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Jonathan Rosenbaum

Von Ekkehard Knörer und Simon Rothöhler

Ein Gespräch mit dem amerikanischen Filmkritiker Jonathan Rosenbaum anlässlich seines neuen Buches, der Aufsatzsammlung «Goodbye Cinema, Hello Cinephilia»: über filmkulturelle Transformationen, eine Kindheit während der Segregation in Alabama und die gegenwärtige politische Situation in den USA

 

Lassen Sie uns mit dem Untertitel Ihres neuen Buches Goodbye Cinema, Hello Cinephilia beginnen: «Film Culture in Transition». In der damit angesprochenen Debatte gibt es grob gesagt zwei Flügel: Die eine Position behauptet, dass die Digitalisierung – und alles, was damit verbunden ist – einen klaren Bruch innerhalb der Geschichte des Films markiert, während die andere darauf verweist, dass die Filmkultur immer schon dynamisch gewesen ist und in vielen historischen Phasen einen Moment des Übergangs in sich trug, gerade auch in technologischer Hinsicht.

Ich scheine da eindeutig auf der Übergangs-Seite zu stehen, wenngleich man natürlich einen gewissen Widerspruch zum «Goodbye, Cinema» des eigentlichen Titels erkennen könnte. Das finde ich aber durchaus signifikant, nämlich für die Komplizierungen, in die man bei all diesen Themen sofort gerät. Wir benutzen dieselben Begriffe für unterschiedliche Dinge: Begriffe, die in der Vergangenheit anderes bedeutet haben als sie heute bedeuten; was wir mit «Kino» meinen, ändert sich fortwährend. Wenn jemand sagt, «Ich habe einen Film gesehen», dann kann er meinen, er habe ihn auf dem iPhone oder im Kino gesehen – und dabei handelt es sich um zwei sehr verschiedene Erfahrungen, für deren Beschreibung wir noch kein adäquates Vokabular haben. Bereits Serge Daney hat darauf bestanden, dass die riesigen Probleme im Nachdenken über Film im Fernsehen oder auf Video viel zu wenig beachtet werden. Es mangelt, in den USA jedenfalls, an einer angemessenen theoretischen Auseinandersetzung. Entsprechend gibt es auch ein wirklich großes Problem für die Kritik, die noch nicht gelernt hat, sich zu diesen Unklarheiten zu verhalten.

Sehen Sie sich im Widerspruch zu jemandem wie Raymond Bellour, der in etwa sagt: Der Begriff «Kino» ist zu reservieren für die Projektion von Zelluloid an einem gegen Eintrittsgeld betretbaren öffentlichen Aufführungsort. Alles andere ist etwas anderes, vielleicht ist es «Film», eine filmartige Praxis, aber Kino ist es nicht?

Es ist etwas seltsam, denn ich habe meine Kindheit damit verbracht, Filme fast ausschließlich im Kino zu sehen, meine Familie besaß ja eine Reihe von Kinos in Alabama. Heute dagegen sehe ich eigentlich nur noch selten Filme auf 35mm, nicht nur in Richmond, Virginia, wo ich gerade unterrichte und wo das Angebot sehr begrenzt ist. Aber auch in Chicago gehe ich ziemlich selten ins Kino. Wollte ich Raymond Bellours Position übernehmen, dann müsste ich eigentlich konstatieren, das Kino bereits aufgegeben zu haben.

Das erinnert mich aber an etwas, das Olivier Assayas einmal in einem Interview gesagt hat. Was die jungen Leute heute vom Kino wollen, sagt er (ich paraphrasiere), ist eine bestimmte Erfahrung von Passivität. Sobald der Film dann aber auf DVD raus ist, dreht sich die ganze Situation um. Das wirkliche Begehren besteht dann darin, den Film zu beherrschen, ihn auseinanderzunehmen; in einem gewissen Sinn übt der Zuchauer hier fast Gewalt gegen den Film aus. Raymond konzentriert sich sozusagen auf den ersten, nicht aber auf den zweiten Teil. Ich glaube, dass beide Modi zentral sind für die kontemporäre Erfahrung von «Kino».

