dokumentarfilm

Arg tun, brav tun Über Tina Leischs Gangster Girls

Von Matthias Wittmann

© Kinoki | Witcraft

 

«Viel Glück und ein fettes Leben ohne Schmalz», wünscht Regisseurin Tina Leisch den «Gangster Girls» am Ende des gleichnamigen Films. «Schmalz» ist österreichischer Häfen-Jargon und bedeutet Strafe. «Häf(e)n»: das Gefängnis. Der Häfn, um den es geht, ist das einzige Frauengefängnis Österreichs, untergebracht in einem kaiserlichen Jagdschloss in Schwarzau (Niederösterreich). Das Gebäude ist unter Denkmalschutz gestellt. Während dieses sich nicht ändern, sich nicht: verfälschen darf, um kulturell würdigbar zu bleiben, müssen diejenigen, die in diesem Gebäude einsitzen, richtiggehend daran arbeiten, sich zu ändern, um wieder würdigbar zu werden. Im Genre des Gangsterfilms hätte das, was die Gangster Girls (GG) getan haben, einen anderen Stellenwert: einen romantischen Wert. Doch die GGs haben sich Freiheiten heraus genommen oder wurden von Kontingenzen eingenommen, die nicht entlang von Genreregeln stilisierbar sind, oder als «Schritt zur Emanzipation» (Leisch) verwertbar.

«Drei Jahre für einen Blödsinn», nämlich «Einbruch in eine Pizzeria», hat eine der Protagonistinnen bekommen. Eine andere hat mit einer Spielzeugpistole eine Trafik überfallen. John Dillinger lässt hier, im Häfn, niemanden grüßen. Andere wiederum sitzen wegen Kreditkartenbetrug, Hehlerei, Beihilfe zu versuchtem Mord. Diesbezüglich kursieren Gerüchte: «Dreifach versuchter Mord. Zuerst vergiftet, dann anzunden, und dann ist er aus dem Fenster gsprungen. Und, ah ja, eingestochen haben sie auch auf ihn, glaube ich. Irgendwer halt.»

Wir hören Wienerisch, Tirolerisch, auch Spanisch. Zwei Brasilianerinnen wurden – unabhängig voneinander – beim Kokainschmuggel erwischt. «Ich bin einfach ein schlechter Mensch, der es verdient, im Gefängnis zu sein», meint eine der beiden. Was bleibt ihr anderes übrig. Die Hip-Hopperin unter den GGs ist trotzdem anderer Meinung. «Ich bereue nicht, wenn ich was Schlechtes gemacht habe. Ich weiß nicht, warum nicht, aber bereuen tu ich’s nicht. Weil ich es gemacht hab.» Vor Gerald Kerkletz’ angenehm undenunziatorischer Kamera sind tatsächlich alle, ist tatsächlich alles: gleich gültig, «egal» eben: «Für mich zählt nur die Person. Wie der Charakter ist. Egal, auch wenn eine fünfzig Leute umgebracht hat. Mich interessiert, wie sie ist und nicht warum sie hier ist», sagt ein GG.

Alles andere als egal ist die Version, die Wirklichkeit werden muss, damit eine dieses Gebäude wieder verlassen darf. Spiel-Raum für Irr-Sinn, für Wertschöpfung und Probehandeln jenseits von Nutzenerwägungen bietet diese Sinn-Haft Gefängnis nicht. Auch wenn Insasse-Sein letztendlich bedeutet, unaufhörlich die verschiedensten Wahrheiten und Versionen ausprobieren zu müssen. Wahr ist, was nützt und geglaubt wird, vor allem: womit man durch und raus kommt.

Auf die verschiedensten Ansprüche an die Selbst-Darstellung kommt auch Leisch in einem schönen Interview zu sprechen. In der Zelle muss man so hart und «arg» wie möglich tun und so viel Koks wie möglich vercheckt haben, um zu Ansehen zu kommen. Um raus zu kommen, muss man brav tun. Wahr ist auch, wovon man überzeugt ist, dass es andere überzeugt hat: «Ich bin von mir überzeugt, Reue gezeigt zu haben.» Im Gefängnis gibt es keinen falsch verstandenen Pragmatismus.

In einem Gebäude – nennen wir es «Jagdschloss» –, das die Gesellschaft für schützenswert hält und unter Denkmalschutz stellt, sitzen Menschen ein, damit sich die Gesellschaft geschützt fühlen darf. Wenn es jedoch um vom Justizministerium «genehmigte» Übungen geht, bei denen das vermummte Justizwachpersonal in Zellen eindringen, Eigentum von Insassinnen zerstören und mit Frauen «Körperhöhlenkontrollen» durchführen darf, wie das 2004 laut Standard und Falter im Frauengefängnis Schwarzau der Fall war, dürfen diejenigen, die unter Denk-mal(!)-Zwang stehen, keinen Schutz beanspruchen. Das Recht auf Kaschierung und Probehandeln liegt auf Seiten des Justizpersonals.

Geht es vor die Kamera, so dürfen oder müssen sich auch die GGs schützen. Tina Leisch schöpft aus dieser Notwendigkeit des Unkenntlich-Machens ästhetischen Mehrwert und gibt den GGs nicht ihr wahres Gesicht zurück – dieses ist ohnehin verloren gegangen, von Anfang an –, sie gibt ihnen ihre Maske zurück. Der altgriechische Begriff für Maske, prósopon, bedeutet genau das, nämlich beides: «Gesicht und Maske […] ein Begriff, der aus unserer Sicht eine paradoxe Einheit des Unterschiedenen behauptet.» (Richard Weihe)

Ein Wahr-Werden ist nur möglich, wenn der Schein am Schein gemessen wird. Aus diesen Möglichkeiten des Sich-Wahr-Spielens schöpft Leisch ihr ethisches und ästhetisches Konzept. Es geht um die Ermächtigung zum Fälschen und um Rückerstattung der Macht über die Selbst-Bilder.

