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Alpha, Sex und Omega Beim Wiedersehen von Ingmar Bergman

Von Bert Rebhandl

© Arthaus

 

«Papa hat mit mir geredet!» Mit diesem Satz endet Ingmar Bergmans Wie in einem Spiegel (Sasom ien spegel, 1961). Der junge Mann, der ihn ausspricht, ein wenig verwundert, aber auch wie erlöst, ist ein Stückeschreiber namens Minus, der den Sommer auf einer Insel verbringt, in Gesellschaft seiner psychisch kranken Schwester Karin, ihres Mannes Martin – und des Vaters David, der von einem Aufenthalt aus der Schweiz zurückgekommen ist, um seinen Kindern nahe zu sein. Diese Nähe, nach der es Minus und Karin so verlangt, fällt ihm deswegen nicht so leicht, weil er von Beruf Schriftsteller ist, weil ihm deswegen alles zum Material wird, selbst die Psychosen seiner Tochter. Er sieht sie als einen Fall, so schreibt er das auch in sein Tagebuch, und als Karin, von ihren Stimmen und Geister getrieben, nachts diese Aufzeichnungen liest und ihre Objektivierung begreift, ist der nächste Schub ihrer Krankheit nicht mehr aufzuhalten.

Wie in einem Spiegel entstammt jener zweiten Werkphase von Ingmar Bergman, die mit dem Erfolg von Sehnsucht der Frauen (Kvinnors väntan, 1952) beginnt und in einer aktuellen Box ganz gut repräsentiert ist, wenngleich hier die Auswahl bis zur Kinofassung von Fanny und Alexander (Fanny och Alexander, 1982) reicht und insgesamt das bei einem Werk diesen Umfangs wünschenswerte chronologische Prinzip nicht durchgehalten wird – das hat auch damit zu tun, dass schon eine frühere Ingmar Bergman Edition mit den kanonischen Meisterwerken (von Das siebente Siegel / Det sjunde inseglet, 1957, bis Szenen einer Ehe / Scener ur ett äktenskap, 1973) auf dem Markt ist, und dazu noch eine ältere mit so interessanten und umstrittenen Nebenwerken wie Das Schlangenei (The Serpent’s Egg, 1977). Man muss also bei Bergman immer ein wenig herumsuchen, wenn man die Filme in ihrer werkhistorischen Abfolge sehen möchte; in England erscheint die Ingmar Bergman Collection bei Tartan Video in Einzelausgaben, ein Boxset mit 30 Discs liegt ebenfalls vor, von Vollständigkeit kann auch hier keine Rede sein.

Bedrohungsszenarien

Ich nehme deswegen die in diesem Jahr erschienene Ingmar Bergman Edition von Arthaus als eine Zufallsmenge, um mich wieder einmal mit diesem Werk zu beschäftigen, das bei der Berlinale 2011 die Retrospektive ausmachen wird, und das vielfach immer noch mit einer Essenz des Kinos im 20. Jahrhundert assoziiert wird – dass Bergman der beste Filmemacher aller Zeiten gewesen wäre, ist als Klischee vermutlich auch deswegen ein wenig hartnäckig, weil Woody Allen das lange Zeit behauptet hat. Was sich hinter diesem Diktum verbirgt, sind wesentliche Fragen über Universalität, Regionalität, Historizität und Medialität der Erzählungen, die Bergman hinterlassen hat. Die Relevanzdebatte, die das Kino und die dafür gemachten Filme zu Beginn eine Weile begleitet hatte, hatte sich mit Bergman gründlich erledigt – so gründlich, dass sie danach unweigerlich auf andere Weise wieder losbrechen musste, weil es eine ähnliche Konjunktur großer Fragen wie in seinem Werk (von Gott über die freie Liebe bis zur Atombombe, also Alpha, Sex und Omega) danach in dieser kompakten Form nicht mehr gegeben hat. Nicht mehr geben konnte, weil der christlich-europäische Vatergott im Zuge der Globalisierung epochale Konkurrenz bekommen hat, weil sich die Bedrohungsszenarien stark ausdifferenziert haben, und weil die sexuelle Revolution längst weit über die heterosexuelle «Untreue» und die serielle Monogamie hinaus ist, die bei Bergman das libidinöse Zentralmoment war.

Die Vokabel «Gott», die in Wie in einem Spiegeleher eine Transzendenzchiffre als eine personale Appellationsinstanz bezeichnet, ist in dieser Phase von Bergman das ganz Andere eines bürgerlichen Begehrens, das vor allem an seiner Überdeterminiertheit leidet. Es will Anerkennung von den Eltern, Abgrenzung von der zugeschriebenen Rolle, Symbiose mit dem geliebten Partner, Sicherheit vor einer göttlichen Durchbrechung der übersehbaren Weltgrenzen, in denen man es sich eingerichtet hat. In diesem komplizierten Zusammenhang steht das Individuum niemals (und auch nicht wenigstens zuerst einmal) für sich – es ist immer schon Sohn, Tochter, Vater, Ehemann, Gattin, Geliebte, Verschmähte, und als solches wartet es immer auf ein Wort.