Das «Goodbye, Cinema» Ihres Titels drückt ein Gefühl aus, das viele zu teilen scheinen, ein weit verbreitetes nostalgisches Sentiment, vielleicht auch eine generationsspezifische Haltung. «Hello Cinephilia» dagegen ist nach der ersten euphorischen Reaktion auf die DVD heute deutlich weniger laut vernehmbar. Es gibt eine Menge Leute, die glauben, dass in den vergangenen Jahrzehnten gerade eine bestimmte Form von Cinephilie verloren gegangen ist; eine historisch gewordene Cinephilie, die bis in die 60er Jahre zurückreicht und die gemäß der gängigen Erzählung direkt mit der politischen Situation der Zeit verbunden war.

Was die Verbindung mit den politischen Bewegungen angeht, da bin ich mir nicht so sicher – jedenfalls, so weit es die USA betrifft. Mir scheint, dass der Auteurismus, wie ihn die Schüler von Andrew Sarris praktizierten, nur in dem Sinn politisch war, dass er sich gegen das Establishment richtete, dass er fast eine Pionierunternehmung war. Ich hatte so meine Schwierigkeiten mit einigen der Auteuristen damals, weil mir schien, dass es da manchen gab, der sich zwar nicht traute, seine rechten Ansichten offen zu äußern, der das dann aber implizit in seiner auteuristischen Liebe zu jemandem wie John Ford auslebte. Die Leute schrieben nicht über die politischen Ideologien der Filme. Der ganze Auteurismus der Sarris-Richtung zielte gegen Kracauer, gegen eine soziologische Herangehensweise ans Kino.

Was mir an der Cinephilie von heute so interessant scheint, ist, dass es etliche junge Menschen gibt, die so viel mehr gesehen haben, als ich in ihrem Alter je hätte sehen können. Sie sind sehr sophisticated und verschlingen nicht einfach alles, was sie in die Finger bekommen. Darum scheint mir die Cinephilie gesund und munter. Der Unterschied liegt eher darin, dass man in den 60ern einen Film sah und dann viele Monate später las man etwas darüber und noch einmal sechs Monate später traf man endlich jemanden, der ihn auch gesehen hatte. Es war alles sehr langsam.

Typischerweise kamen die wichtigen Filmzeitschriften wie Sight and Sound, Film Quarterly etc. nur alle paar Monate raus. Die Art unmittelbarer Reaktion, die man heute im Internet erlebt, gab es schlicht nicht, oder sehr selten. In New York war das natürlich ein wenig anders, aber dennoch kein Vergleich zu dem, was man heute im Internet erlebt. Das soziale Reagieren auf Filme scheint mir heute sehr viel eher im Internet zu passieren als in Cafés wie dem, in dem wir gerade sitzen, nach Ansicht eines Films im Kino. Ein wichtiger Aspekt: Es handelt sich um eine viel internationalere Community, die Menschen aus der ganzen Welt in Verbindung bringt, die an diesen Diskussionen teilnehmen, sich gegenseitig Informationen übermitteln.

Würden Sie also sagen, dass das Internet ein bestimmte Art Cinephilie gerettet, vielleicht sogar geschaffen hat?

Es hat eine Blüte möglich gemacht, die zuvor undenkbar gewesen wäre. Jemand wie der Blogger Girish Shambu ist für mich ein Musterbeispiel für all das, was mit dieser Entwicklung verbunden ist. Ein Anführer, jemand, der seine Leserinnen und Leser auf Dinge aufmerksam macht, die sie zuvor nicht kannten oder nicht schätzten. Er ist selbst ein Amateur, ein Lehrer. Eine Figur wie er wäre unvorstellbar in der Cinephilie von einst. Ich habe immer sehr gerne in meinen Texten auf andere Kritiker und Rezensionen verwiesen – deshalb fühle ich mich solchen Versuchen, die Präsenz anderer Kritiker und aktueller Diskussionen anzuerkennen, auch nahe. Wobei ich das sicher nicht so überzeugend hinbekomme wie Girish Shambu oder, in einem anderen Rahmen, David Hudson mit seinem Daily. Das ist meiner Ansicht nach ohnehin der unterschätzteste Aspekt von Kritik: Informationen bereitzustellen.

Selbst wenn sich die Zugänglichkeit zu Informationen und Filmen fraglos verbessert und ein Stück weit wohl auch enthierarchisiert hat: Verloren gegangen wäre dagegegen Kino als soziale Praxis, die Präsenz einer Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort?

