mit denen Okwui Enwezors 56. Kunstbiennale von Venedig, All the World’s Futures, überhäuft worden ist, haben etwas Symptomatisches an sich. Denn die bloße Tatsache, dass die beiden Ausstellungsorte in den Giardini und Arsenale, die er zu verantworten hatte, mit Kunstwerken dicht bestückt sind und den Besucher, wie viele andere Großausstellungen, tendenziell überfordern, reicht für die ausgestreute Häme nicht hin. Sie zeigt stattdessen die Höhe der Erwartung an Enwezors westkritische Positionierung an, die Hoffnung auf eine spektakuläre Abwatschung des zeitgenössischen Kunstgeschehens mitten im Zentrum des Glamours. Da er die produktive Ohrfeige nicht verabreichte, dem Kunstmasochismus nicht Zunder gab, sondern sich mit namhaften Künstler_innen und Galerien gemein machte, fiel die Kritik besonders boshaft aus.

In der Tat lässt sich fragen, warum er deutsche Großkünstler wie Gursky oder Baselitz in seine Ausstellungsarchitektur glaubte integrieren zu müssen, bedürfen sie doch keiner Aufwertung durch einen Kurator, mit dessen Namen die Präsentation unbekannter und tendenziell marginaler Kunstpraxen verbunden ist. Dass er Großgesten mit Kleinteiligem alternieren lassen und der Ausstellungsabfolge eine gewisse Dramatik verleihen wollte, zeigen die Arsenale-Eröffnung mit Pauken- und Trompeten-Skulpturen von Terry Adkins, die raumdekonstruierende Sprühmalerei von Katharina Grosse und weitere erhabene Artikulationen von Großmeistern an. Darin darf man ebenso einen Widerspruch zu der mit ihm verbundenen Programmatik erkennen wie zwischen den kapitalismuskritischen Ausrufezeichen der Marx-Kapital-Lektüren und der Aufnahme von Künstlern wie Kerry James Marshall aus global-player-Galerien wie Gagosian. Und doch verweist gerade die Spannung zwischen finanzieller Abhängigkeit und konzeptuellen Distanzierungs- und Erweiterungsversuchen auf die heutige Lage von Biennalen im glokalisierten Kunstbetrieb.  

Betreibt man eine weniger pauschalisierende Lektüre von Enwezors Biennalearchitektur, so fällt in jedem Fall anderes auf: dass er Kunstpositionen, mit denen er sich seit langem befasst, mit vergleichsweise unbekannten durchsetzt und darüber einen transkulturellen Resonanzraum schafft. Sein künstlerisches Umfeld gibt die Grundpfeiler der Ausstellungsarchitektur ab, vor allem afroamerikanische Künstler_innen, an deren kunstkritische Auseinandersetzungen er im Münchner Haus der Kunst erneut erinnert hat: Adrian Piper, die für ihr gender- und rassekritisches Lebenswerk mehr als für die hier präsentierten Schultafeln mit dem wiederholten Satz Everything will be lost ausgezeichnet worden ist; Ellen Gallagher und Lorna Simpson, die hier Gemälde präsentieren, auf denen ihr bekannter rassekritischer Ansatz leider kaum sichtbar wird. Zu den Familienmitgliedern gehören auch die Afrobriten Steve McQueen, der mit seinem Film Ashes ein Bestattungsritual auf einer karibischen Insel als Hommage an einen dort verunglückten jungen Mann dokumentiert, und John Akomfrah, der eine imposante Dreikanalprojektion seines Memory-Projekts zeigt. Montiert aus Filmaufnahmen namhafter Bildarchive, thematisiert sie zugleich die Schönheit der Natur, insbesondere des Wassers, und dessen Vergewaltigung durch den Menschen. Aufnahmen von Walfang und Walschlachtung stehen stellvertretend für die Zerstörung der Biosphäre, aber auch für Versklavung und den mit dem Meer verbundenen Tod, wie dazwischen montierte Bilder von ertrunkenen Schwarzen und von Schiffswracks verdeutlichen. Überhaupt ist das Wasser nicht nur in der Lagunenstadt und dem Oberflächengeglitzer der Kanäle präsent; auch die Verbindung, die es zwischen Afrika und Italien herstellt, geht in zahlreiche Kunstwerke ein.