In Wie in einem Spiegel wird diese Sehnsucht am Ende erfüllt, wenn Minus von seinem Vater ein Wort der Anteilnahme vernimmt, das seiner Schwester gilt, das er so aber auch auf sich beziehen kann. In dem Episodenfilm Sehnsucht derFrauen wird die Geschichte von Marta charakteristischerweise beinahe als Stummfilm erzählt, als ein Tagtraum, aus dem sich die Erzählung verflüchtigt hat, die ihn aber doch noch einholt. Marta ist, hochschwanger, allein in ihrer Wohnung in Stockholm, und während sie sich darauf vorbereitet, bald ins Krankenhaus zu fahren, erlebt sie jene leeren Momente, die erst das Vergehen der Zeit (den hörbaren Takt der Uhr) so eindringlich werden lassen. Sie erinnert sich an eine Zeit in Paris, in der sie sich in Martin verliebt hatte, einen jungen Maler aus Schweden, der ihr auf eine poetische Weise den Hof machte. Warum ist sie eigentlich allein in Paris? Wir können sie uns als eine Ausreißerin vorstellen, wie sie bei Bergman häufig vorkommen, nicht selten spricht ihnen eine väterliche Figur schon beim Weggehen das Urteil nach – sie werden unterwegs den «Schmerz» finden und mit dieser Erfahrung zurückkehren.

Boulevardtheater

Marta lässt sich mit Martin ein, und irgendwann möchte sie ihn mit einer großen Nachricht überraschen – sie ist schwanger. Doch just an diesem Tag hat ihr Geliebter erfahren, dass sein Vater in Schweden, vor dem er nach Paris weggelaufen war, gestorben ist. Das Wort «Vater ist tot» (das Martin von seinen Brüdern überbracht wird) setzt sich in diesen Szenen so überdeutlich an die Stelle des «Wir bekommen ein Kind» (das ihm seine Geliebte überbringen möchte, die aber buchstäblich nicht zu Wort kommt), dass daran die Beziehung zerbricht. Allerdings nur für einen Moment, denn Sehnsucht der Frauen ist von jener Resignation geprägt, die so häufig mit dem überlegenen «häuslichen» Wissen der Frauen identifiziert wird, die ihre lebensunfähigen Ehemänner heimlich bedauern, ihnen aber in jeder Hinsicht den Rücken freihalten für das Leben der Entscheidungen, das sie «draußen» führen. Der Film ist in Rückblenden erzählt, und der eigentliche Suspense der Episode mit Marta liegt darin, dass so lange wie möglich unklar bleiben soll, dass Martin ja doch auch nur einer der Brüder aus einer honorigen Industriellenfamilie ist, deren Ehefrauen hier in deren Abwesenheit zusammensitzen und sich ihre Geschichten erzählen – um sich die Wartezeit auf das Eintreffen der Männer zu verkürzen.

Das Spiel zwischen Tönen und Worten, auf das die Episode von Marta hinausläuft, suspendiert also nur vorübergehend die Ehe-Teleologie, in deren Vollzug (oder besser: Akzeptanz) Reife und Resignation auf eine Weise zusammenfallen, die eigentlich in das Genre der Komödie gehört. Die berühmteste Episode aus Sehnsucht der Frauen ist die, in der ein Ehepaar in einem Aufzug steckenbleibt und diesen erzwungenen Aufenthalt damit zubringt, eine kleine Boulevardtheatersituation durchzuspielen, mit (angesichts der exponierten Situation) «erpressten» Geständnissen und plötzlicher Lust. Es ist eine Szene, die gerade noch so diesseits der Parodie  funktioniert, und die zugleich deutlich macht, dass auch bei Bergman die Analytik von Rollenbildern schon jederzeit in ein freies Spiel der Identitäten umkippen könnte – eine Möglichkeit, die sich danach aber sofort wieder verschließt. Am Ende kommen die Ehemänner an den Ferienort, und stellen das vollständige Bild des Patriarchats wieder her, das die Erzählungen zugunsten der eingeräumten Sehnsüchte der Frauen aufgegeben haben.