Ja, aber auch nur in einem gewissen Maße. Es gibt Phänomene wie die Cineclubs in Cordoba, über die ich in einem der Texte in meinem Buch schreibe. Da stellt sich eine solche Kopräsenz gerade in der Vermittlung über das Internet wieder her. In diesen Cineclubs mit 815 Mitgliedern sehen alle jede Woche dieselben Filme. Als ich dort war, war ich über die Kenntnisse der Leute sehr überrascht. Der Kritiker und Kurator Quintín und ich haben da Vorlesungen gehalten, die über zwei Tage gingen, jede so lang wie Satantango, und es gab lange Gespräche. Generell würde ich zum Thema Internet sagen: Ich fühle mich heute sehr viel mehr als Mitglied einer Interaktions-Gemeinschaft als je zuvor. Ich weiß zum Beispiel sehr viel mehr über meine Leser, als ich je wusste, das gilt auch für meine Zeit beim Chicago Reader. Dem ich im übrigen viel zu verdanken habe, weil er meine Artikel ins Netz stellte und sie dadurch Leserinnen und Lesern auf der ganzen Welt zugänglich machte.

Cinephilie scheint für Sie stets mit einer bestimmten Gesprächskultur verbunden, einem Diskurs über das Kino, der aber aktuell, wie sie eingangs selbst anmerkten, zumindest den technologischen Aspekt ausblendet, die ästhetischen und politischen Implikationen unterschiedlicher Medienpraktiken.

Ich bin nicht sicher. Mir scheint, dass es diese Diskussionen schon auch gibt. Allerdings bin ich tatsächlich verstört, wenn ich höre, dass Leute einen Film wie Playtime auf einem Fernseher oder Laptop sehen. Andererseits kenne ich gar nicht so wenige, die ihn tatsächlich so entdeckten – Gilberto Perez zum Beispiel, der hat ihn zuerst im Kabelfernsehen gesehen. Dennoch ist das, was Serge Daney begonnen hat, nicht in zufriedenstellender Weise fortgesetzt worden. Es ist im übrigen schon alarmierend, wenn junge Menschen die Differenz zwischen einer 35 mm- oder einer DVD-Projektion nicht interessiert; oder wenn sie sie gar nicht mehr bemerken.

Ich glaube zudem, dass es eine bestimmte Sorte Filmemacher gibt, die auf Video und DVDfast «verschwinden». Bresson wäre das wichtigste Beispiel. Das Verhältnis von Bild und Ton, das bei Bresson so essenziell ist, verändert sich von Film zu Video. Es kommt andererseits auch wieder auf den einzelnen Film an, Pickpocket etwa leidet wohl weniger als L’Argent. Letzterer ist aber außerhalb des Kinos einfach nicht mehr L’Argent. Die viszerale Essenz verschwindet schlicht. Ob sich das heute mit avancierter Blu-ray-Ausstattung wieder ändert? Es kommt, nehme ich an, auf die Situation an. Das ist überhaupt ein großes Problem für die theoretische Erfassung all dieser Dinge: Jede Situation ist eine andere, für jeden Film stellt sich das ebenfalls anders dar.

Es gibt aber auch einen merkwürdigen Verkehrungseffekt bei der neuen Technologie. Blu-ray-Kopien der Filme scheinen oft zu sauber, zu scharf, hyperreal – das ist keine Frage des Verlusts von Bildqualität, eher scheint das Medium selbst sich in den Vordergrund zu schieben und dadurch den Film zu usurpieren. Das Medium wird zur Botschaft.

Ja, beides passiert. Als ich vor zwei Jahren in einem Seminar Dreyers Vampyr vorführen wollte, hatte ich die Wahl zwischen der deutschen Fassung auf Film und der Criterion-DVD. Ich habe mich dann für die DVD entschieden, weil das die bessere Version war. In beiden Fällen gab es Gewinne und Verluste. Fred Camper, der eine eigene Sammlung von Brakhage-Filmen besitzt, hat sich mit Freunden zum Vergleich die Criterion-DVDs der Filme angesehen. Sie kamen zum Ergebnis, dass in manchen Fällen die DVD besser war, in anderen nicht. Und dabei ist Fred Camper jemand, der sich weigert, einen Film zu besprechen, den er nur auf Video oder DVD gesehen hat.

