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Im ritterlichen Moment Ein freundlicher Sachbearbeiter für komplizierte Fälle: Ein Gespräch über die Filme des Hollywoodregisseurs Allan Dwan

Von Michael Baute und Rainer Knepperges

Slightly Scarlet (1956)

© RKO Radio Pictures

 

Rainer Knepperges: Allan Dwans Filmografie erstreckt sich breit über die ersten fünf Jahrzehnte Hollywoods und es ist noch keinem leicht gefallen, zu sagen, was an den 400 Filmen, die dieser Regisseur gemacht hat, die klar erkennbare Signatur ist. Alle Bemühungen, sein Schaffen, seine Themen, seinen Stil zu charakterisieren, haben etwas Ungelenkes, beinahe Albernes, denn in diesem stetig strömenden Fluss, den man abschätzig Mainstream nennt, fühlte sich Dwan pudelwohl. Wie 400 Fische im Wasser.

Michael Baute: Dwan bewegte sich in den vorgegebenen Genres und eckte dabei nie an. Er war der Lieblingsregisseur von Douglas Fairbanks, Gloria Swanson und Shirley Temple. Eine Zeitlang, von den 10ern bis in die 30er, machte er richtiges Starkino. Er erweiterte aber gerne das Figurenspektrum, erhöhte die Anzahl der Figuren, denn er dachte in Ensembles.

RK: In seinen Filmen stehen häufiger als gewöhnlich drei, vier, fünf Leute im Mittelpunkt, also keine Einsamen und auch kein einzelnes Paar, keine formierte Gruppe, keine gefährdete Familie, sondern ein offenes Ensemble, durch das hindurch gleich mehrere Gräben verlaufen.

MB: 1969, im Interview mit Bogdanovich, beschreibt Dwan, wie er sogar in die blödesten Auftragswerke mindestens eine Woche Überarbeitung investierte. Er erklärt da ein geometrisches Modell: Er baute Dreiecke aus den Figuren, um deren Spielraum beweglich zu gestalten. Film, sagt Dwan, ist Bewegung. Aber anders als bei den klassischen Hollywoodabenteuern von Walsh oder Hawks ist bei ihm die Bewegung kein Charakterattribut, nicht Ausdruck von Virilität, sie ist reine Filmbewegung.

RK: Bei Dwan gibt es ungewöhnlich häufig diese Konstellation, dass zwei von einem dritten beobachtet werden. Oder einer nimmt Einfluss auf ein Paar, bedroht es. Und dann kommt irgendwann ganz unerwartet der Moment, wo das Beobachten Einfluss nimmt auf den, der beobachtet, der draußen steht. Dwans Œuvre wimmelt von «good bad girls» und charmanten Bösewichtern, denen oft am Ende des Films abrupte Ritterlichkeit in den Leib fährt. Oder ein gutes Herz schlägt dann im bösen Mädchen. Das geschieht bei Dwan glaubwürdiger als irgendwo sonst, einfach indem, ganz ohne mühseligen Charakterwandel, einer die Schönheit der Gefühle bemerkt – bei den zwei Anderen im Dreieck.

MB: Dwan ist dabei kein Regisseur des Raums. Schuss-Gegenschuss funktioniert bei ihm nie als räumliche Konstante. Was Dwan betreibt, ist abstrakte Geometrie.

RK: Er braucht keine vier Wände, mitunter nicht mal drei. Er hat gerne in langen Sequenzen gedreht, mit zwischengeschnittenen Nahaufnahmen. Das ist natürlich nicht der Gipfel an Eleganz. Interessanterweise geschieht der Nachvollzug der Gefühle beim Zuschauer dennoch wie im Traum, obwohl häufig nicht mal die Blicke «ordentlich» verknüpft sind.

MB: Auch wenn er grandiose Kulissen zur Verfügung hat, bei den großen 20er-Jahre-Filmen, bei Robin Hood (1922) oder der Musketier-Verfilmung Iron Mask (1929), lässt er sich von den Raumschauwerten der Dekors nicht fesseln. Er übersetzt die Räume in sich verschiebende Vorzeichen. Besonders eindrücklich ist das bei Surrender (1950). Dort gibt es nur eine Handvoll Handlungsorte. Es beginnt in dunklen Gassen, ganz expressionistisch. Doch auf einer Ranch außerhalb der Stadt wird der Film zum musikalischen Luststück, verwandelt sich im Hinterzimmer eines Saloons in einen Noir-Western …

RK: … und endet auf kahlen Bergen als blutiges Melodram. Viele Filme von Dwan haben keine eindeutige Stimmung, keinen Tonfall, auf den man sich verlassen kann. Alles kann ständig ins Komische kippen oder tragisch enden. Das ist spannend. Fast könnte man das für Herzlosigkeit halten, diese Kenntnis der Gefühlswelt.

MB: Es ist bei Dwan eine Kühle, die sich gegen atmosphärische Verdichtungen wehrt. Im Gegensatz zu Borzage, Ford oder Hawks spielt Musik bei ihm fast überhaupt keine Rolle. Auch gibt es nie langsame Schwenks an Flüssen entlang, auf Wolken oder einen herumstehenden Kaktus. Stimmung, die durch die Dauer eines Blicks auf Natur entstünde, oder gar Mystisches, würde zu seinen dynamischen Dreieckskonstruktionen nicht passen.