Dieses Grundgerüst aus afroamerikanischen und -britischen Positionen wird angereichert durch häufig ironische Statements von Künstlern aus (nord)afrikanischen Ländern: In den Arsenale wachsen gleich eingangs Macheten-Blumensträuße des Algeriers Abdel Abdessemed, als Nymphéas verzärtelt, aus dem Boden und werden von Bruce-Nauman’schen Neonwörtern wie Death augenzwinkernd erhellt. Sie korrespondieren mit Monica Bonvicinis Kettensägenskulpturen, Latent Combustion, und mit einem Wandteppich, der die Aufschrift Also sprach Allah trägt und Ergebnis einer komischen Performance desselben Abdel Abdessemed ist. Zusammen mit weiteren Arbeiten lassen sie das Inszenierungsprinzip der Ausstellung sichtbar werden: mittels Wiederholung und Abwandlung formaler Prinzipien und ironisch-selbstreflexiver Statements einzelner Künstler_innen einen sich verdichtenden ästhetischen Relationsraum zu schaffen.

Vielleicht im Sinne nachholender Gerechtigkeit sind im Mittelgang der Arsenale eher unbekannte Arbeiten platziert, etwa Abu Bakarr Mansarays (Sierra Leone) großformatig-kleinteilige Zeichnungen hybrider Flugkörper, deren organische Züge animistische Technikeuphorie verraten. Auch die Zeichnungen des tunesischen Künstlers Nidhal Chamekh verweisen in De quoi rêvent les martyrs? darauf, dass sich die Märtyrerphantasien heute aus religiösen und modernen Wunschelementen gleichermaßen zusammensetzen. Gonzalo Mabunda aus Mozambique schiebt mit The Throne that never Stopps in Time aus Munition und Waffen gefertigte Sitzmöbel dazwischen. Keith Calhoun und Chandra McComick präsentieren Schwarzweißfotos von angolanischen Gefängnissen und ihren Insassen; Kay Hassan zeigt plakatartige Collagen afrikanischer Männergesichter, wobei die Plakate die Konturen des Kontinents evozieren. Chris Ofili präsentiert seine mittlerweile bekannten großformatigen Gemälden, Bending Over Backwards for Justice and Peace; Barthélemy Togue liefert mit Urban Requiem (2015) einen Beitrag aus Kamerun. Mit der Einigkeitsstrophe der Deutschlandhymne klingt der aspektereiche Arsenale-Parcours in einem der Leuchttürme aus: Der in Berlin lebende Nigerianer Emeka Ogboh lässt den Song of the Germans in Lingala, Twi, More, Sango und weiteren afrikanischen Sprachen ertönen und liefert damit ein schön ironisches Statement zu Fragen der Identitäts- und Flüchtlingspolitik.    

Zu dieser transkulturellen schwarzen Familie gesellen sich weiße Künstler_innen mit Afrikabezug wie Carsten Höller und Maus Mansson, die ein «clash concert» zwischen den Musikern Werrason und Koffi Olomidé im kongolesischen Kinshasa, Fara Fara, filmisch wiedergeben. Minimalistisch arbeitende Künstler wie Peter Friedl reihen sich mit anarchischen Bilderzusammenstellungen zum Thema Theory of Justice (2010) und mit Miniaturmodellen von Haustypen ein, zu welchen Häuser aus Kinshasa zählen. Seine Bildatlanten leben weiter in unbekannten Fotoserien von Chris Marker aus den 2000er Jahren, Passengers, oder einer Serie zerknitterter und erneut abfotografierter Gesichtsbilder, Crash Art (2008), und in Kutlug Atamans fliegendem Teppich aus zahllosen Porträtfotos, The Portrait of Sakip Sabanci, die scheinbar eigenmächtig aufscheinen und verlöschen. Diese eröffnen wiederum eine Korrespondenz zu den Videoserien von Harun Farocki und Antje Ehmann, zu der filmischen Installation von Chantal Akerman oder dem minimalistischen Experimentalfilm der Iranerin Raha Raissnia, Longing.