Die meisten Theorien gehen davon aus, dass wir als Zuschauer immer dieselben bleiben. Aber das ist natürlich nicht wahr. Wir können sehr wohl jeweils ein anderer sein, je nachdem, ob wir einen Film zuhause auf DVD sehen oder im Kino. Es gibt da so viele Variablen, dass man kaum eine allgemeingültige Aussage treffen kann. Dennoch tendiere ich in letzter Konsequenz dazu, James Quandt zuzustimmen, dass wir uns als Kritiker etwas vormachen, wenn wir glauben, wir hätten einen Film gesehen, wenn wir ihn lediglich auf DVD gesehen haben.

Spricht die Tatsache, dass die meisten Filmzuschauer und -kritiker sich um die Unterschiede der verschiedenen Medien kaum kümmern, nicht dafür, dass sie sie einfach nicht als wesentlich betrachten? Und möglicherweise mit guten – oder vertretbaren – Gründen?

Es kommt darauf an, denn manchmal spielt es eben schon eine ganz unmittelbare Rolle. Als ich einmal McCabe and Mrs Miller auf DVD in einer zu hellen Umgebung gezeigt habe, konnten man die herzförmige Geldkassette einfach nicht erkennen, ein wichtiges Detail des Films. Ich denke, dass diese Medienindifferenz zu einer stärkeren Betonung von Faktoren führt, die mit der Qualität von Bild und Ton nichts zu tun haben – also etwa des Starsystems. Und natürlich sind die Leute daran gewöhnt, Filme im Fernsehen zu sehen; verglichen damit, ist es möglicherweise sogar besser, sie auf einem Computerbildschirm zu rezipieren. Andererseits sollten wir nicht vergessen, dass es früher auch gewaltige Unterschiede gab zwischen 16mm- und 35mm-Kopien, zwischen einer guten, einer neuen oder alten Kopie, einer guten oder schlechten Projektion, all so etwas. Diese Unterschiede waren immer wichtig, obwohl Kritiker darauf kaum je eingingen. Das ist ein anderer Aspekt einer Filmkultur in ständiger Veränderung: Wir haben neue Variationen auf ziemlich alte Themen.

Was sich qualitativ verändert hat, ist die Möglichkeit, einen Film zu besitzen. Laura Mulvey behauptet, dass der Bann des klassischen Hollywood-Kinos durch diese neue Form der Verfügbarkeit gebrochen ist. Was für sie eine gute Sache ist, denn es war ein sehr böser Bann.

Ich stimme zu, obwohl ich persönlich in meiner Jugend den Vorteil hatte, der Enkel eines Kinobesitzers in Nordalabama zu sein. Dadurch konnte ich die Filme mehrmals sehen, ich ging auch mitten während der Vorstellung ins Kino. Das ist ein Faktum, das heute auch fast vergessen ist: Man ging damals nicht so sehr einen bestimmten Film sehen, sondern man «ging ins Kino». Man war gar nicht unbedingt auf einen bestimmten Film und Starttermin fixiert, man setzte sich einfach mitten in ein Kino und blieb, bis man die Stelle, an der man gekommen war, wieder erreicht hatte und dann ging man eben wieder. Dieser Sinn für das Fließende des Kinos ist etwas, das man heute im Internet wieder hat, und das man auch im Fernsehen hatte.

Um ein wenig biografisch nachzufragen: Welche Sorte von Filmen wurden denn damals in den Kinos gezeigt, die Sie in den 50er Jahren besuchten?

Eine erstaunliche Bandbreite. In vielen unterschiedlichen Kinos. Was wirklich einen Bruch herbeigeführt hat, waren die Anti-Trust-Gesetze am Ende dieser Periode, der Paramount Case, also die Aufhebung der vertikalen Integration, der Kontrolle der Studios über die Kinos. Dadurch entstanden viele unabhängige Kinos, tausende in den Vereinigten Staaten. Es gab deshalb auch sehr viele ausländische Filme zu sehen, gar nicht wenige davon waren außerordentliche Erfolge. Rom, offene Stadt oder Fahrraddiebe, die haben Millionen eingespielt. Man vergisst auch gerne, dass diese unabhängigen Kinos die einzigen waren, die Mitternachtsfilme zeigten, das hatte mit den Vertriebskonditionen zu tun. Übrigens habe ich damals einige Filme gesehen, von denen man heute liest, sie seien im Süden verboten gewesen – ich erinnere mich, dass ich mit neun Jahren Freaksgesehen habe, eine durchaus traumatische Erfahrung.