Wenn es eine «Moral der Form» (Barthes) gibt oder eine Politik der Ästhetik, dann setzt Tina Leisch diesbezüglich neue Maßstäbe, vergleichbar vielleicht nur mit Maria Speths 9 Leben (Kinostart am 19. Mai), auch wenn Speths Techniken der Verfremdung und Dekontextualisierung in diesem Fall zu geschmäcklerisch gerieten. Anders als Romuald Karmakar jedenfalls, dessen – nicht weniger bemerkenswerte – Herangehensweise an die Welt der Phänomene sich aus einem «gereizten Fremdheitsgefühl» (Alexander Horwath) speist, das den Blick ständig davor bewahrt, dem Gegen-Stand zu verfallen, setzt Leisch auf unaufdringliche Teilnahme, vor allem aber: auf eine Ästhetik der Ko-Operation.

Von Göttern und Musen

Tina Leisch selbst ist Mitbegründerin des Volxtheaters Favoriten, sie hat im besetzten Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) die Dreigroschenoper aufgeführt, in der Psychatrie Steinhof «mit Patientinnen zu nationalsozialistischen Verbrechen an psychisch Kranken» gearbeitet und mit «migrantischen Laiendarsteller/inne/n […] im arisierten Nestroyhof Jelineks Stück Stecken, Stab und Stangl zu den Roma-Morden in Oberwart auf die Bühne» gebracht.

Gangster Girls, der Film, ist aus einem Theaterstück hervorgegangen. Begleitet wurden die Proben zu «Medea bloß zum Trotz», einem Theaterstück, das Leisch und Regieassistentin Sandra Selimovic als koedukatives Theaterprojekt realisiert haben, mit Häftlingen des Frauengefängnisses Schwarzau und der Jugendstrafanstalt Gerasdorf. «Koedukativ» bedeutet einerseits (und aus der Perspektive der Anstaltsleitung), dass die Gerasdorfer Burschen lernen sollten, «mit Frauen gleichberechtigt zusammen zu arbeiten und Frauen nicht nur auf Aufriss anzubraten» (Brigadier Neuberger, in einem außerfilmischen Interview), und andererseits: «Was will ma mehr, Burschen sind dabei» (ein GG).

Wir sehen aber nicht nur Proben im engeren Sinn, Arbeit am Mythos Medea als Durcharbeiten der Realität und ihrer Partikel, sondern darüber hinaus: nichts als Proben, Erprobungen von Erscheinungsbildern und Geschichten: in Interviewsituationen, die nie Therapiesituationen werden, auch wenn es hin und wieder um Reue geht, nie aber um Herstellung (oder Festlegung) authentischer Momente. Unter gänzlichem Verzicht auf klischierte Gefängnis-Genrebilder (Gänge, Gitter, ins Schloss fallende Türen), in deren Trostlosigkeit sich der Existenzpessimismus des Zuschauers meistens allzu wonnig einrichten darf, schaffen Leisch und ihr Team Bildräume, die als «Bühne für Selbstdarstellungen und -entwürfe» (Leisch) fungieren sollen: mit Hilfe von Schärfenverhältnissen – einer, die sich womöglich nicht schminken wollte, dient die Unschärfe als Cache –, mit Hilfe von Großaufnahmen, barocker Ausleuchtung, blautönender Aquariumsästhetik und natürlich: der Schminke. «[…] weiß-grau-schwarz, leuchtend wie für den Karneval. Traurige Clowns, gespenstische Diven, wunderschöne gefallene Engel.» (www.derstandard.at)

Leisch kommt ohne Optik aus, die uns «schiache Bilder für schiache Verhältnisse» (Lea Susemichel) liefern würde, ohne Bild- Zellen, die die Porträtierten weiter einschließen, in die Sinn-Haft des Fragmentierenden nehmen. Genau so wenig geht es um einen «Wie schön ist der Mensch im Hässlichsten»- Kitsch. Auch das große Narrativ von der inhumanen Rechtsstaatlichkeit oder dem «Mikrokosmos als Makrokosmos» bleibt uns erspart. Wir sehen schlicht und (gar nicht so) einfach Bilder, aus denen auch die Abgebildeten einen Mehr- und Selbstwert schöpfen können.

Die Maske wird zum wahren Inter- Face: zu einer Form ästhetisch-politischer Subjektivierung als Produkt einer egalitären Ko-Operation: «Wenn das Mensch am Boden seines Lebens hingeschmissen liegt, ist die Stunde der Priester angebrochen. Evangelische, katholische und evangelikale Pfaffen, Seelsorger der Zeugen Jehovas und Imame gehen in den Gefängnissen auf Seelenfang wie Angler im Haus des Meeres. […] Wenn Gefangene den Wunsch nach Liebeslyrikkursen, Geschichtswerkstätten und Tanztheater äußern, soll er ihnen genauso erfüllt werden, wie der Wunsch nach Beichte oder heiliger Kommunion. Amen», schreibt Tina Leisch in ihrem Plädoyer für eine Gleichberechtigung von Göttern und Musen, zumindest was ihre Funktion als KAS (Kaiserliche Arrestschließer) betrifft. Vor kurzem wurde dieses wunderschöne Dokument einer Ko-produktion von Musen und Menschen in die mittlerweile schon fünfstaffelige DVD-Edition Der österreichische Film (Der Standard/Filmarchiv Austria) aufgenommen.