Serien begegnen auch im Nichtbildlichen und verflechten die Arsenale mit dem Giardini-Pavillion zumindest imaginär: So aktualisieren sich die Beschreibungen nicht-ausgestellter Fotografien, die die libanesischen Künstler_innen Joana Hadjithomas und Khalil Joreige in Latent Images, Diary of a Photographer (2009-2015) als wandfüllende Buchinstallation in den Arsenale erahnen lassen, in deren Lesung im Giardini-Pavillion. Peter Friedls nicht-lesbare Tagebucheintragungen, Diaries, verlängern wiederum diese imaginäre Serie. Auf diese Weise werden die beiden Ausstellungsorte – im Verein mit den unterschiedlichen Ausstellungsdisplays der Länderpavillions – durch umlaufende Wort-, Ton- und Bilderserien verknüpft und eröffnen ästhetisch-materielle Fluchtlinien nach außen, zu den 44 Collaterali-Ausstellungen der Kunstbiennale, über ganz Venedig hin.

Eine Kollateral-Veranstaltung, die Enwezors Unternehmen direkt verlängert, bietet als einer der wenigen Pavillions aus Afrika – Nigeria und Kenia mussten wegen finanzieller Schwierigkeiten absagen – jener von Angola, in dem anthropomorphe Skulpturen aus Alltagsfundstücken und soundbegleitete Gemälde bis hinauf in das vierte Stockwerk die Besucher_innen zu einem Blick über die Dächer Venedigs verführen. Er präsentiert eines der gelungensten Videokunstwerke dieser Biennale: Zu sehen sind Kinder, die sich an einem Strand Löcher gebuddelt haben, aus welchen heraus sie, gleichsam in einem Auto sitzend, ihre Fahrt durchs Unbekannte kommentieren und laut davon träumen, irgendwann in befestigten Häusern zu wohnen. Im Pavillion von Mozambique sind dagegen traditionelle und sehr fein geschnitzte Holzskulpturen ausgestellt, gebündelte Menschengruppen, welche an die gegenwärtigen Fluchtmassen erinnern.

Einen Übergang von der Venedig-Biennale zur Istanbul-Biennale unter dem Motto Saltwater: A Theory of Thought Forms liefern nicht nur das Wasserthema und die Verteilung der Kunstwerke auf verschiedene zu Kunstinstitutionen umfunktionierte Gebäude und Villen der weitläufigen Stadt. Die Notwendigkeit der Stadterkundung, in Venedig von den nationalen Pavillions auferlegt, ist in Istanbul Teil der von Carolyn Christov- Bakargiev – wie Enwezor ehemalige documenta-Kurator_in – entworfenen Ausstellungsführung. Nicht nur die europäische Alt- und Neustadt soll erkundet, sondern die Ausuferung der Megacity am asiatischen Küstenstreifen zumindest von einem Boot aus erfahren werden.

Verbindend ist auch beider Aufmerksamkeit für Armenien. In Venedig wurde der armenische Pavillion für seine Gesamtinszenierung ausgezeichnet: Die Schätze des armenischen Klosters auf der Insel San Lazzaro wurden in kleinen künstlerischen Interventionen gesichtet und weitergedacht. Auf der Istanbul-Biennale wird Armenien in vielfältigen Arbeiten thematisch: Etwa im Hauptausstellungsraum der Istanbul Modern in Sonia Balassanians Silence of Stones-Skulpturen, großen, abgeschlagenen, gesichtslosen Tuffstein-Köpfen. Zahlreiche Arbeiten bedienen sich der Farbe Karmesinrot, die mit dem Ararat verbunden und als vom türkischen Staat und dessen hellroter Flagge bedrohlich absorbiert vorgeführt wird. In Paul Guiragossians Compositions aus den 1970er Jahren will jeder abstrakte Strich ein verlorenes Menschenleben evozieren. Im Ausstellungsort der griechischen Volksschule finden sich Frottagen armenischer Ornamente und mit Menschenknochen ergänzte Stuckornamente. Ashile Gorkys abstrakt-expressionistische Gemälde und Ellen Gallaghers Beitrag stellen armenienbezogene Verbindungen zwischen Venedig und Istanbul her: Gallagher lässt ihre Videoarbeit Drowned Forest in ein verblasstes Rot auslaufen, welches wiederum mit dem mittlerweile rotstichigen Film Spiral Jetty von Robert Smithson korrespondiert. Etel Adnan erinnert in biografischen Aufzeichnungen an den Völkermord. Francis Alys lässt die still gewordene armenische Ruinenstadt Ani in einem lyrisch-zeichnerischen Porträt und kindlichem Vogelgezwitscher wiedererstehen. Der hier sattsam bediente Verweis auf den armenischen Völkermord erscheint angesichts der aktuellen politischen Probleme im Land doch seltsam unzeitgemäß und unsituiert.    