Allerdings herrschte damals in den Kinos eine gesetzlich vorgeschriebene Segregation, das änderte sich erst mit der Bürgerrechtsbewegung in den 60ern. Das Gesetz in Alabama und Mississippi etc. schrieb vor, dass Schwarze nur ins Kino durften, wenn es abgegrenzte Bereiche gab, meistens auf der Galerie. Es gab separate Eingänge, die Schwarzen zahlten auch weniger. Sogar nach dem Civil Rights Bill existierte de facto weiterhin eine Segregation: Die beiden Kassen blieben bestehen und auch die unterschiedlichen Preise. Es war wie die Apartheid in Südafrika. Ich war allerdings sehr früh schon in der Bürgerrechtsbewegung engagiert. Schon als Kind besuchte ich ein gemischtrassiges Summer Camp in Tennessee. Ich war eines der ersten Kinder, das «We Shall Overcome» sang, das war im Summer 1961. Um auf die Frage zurückzukommen: Ich konnte tatsächlich das meiste sehen, was man auch in New York zu sehen bekam. Dennoch habe ich das Kino so richtig erst in New York entdeckt, als ich einige Jahre später dort lebte – und dann in noch einmal stärkerem Maß in Paris. Am meisten über das amerikanische Kino habe ich tatsächlich in Paris gelernt. Als ich 1969 dorthin zog – und ich blieb für fünf Jahre – waren die wichtigsten Bücher für mich Andrew Sarris’ The American Cinema und Noel Burchs Précis de Cinema, noch vor der Übersetzung ins Englische. Ich bin bei beiden Büchern den Index durchgegangen und habe mir gesagt: den Film muss ich sehen, jenen auch.

Bei der Gelegenheit: Stimmt es, dass Sie damals als Regie-Assistent bei einem Tati-Film gearbeitet haben?

Nicht ganz. Ich habe in der Tat mit Tati gearbeitet, aber nicht an einer tatsächlichen Produktion. Die offizielle Bezeichnung war «Drehbuchberater», worum es aber wirklich ging, war, dass ich sein Publikum war. Er entwarf Sequenzen für mögliche Filme immer so, dass er alles selbst spielte, die Charaktere, die Einstellungen, den Soundtrack, alles er selbst. In seinem Büro. Und von mir wollte er nichts haben als meine Reaktion.

Wie hatten Sie ihn kennengelernt?

Ich hatte ihn interviewt. Er wusste, dass Playtime mein Lieblingsfilm war. Ich hatte mich auch mit seiner Assistentin angefreundet. Der Job dauerte etwas mehr als eine Woche, das aber jeden Tag. Ich habe einen Essay darüber geschrieben, «The Death of Hulot», es war überhaupt der erste Essay, den ich je schrieb. Tati hasste Hulot, weil er ihn jedesmal wieder exhumieren musste, um Geld für seine Projekte zu bekommen. Und deshalb hat er ihn in dieser Szene, die er mir vorspielte, getötet, schon in den ersten fünf Minuten des geplanten Films. Das war ganz erstaunlich, das lustigste, das er je geschrieben hat, für einen Film übers Fernsehen, der dann nie entstand, mit dem Titel Confusion. Die betreffende Szene war ein Live-Drama in einem Fernsehstudio, es gab da Revolver mit Platzpatronen, vermeintlich. Aus irgendwelchen Gründen sind die Patronen aber echt und Hulot, der zufällig vorbeikommt, wird versehentlich erschossen. Das extrem Komische daran war, dass die Schauspieler in dem Live-Drama die ganze Zeit über seine auf dem Boden herumliegende Leiche stolperten, während sie ungerührt weiterspielten. Das war wirklich einer der beiden besten Jobs, die ich hatte. Ich bekam sogar Geld, obwohl Tati nach Playtime bankrott war.

Der andere Job?

Ich war ein Statist in Bressons Quatre nuits d’un rêveur, ging einfach auf der Sraße vorüber. Der Job war allerdings nicht bezahlt.