RK: Dwan hat eine so wahnsinnige Freude am Filmemachen gehabt, weil er zwei Ausbildungen hatte: als Elektroingenieur und Storyschreiber war er Fachmann für Licht und Geschehen. Von 1911 bis 1914 stellte er ein paar hundertmal seine Darsteller in rasch erdachte Konstellationen und ließ sie im Schein seiner Lampen agieren. Diese Filme waren nur kurz, aber die langen waren aus dem gleichen Stoff, aus aufeinandergestapelten, aneinandergeklebten Konflikten zwischen mehr als zwei Leuten. Es muss ein unglaubliches Vergnügen für ihn gewesen sein, mit egal welchen Schauspielern unter egal welchen Bedingungen immer wieder Leben zu erzeugen. Endlos!

MB: In Interviews wirkt er nicht besonders geheimnisvoll, mir erscheint er da wie ein freundlicher Sachbearbeiter für komplizierte Fälle. Er findet sehr sachliche, kluge, dann auch überraschende und teilweise abstruse, schließlich immer sehr stimmige Lösungen für die Aufgaben, als die er seine Filme ansah. Es gib bei Dwan dabei aber kaum etwas, was man als «persönlich» zu bezeichnen gelernt hat. Es gibt selten Misanthropien, Melancholien, Ideologien oder Exzesse – letztere allerdings doch: in den Filmen mit Douglas Fairbanks. Jedes Objekt im Bild wird von Fairbanks sofort behüpft, um übersprungen zu werden. In A Modern Musketeer (1917) ist eine der ersten Sachen, die er macht, aus dem Elternhaus rauszurennen und erstmal schnell auf den Kirchturm zu klettern. Diese kindliche Freude an überwältigend hüpfenden Bewegungen bei Fairbanks überträgt sich sehr, sie ist aber nicht typisch für Dwan.

RK: Dwan wusste, ob und wie er eine Sensation zu präsentieren hatte; Gloria Swanson in Manhandled (1924) ist sagenhaft komisch und sexy; Audrey Totter ist das beste böse Mädchen der Welt in Woman They Almost Lynched (1953). Aber wenn man das Spezifische an Dwan beschreiben will, stößt man möglicherweise nur auf das Wesen aller Kinoabenteuer. Jedenfalls auf das Gröbste an frühkindlicher Filmerfahrung und gleichzeitig auch das Feinste! Vielleicht lebt auch nur das 19. Jahrhundert weiter in Dwan, der Fortsetzungsroman, Alexandre Dumas. Diese erstaunlichen Treueverhältnisse zwischen den Figuren. Anthony Quinns Anhänglichkeit an Debra Paget in The River’s Edge (1957): ohne Vertrauen darauf, dass sie zurück kommt, bleibt er einfach dran, steht ihr bei, durch Dick und Dünn. Selbst der radioaktive Most Dangerous Man Alive (1961) wird nicht alleingelassen. Die Schwestern in Slightly Scarlet  (1956) oder die Jungs in Tennessee’s Partner (1955), die Menschen bei Dwan sind wie Musketiere: für einander da.

MB: Ihre Treueschwüre sind stets weit vor den Filmhandlungen geschehen. Es gibt keine Rückblenden dahin zurück.

RK: Es wird vielleicht einem Dritten erklärt: «Er hat mir mal das Leben gerettet». Aber es gibt nie eine Rückblende bei Dwan! Es wird auch nichts als Beweis eines vorher formulierten Gefühls erbracht. Es ergibt sich einfach. Es ergibt sich die Gelegenheit, einem anderen das Leben zu retten und daraus ergibt sich wiederum eine Konsequenz – eben diese Treue. Sie wird ungeheuerlich durchgehalten, fast gegen die Erwartung des Zuschauers. Der Zuschauer würde es oft für natürlicher halten, dass einer ausschert aus seinem Treuegelübde und sich gegen den anderen richtet. Konflikt! Aber bei Dwan ist für den Konflikt ja die dritte Person da!

MB: Der Dritte ist der Botenstoff, der das, was die beiden anderen Pole miteinander verbindet, dem Zuschauer mitteilt.

RK: Aber die Basis des Dreiecks kann sich auch wieder verschieben. Das Dreieck kann sich auf eine andere Seite legen. Dwans Bösewichter trifft zuletzt der Tod auch nicht als Strafe. Sie werden vom Sterben überrascht im genau richtigen, im ritterlichen Moment. Es geht Dwan stets um diese gefährdeten ritterlichen Gefühle und es wird erzählt, wie wenig das, was die Menschen eigentlich aneinander bindet, zu gefährden ist. Das ist sehr tröstlich. Man lässt sich das sehr gerne erzählen.

 

Den tollen Gloria Swanson-Film Manhandled (1924) gibt es bei der US-amerikanischen Grapevine Video, ebenso wie die kurzen frühen Douglas Fairbanks Filme The Habit of Happiness (1916) und Manhattan Madness (1916). Eine in Frankreich bei Carlotta erschienene Box (5 DVDs) enthält das essenzielle Spätwerk (minus Surrender, The Woman They Almost Lynched und Driftwood). Robin Hood (1922) und Iron Mask (1929) sind bei der amerikanischen Kino DVD Edition erschienen, die anderen Stummfilme und vor allem die 400 frühen One-Reeler, so sie überhaupt noch vorhanden sind, bislang noch nicht. Die meisten der 30er-, 40er- und frühen 50er-Jahre-Filme findet man – wenn überhaupt – nur als VHS oder Fernsehmitschnitte bei Sammlern. Ausnahmen: Die Filme mit Shirley Temple (Heidi (1937), Rebecca of Sunnybrook Farm (1938), John Wayne (Sands of Iwo Jima, (1950) und ein paar von Dwans Komödien. Auch Dwans letzter Film, der in 7 Tagen gedrehte The Most Dangerous Man Alive (1961), kursiert nur als rauer Fernsehmitschnitt.