Wie die Farbe Rot, so kehren die Wassermotive und ihr posthumanistisches Rauschen insistent in den künstlerischen Auftragsarbeiten wieder. In einem Deutungsspektrum zwischen Welle, Salz, neuronaler Verbindung und Knoten werden sie von der Kuratorin eingeführt und über einen weiten Radius zwischen Schwarzem Meer, Marmarameer und Altstadt von Istanbul gestreckt. Um ihr ästhetisch-epistemisch-esoterisches Konzept möglichst anschaulich werden zu lassen, führt sie den Betrachter in der Istanbul Modern – wie seinerzeit bei der documenta – durch einen engen Kanal, in dem sie ihre Vorstellung formaler Verwandtschaft zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung in kleinteiligen Arbeiten demonstriert. Die Verwandtschaft zwischen den Vorstellungen von Künstler_innen, Ozeanografen, Neurowissenschaftlern und anderen soll sich bekunden in Zeichnungen aus der neurologischen Forschung (von Santiago Ramon y Cajal), in theosophisch inspirierten Gemälden (von Annie Besant), in Designentwürfen (von Emile Gallé), Fotos (von Karl Blossfeldt), den Knotenskizzen von Jacques Lacan oder aufgezeichneten Sensorium Tests (von Daria Martin). Die von hier ausgehenden Wellenlinien sollen die Biennale-Arbeiten wie Spinnfäden durchziehen, in lockerer Schwingung verbinden und gleichzeitig politische Töne anschlagen. Eingewoben in dieses Geflecht sind einzelne Raumskulpturen der Arte Povera etwa von Giovanni Anselmo, politisch anspruchsvolle Filmrecherchen wie die Possible Histories von Esra Ersen und minimalistische Zeichnungsserien, gleichsam stillgestellte Animationsfilme wie die micro/macro 1001 drawings von Christine Taylor Patten in dem Ausstellungsraum „Arter“. Bezugnehmend auf die Wasser-Thematik stellt Marco Lutyens in einem Bootsinnenraum von Tonschwingungen bewegte Salzkristalle aus. Noch Trotzki, der auf einer der Prinzessinneninseln sein Exil verlebte, wird von William Kentridge in O Sentimental Machine als vergeblicher Agitator, dem das Wasser zunehmend bis zum Hals steht, präsentiert. Von Susan Philipsz verstärkte Unterwassergeräusche beleben leere Villenräume; in seiner Videoarbeit Hisser entwickelt Atkins ein raffiniertes Vexierspiel um Cyborgabstürze und untote Wiederkehr. Adrian Villar Rojas schließlich lässt Elefanten, Löwen, Büffel und andere Großtiere, die wiederum Tiere und Treibgut schultern, aus dem Marmarameer auf das Trotzki-Exilwohnhaus zulaufen. Lawrence Wiener versteckt minimale Konzepte am Eingang des Schwarzen Meers, während Pierre Huyghe eine unterseeische Betonbühne in der Nähe der Insel Sivriada baut, auf der sich biologische und menschengemachte Überbleibsel aus der Geschichte des Mittelmeers begegnen und andere Existenzweisen entwickeln sollen.

Venedig bleibt erkennbar als Blaupause in der weiträumigen Streuung der Kunstwerke über die Stadt, in der Aufteilung der Kunstwerke auf - freilich nicht nationale - Villen, in der Wiederkehr gewisser Künstler am türkischen Einsatzort. Wo Venedig freilich Heerscharen von Besucher_innen zu verzeichnen hat, sind sie in Istanbul handverlesen. Dass kaum lokale Besucher_innen anzutreffen sind, hat wohl damit zu tun, dass die lokale Bevölkerung aufgrund von Erdogans aggressiver Politik und der abwartenden Haltung der Opposition – anders als noch vor zwei Jahren nach den Gezipark-Protesten – in Unbeweglichkeit erstarrt erscheint. Die Finanzierung der Biennalen, über deren knappes Budget von geschätzten 14 Millionen Euro sich Enwezor in diesem Jahr beklagte, muss in Istanbul weitgehend von privaten Sponsoren wie die Koc Holding und verschiedenen Kunst- und Kulturfonds bereit gestellt werden, zu denen die deutsche Schering-Stiftung gehört.