Zurück zu Ihren frühen Erfahrungen. Sie haben also Filme ausschließlich im Kino gesehen? Das ist schon ein sehr elementarer Unterschied zu allen, die in den 80ern mit Fernsehen und VHS oder seit den 90ern mit Fernsehen, DVD und Internet filmsozialisiert worden sind.

Ja, fast ausschließlich Kino. Ich erinnere mich an ein paar sehr seltene Gelegenheiten, bei denen ich auch einmal einen Film im Fernsehen gesehen habe, Orson Welles’ Othello zum Beispiel. Das interessante an der gegenwärtigen Situation, ein weiteres Paradox, ist ja auch, dass die Art, wie man heute Filme sieht, fast Peter Kubelkas Idee des «Unsichtbaren Kinos» zu gleichen scheint. Man ist von der Umwelt abgeschlossen, ganz für sich, nicht abgelenkt durch das Lachen anderer Leute: eine komplett solipsistische, narzisstische Erfahrung. In gewisser Weise ist das Sehen eines Films auf dem Laptop fast eine Parodie von Kubelkas Konzept.

Wie kinofixiert sind Sie heute? Sehen Sie sich aktuelle Fernsehserien an? The Sopranos, The Wire, Mad Men?

Nein. Gar nicht. Obwohl ich in Chicago Kabelfernsehen habe, sehe ich keine Sitcoms, keine Serien, nein. Nachrichten, gelegentlich Filme. Manchmal bin ich neugierig, vielleicht würde es mich interessieren, wenn ich einmal anfinge. Ich habe damals Twin Peaks gesehen und war begeistert, zunächst jedenfalls, die späteren Folgen fand ich eher enttäuschend. Es scheint mir schon so, dass das Fernsehen heute näher dran ist an der Gegenwart als das Kino. Das war in den 50ern anders, ganz entgegen den Vorstellungen, die man heute dazu hat. Da war das Kino viel relevanter für das, was zu der Zeit gesellschaftlich wichtig war, als es heute der Fall ist. Es gibt heute kaum ein Äquivalent zu Filmen wie Bigger Than Life oder Johnny Guitar. Diese Ansicht spiegelt sich übrigens auch in der 1000-Filme-Liste, die ich gemacht habe. Jemand hat die Verteilung auf die einzelnen Jahrzehnte gezählt und es kam heraus, dass die bei weitem am stärksten repräsentierte Dekade die 50er waren.

In der Hinsicht bin ich wahrscheinlich ganz typisch für meine Generation. Wo ich mich dann aber unterscheide, ist, dass die meisten Kollegen in meinem Alter eine viel negativere, manchmal geradezu apokalyptische Einstellung zur Gegenwart und Zukunft von Kino, Filmkritik etc. haben. Das teile ich überhaupt nicht. Man nehme nur das Online-Magazin «Rouge». Ich glaube nicht, dass eine einzige englischsprachige Filmzeitschrift der 60er so gut war wie «Rouge» heute. Die Leute haben überhaupt eine sehr verzerrte Erinnerung. Nein, die Zuschauer haben in den 60ern nicht die Kinos gestürmt, um den neuesten Godard zu sehen. Diese Filme wurden von den Kritikern in New York attackiert, mit ganz wenigen Ausnahmen. Die Leute vergessen, dass sogar die heute berühmten Debatten, etwa zwischen Pauline Kael und Andrew Sarris, in Publikationen mit sehr kleinen Auflagen stattfanden.

Andererseits sind mir diese Zahlenspiele sehr unsympathisch. Ich bin nicht der Ansicht, dass die Zahl der Leute, die einen Film sehen oder eine Zeitschrift lesen, von besonderer Bedeutung ist. Die eigenen Texte, die mir am wichtigsten sind, sind in sehr kleinen Magazinen erschienen, in Trafic zum Beispiel, eine Zeitschrift, die nie auch nur eine Auflage von 1500 Heften erreicht hat. Was meine Website angeht, bin ich auch nicht auf absolute Besucherzahlen stolz, sondern darauf, dass Menschen aus über 140 Ländern der Welt sie besuchen, um die Texte in meinem Blog zu lesen. Es ist die Qualität, nicht die Quantität, die zählt. All diese Bewegungen bestehen zunächst aus einem kleinen Kreis von Freunden. Das einzige Mal dagegen, dass ich etwas für die New York Times geschrieben hab – einen Nachruf auf Ingmar Bergman –, war eine höchst unangenehme Erfahrung. Ich musste den Artikel fünf Mal umschreiben, bevor sie ihn veröffentlichen wollten. Der Titel («Scenes from an Overrated Career») war nicht von mir. Es war wie ein Teufelspakt, es war am Ende ihr Text, nicht mehr meiner.

In vielen Essays ihres aktuellen Buches ist die Bush-Ära erwartungsgemäß sehr präsent. Obama hingegen kommt noch nicht vor. Ganz allgemein gefragt: Wie schätzen Sie die ersten Jahre seiner Präsidenschaft ein?

Nun, es gibt da sicher eine gewisse Ambivalenz. Zunächst war die Euphorie bei vielen, die ich kenne, enorm groß. Jetzt gibt es eine Menge Verärgerung und Frustration. Teilweise verstehe ich das. Allerdings richtet es sich bei mir nicht direkt gegen ihn, einigen Enttäuschungen zum Trotz. Was ich absurd finde, sind allerdings all jene, die auf Bush wütend waren und nun genauso wütend auf Obama sind. Das ist unbegreiflich. Es gibt zudem wirklich etwas wie einen Bürgerkrieg, so tief geht die Spaltung. Und die Medien tragen ihren Teil zur weiteren Spaltung bei, statt zu vermitteln oder zu versöhnen. Sie tun, was sie können, um die Menschen auf beiden Seiten noch wütender zu machen, als sie ohnehin schon sind. Lügen werden als Tatsachen verbreitet. Ich habe gelesen, dass gerade mal acht Prozent der Leute wissen, dass Obama die Steuern gesenkt hat. Diese Einseitigkeit ist möglicherweise die negative Seite des Internets. Es herrscht eine sehr vergiftete Atmosphäre. Man könnte die Bewohner der USA geradezu unterteilen in jene, die Amerika nie verlassen haben und jene, die schon einmal im Ausland waren. Und George W. Bush gehört, gelegentlichen Reisen zum Trotz, zu jenen, die die USA nie verlassen haben. Das sind wohl auch jene, die sagen, Obama sei ein Sozialist oder dergleichen. Die haben gar keine Ahnung, was Sozialismus bedeutet.

Würden Sie sagen, dass der «cultural divide» heute tiefer ist, als je zuvor?

Nun ja, natürlich war die Spaltung sehr tief in meiner Jugend in Alabama. Aber das war Alabama, nicht das ganze Land. Der Aufenthalt in dem gemischtrassigen Summer Camp hat mich da sehr radikalisiert. Man hat mit Steinen und Flaschen nach mir geworfen, nur weil ich neben einem Schwarzen saß. Was heute geschieht, scheint mir aber alarmierender wegen der Hate Crimes, der Menge der Waffen, die man heute in aller Öffentlichkeit tragen darf. Was mich auch deprimiert, ist, dass es keine politisch korrekte Möglichkeit zu geben scheint, Obamas ethnische Zugehörigkeit zu beschreiben. Gemischtrassig können die Leute nicht sagen. Es gibt jene, die behaupten, er hasse die Weißen. Aber hasst er dann seine Mutter, die weiß ist? Oder hasst er einen Teil von sich selbst? Das macht die Leute ganz verrückt, dass er in kein Klischee zu passen scheint.

Insgesamt scheint es mir, dass der Kapitalismus noch nie so hässlich aussah wie heute. Es gibt viel versteckten und verleugneten Rassismus. Ich kenne Afroamerikaner, die meinten, die Situation in Alabama sei noch erträglicher gewesen als heute in New York oder Chicago, weil man in Alabama wenigstens eindeutig wusste, woran man ist. Heute gibt es eine allgemeine Weigerung, in diesen Dingen ehrlich zu sein. Der Unterschied ist, dass man heute kaum noch aufrichtig von einem «Wir» sprechen und damit alle Amerikaner meinen kann.

Das wäre das frühzeitige Ende des halbutopischen «Yes We Can»?