Was sich in Istanbul bereits abzeichnet, die zunehmende Verflüssigung und Verungegenständlichung der Kunstwerke, ihr Unsichtbar-Werden, setzt sich in den litauischen Biennalen und Triennalen fort. Dass Wellen en vogue und metaphorisch gut auslegbar und anschlussfähig sind, bekundet auch der von Nicolas Bourriaud kuratierte Teil der Biennale von Kaunas (Litauen) unter dem Motto: Threads. A Fantasmagoria about Distance. Er ist in die an fünf Orten stattfindende Ausstellung mit dem Gesamttitel Networked/Sujungti als Besuchermagnet integriert. Fäden, Wellen, kommunikative Prozesse, verbunden mit Fragen der Distanznahme, möchten ein Ausstellungsdispositiv knüpfen, mit dem die kleine litauische Stadt, die bis dato nur durch textilbezogene Ausstellungen bekannt ist, globale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen hofft. Mit einem Budget von 250.000 Euro, das außer von nationalen und lokalen Kulturfonds auch von der Europäischen Union bereit gestellt wurde und auch für Seminare und Begleitprogramme vorgesehen ist, will sie unter der Schirmherrschaft der litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite ihre Zugehörigkeit zu Europa signalisieren, die im Lande keineswegs unumstritten ist, ja selbst von namhaften Schriftstellerinnen als Bedrohung der nationalen Eigenständigkeit angesehen wird.

Ähnlich wie bei der zeitgleichen XII Baltic Triennial in der litauischen Hauptstadt Vilnius, 1979 gegründet und eine der wichtigsten Ausstellungen im nordosteuropäischen Raum, diesmal kuratiert von Virginija Januskeviciuté, werden keine Kunstwerke wie in Venedig oder Istanbul präsentiert. Im Geburtsland des Fluxus-Initiators George Maciunas, auf dessen ephemere Kunst an zahlreichen Orten verwiesen wird, sieht man sich offensichtlich verpflichtet, ausschließlich Unscheinbares und Prozessuales zu präsentieren. Minimale und wiederkehrende Rauminterventionen und –installationen von auffallend jungen Künstler_innen werfen Fragen zu Raumwahrnehmung und Sinngebung, zu Handlungsmöglichkeit und affektiver Gestimmtheit in Zeiten ästhetischer Überfülle und digitaler Überinformiertheit auf. Zaudern, verhaltenes Eingreifen ist die inszenatorische Klammer der beiden litauischen Veranstaltungen, die Weniges und Winziges als ostentative Provokation zur Ansicht bringen. Beide Ausstellungen zeichnen sich durch stärkere Betonung des Ausstellungsdispositivs als seines künstlerischen Inhalts aus und geben Statements in Sachen Institutionskritik von sich, die hier – in Nähe und Ferne zu Enwezors gut ausstaffierter Kapitalismuskritik – lauten: Angesichts der allgemeinen Überausstellung von Waren und Käuflichkeit ist es anspruchsvollen Ausstellungen in Bartleby’scher Manier angeraten, lieber nichts zu tun bzw. mit Beiläufigem das Nichts zu evozieren.

In der Vilnius-Triennale, die neben litauischen nur wenige ausländische Künstler_innen versammelt,  ist die Verweigerungshaltung besonders auffällig. Zwar gehören Laboratorien und Körperexerzitien zur Ausstellung; im übrigen aber präsentiert sich vorwiegend das Innenleben des Gebäudes mit Leitungen, Rohren, offen zugänglichen Kellerräumen, geologisch-archäologischen Bohrkernen oder Fotos verwahrloster Schlachthäuser. In der Ausstellungshalle sind gleichwohl auffällig viele Kuben anzutreffen, Blackboxes aus schwarzem Teppichstoff, die kaabagleich den Raum zustellen und im Innern nur wenig, flirrende leere Screens, textile Oberflächen oder allenfalls Videobilder bieten, auf denen vor lauter Handkameratechnik nur unscharfe Bewegungen zu sehen sind. Kleine installative Arrangements aus beliebigen Alltagsgegenständen wie die soups of ourselves (2015) von Jay Tan, schräge Raumteiler oder gefaltete Teppichstreifen geben sich als ironische Partizipationsangebote zu erkennen, begleitet von Texten, die von Langeweile und Nichtwissen erzählen.     