Ja. Ich kenne eine Menge Leute, die ihn gewählt haben und ihn heute verachten. Aus verschiedenen Gründen. Und es ist nicht immer so klar, worüber sie sich genau beschweren. Manche meinen, er sollte wütender agieren. Ich habe auch ein gewaltiges Problem mit dem Afghanistan-Krieg, dennoch gilt: Er ist ein Präsident, für den ich mich als Amerikaner nicht schämen muss. Noch bevor er antrat, habe ich mich kurz für die Demokraten engagiert. Bei einer Versammlung habe ich gefragt: «Können wir uns nicht die Tatsache zunutze machen, dass die ganze Welt George W. Bush mindestens ebenso sehr hasst wie wir ihn hassen?» Jemand meinte darauf nur: «Träum weiter …» und ich sagte, «Du hast recht», verließ die Versammlung und stellte meine Arbeit für die Demokraten ein. Es kommt mir so seltsam vor, dass die USA heute stärker vom Rest der Welt isoliert scheinen als während des Kalten Kriegs. Dem Internet zum Trotz. Was nur beweist, dass Technologie nicht hilft, wenn die Leute in ihrem Bewusstsein nicht zu einer Öffnung bereit sind.

Noch radikaler ist die Position von Cass Sunstein, einem Obama-Berater und Harvard-Professor. Er sagt, dass das Internet die Spaltungen sogar verstärkt, weil die Leute in ihrer eigenen Sphäre, in ihren jeweiligen weltanschaulichen Nischen bleiben.

Da ist viel Wahres dran. Ich habe ehrlich gesagt noch nie jemanden gekannt oder kennengelernt, der George W. Bush unterstützt hätte. Man kennt den Gegner nicht.

Um den Bogen zum Beginn unseres Gesprächs zu schlagen: Verhält es sich mit den cinephilen Subkulturen im Netz nicht möglicherweise ähnlich? Intern differenzierte, nach außen indifferente Vernischung?

Das stimmt. Nur ein Beispiel: Todd McCarthy – der langjährige Chefkritiker von Variety, bis er vor kurzem gefeuert wurde –, schrieb, dass er Godard nicht mehr ernst nehmen könne, seit er von dessen Äußerung gelesen habe, dass er den Apollo-Astronauten den Tod wünsche. Seine Besprechung von Film Socialisme war darum auch kaum als solche zu bezeichnen. Kurz darauf sprang Roger Ebert auf den Zug und alle behandelten das, als habe Godard das erst gestern gesagt. Dabei stammt das aus dem Jahr 1971. Und zu der Zeit hat er weiß Gott noch ganz andere Dinge gesagt.

Der Punkt dabei ist, dass es da eine klare Spaltung gab. Mich traf das besonders, denn ich kenne Todd noch aus seinen Studententagen. Er war damals noch eine andere Person; es muss einen verändern, wenn man Jahrzehnte für Variety schreibt. Ich sehe aber grundsätzlich diese Trennung zwischen Mainstream-Positionen und intellektuelleren Positionen. Pauline Kael zum Beispiel war, als ich anfing, sie zu lesen, auf der einen Seite und wechselte dann auf die andere. Jemand, die – auch wenn sie selbst das sicher nicht so sah – zur Apologetin der Filmindustrie wurde. Das ging so weit, dass sie sich Godard-Filme erst gar nicht mehr ansah. Ich denke, dass das in gewisser Weise auch Andrew Sarris so erging.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese Spaltungen heute, in Zeiten des Internet tiefer gehen als zuvor. Eine wichtige Veränderung ist sicher die starke Zunahme der akademischen Beschäftigung mit dem Film. Wobei ich da teilweise noch reaktionärere Positionen sehe als in der Mainstream-Filmkritik. Das ist in vieler Hinsicht sehr verstörend. Seit ich in den 70ern mit dem Kreis um die Zeitschrift Screen zu tun hatte (und ich war mit manchen davon befreundet), stoße ich immer wieder auf diese Haltung, dass es besser ist, nicht zu viele Filme zu sehen, weil man seine theoretischen Positionen so nicht in Gefahr bringt. Die Idee, dass man Theorie als Selbstzweck praktiziert, statt sie als Instrument für etwas anderes zu benutzen, finde ich pervers.

 

Mit Jonathan Rosenbaum sprachen Ekkehard Knörer und Simon Rothöhler

Jonathan Rosenbaum: Goodbye Cinema, Hello Cinephilia. Film Culture in Transition (University of Chicago Press 2010)