Ähnlich stellt sich die Biennale von Kaunas mit ihren künstlerischen Positionen, deren Herkunftsland bezeichnenderweise nicht offengelegt wird, als weitgehend ortsenthobenes Geschehen vor, das sich allenfalls durch textile Bezugnahmen mit der Örtlichkeit verwebt. Mehr als die Biennale von Istanbul, die mit der Wasserlage und ihrer urbanen Geographie und dem Thema Armenien einen Lokalbezug knüpft, könnte sie überall angesiedelt sein, wie die künstlerische Leiterin, Virginija Vitkiene, durchaus selbstkritisch einräumt. So bringt Julijonas Urbonas am Hauptausstellungsort, einem ehemaligen Postgebäude, zahlreiche automatische Türöffner an, die das Schließen der Hesitating Doors (2009) verlangsamen bzw. autonomisieren. Ebenso begegnen an den Ventilationsöffnungen der Klimaanlage wiederholt Silicon-„Bärte“ von Roberto Cabot, Ventilations (2008), die gleichsam aus den Belüftungsschlitzen herauswachsen und aus Material des ehemaligen Palasts der Republik in Ost-Berlin gefertigt sind. Katja Novitskova lässt den Betrachter in Pattern of Activation in eine Marslandschaft treten und überträgt dessen Bild an andere Ausstellungsorte. Laborähnliche Beobachtungsarrangements, Internetgrafiken und Desaster-Fotografien von Kelley Walker begegnen neben Buchskulpturen aus neuen und alten Wörterbüchern oder Dokumentationen kollaborativer Arbeiten von Saâdane Afif. Katie Paterson stellt unter dem Titel Timepieces Wanduhren aus, die verschiedene Planetenzeiten wiedergeben sollen. Diese von Bourriaud initiierten humorvollen Eingriffe transformieren das leicht muffige Ambiente der ehemaligen Verwaltungsräume, heitern es mit Stahlskulpturen von Lothar Hempel, Slowdance, die frei in den Raum ausgreifen, auf. In ihrer Wiederkehr knüpfen auch sie Wahrnehmungsfäden durch die Räume, verbinden sie imaginär miteinander – das Wort Fantasmagorie erscheint angesichts dieser minimalen Eingriffe und ihrer Abstandsmarkierung allerdings zu bedeutungsschwer.

Neben dem Hauptraum begegnen dann in einer ehemaligen Textilfabrik stoffbezogene und auditive Installationen, darunter die Thematisierung von Tschadors und anderer schwarzer Umhänge durch Barbara Raad. Ein nahegelegenes Kloster schmückt sich mit einer textilen Plastik von Hillevi Munthe/Elisabeth Schimana, Monte Pacis, die bei Berührung Klang von sich gibt. In weiteren Galerien und Museen werden Einzelarbeiten von Künstler_innen präsentiert, unter welchen die Fotografien von Arturas Morozovas, The Birth of Kikimoros, wohltuend hervorstechen, insofern sie die Produktion von Tarnnetzen für ukrainische Soldaten ablichten und damit der Ausstellung dann doch eine aktuell-kontextuelle Schärfe verleihen.

Leider werden auch diese Ausstellungen jenseits der Eröffnungstage kaum von Publikum besucht, obwohl sie durch Begleitprogramme und Seminare die Studierenden zu bedienen und in die Stadt hinein auszustrahlen suchen. Diese Biennalen und Triennalen werden nicht nur in Westeuropa nicht wahrgenommen – ihr verständliches Zögern und der Vorenthalt spektakulärer Kunstartikulationen verurteilt sie neben den blendenden Großbiennalen noch einmal zu einem Schattendasein.