Mummenschanz

Dem gewichtigen bürgerlichen Erbe der unausweichlichen Genealogien entspricht bei Bergman eine filmhistorische Abstammungslinie, die vor allem auf zwei Ebenen wirksam wird: Er lässt seine Erzählungen immer wieder auf Momente nicht so sehr des stummen Films als vielmehr eines Tonfilms ohne Dialoge zurückfallen, evoziert damit einen sensorischen, wortlosen Film, der nicht von den bürgerlichen, dramatischen Erzählformen in Dienst genommen wurde; und er gestaltet mit seinem Kameramann in diesen Jahren, Sven Nykvist, kontraststarke, expressionistische Schwarzweißbilder, die in die bürgerlichen Erzählungen anachronistische Elemente einführen, und die auf DVD sehr gut zur Geltung kommen, also nicht an eine spezifischen Medialität gebunden sind. In der Figur des Doktor Vogler aus Das Gesicht (Ansiktet, 1958) fallen die beiden Momente zusammen. Er ist eine unheimliche Gestalt mit angeklebtem schwarzen Bart, und er spricht nicht. Für eine Weile, solange sein Magnetisches Gesundheitstheater Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Pferdekutsche durch den Wald unterwegs ist, scheint sich die ganze Natur an diesem möglicherweise schwarzen Magier auszurichten, um dessen Entlarvung es Bergman dann aber doch vornehmlich geht. Es ist allerdings eine Entlarvung, die einer anderen dient – denn indem sie den armen Doktor mit seiner de facto lächerlichen Revuetruppe vorführen, geben sich die bürgerlichen Kräfte (ein Pater familias, ein Arzt, ein Polizeibeamter) als die Philister zu erkennen, als die sie schon physiognomisch ausgewiesen sind. Bergman opfert ein ästhetisches Interesse an einem «übersinnlichen» Leben an der Grenze zum Tod einem Mummenschanz, dessen billige Pointe unangenehm auf den Film zurückwirkt: Das Gesicht betreibt Gesellschaftskritik in einer allegorischen Form, die so unverbindlich ist, dass sie nicht einmal als Satyrspiel zu dem metaphysischen Ernst von Dassiebente Siegelso richtig plausibel wird. Der ein Jahr früher entstandene Welthit ist aber ohnehin in der anderen Ingmar Bergman Edition mit den großen Erfolgen enthalten.

 

Sommaren med Monika (1953)

© Arthaus

 

Der Traum ist für alle diese Filme das konkurrierende Medium, am deutlichsten wird das in Die Zeit mit Monika (Sommaren med Monika, 1953), in dem das Träumen ausdrücklich an die Stelle des Kinos tritt. Zwei junge Leute, der Handelsgehilfe Harry und die unstete Monika, beschließen, gemeinsam abzuhauen, gehen aber vorher noch ins Kino. Sie verbringen schließlich ein paar Wochen in den Schären vor Stockholm, in einer Naturlandschaft, die vollkommen unberührt ist, in der die bürgerliche Lebenswelt aber in Reichweite bleibt. Bergman erzählt diese Begebenheit in jeder Hinsicht als einen Zivilisationsmythos, der die jungen Leute hinaus in die Freiheit führt (der Nacktheit von Harriet Anderson entspricht ihr Verlust der Sprache: sie singt nur noch «lalalalala»), und von dort aufgrund von Hunger und «Krieg» (die Attacke eines benachbarten Campers ist eine der bizarrsten Szenen in seinem ganzen Werk) wieder zurück zu den Häusern, in denen richtig gekocht wird. Die Zeit mit Monika endet dort, wo sie begonnen hat – bei der Angst des Mädchens vor der väterlichen Gewalt, in die Harry unwillkürlich eintritt; auch er schlägt Monika und ist am Ende mit seinen Erinnerungen an einen wie geträumten Sommer allein.

Küchenwaren

Das ist nun eine Geschichte, die so oder so ähnlich schon unzählige Male erzählt worden ist, denn sie enthält einen sehr universellen Kern (dass die Kinder ihre Eltern verlassen und am Ende trotzdem an deren Stelle treten), den Bergman in die charakteristische Landschaft seiner schwedischen Heimat einträgt. Die Schären, die Brücken von Stockholm, der kurze Sommer verweisen darauf, dass dieser Sommer der Freiheit schon aus natürlichen Gründen ein kurzer sein wird, und tatsächlich sind es auch die vegetativen Bedürfnisse, die zuerst an eine Rückkehr in die Gesellschaft denken lassen (die Episode, in der Monika bei einer bürgerlichen Familie einbricht, dort im Keller zuerst für «eine Ratte» gehalten wird, danach mit der höheren Tochter als enfant sauvage bei Tisch sitzt, und schließlich mit dem Braten das Weite sucht, ist eine der anarchischsten bei Bergman). Erst danach kommt der Wunsch, «sich ein Leben zu bauen», und daran zerbricht das Paar auch schon wieder, denn Harry meint es ernst, er studiert und kümmert sich um das Kind, Monika aber meint es nicht ernst, sie denkt an das Kino, wenn er an das Leben denkt.

In der großen Zeit von Ingmar Bergman, von Anfang der 50er bis Mitte der 70er Jahre, war Schweden ein neutrales Land zwischen zwei Blöcken (heute ist es ein neutrales Land an der Peripherie des Kapitalismus). Es ist also nicht ohne Interesse, wie sich die Verhältnisbestimmung des Landes zu seinem globalen Umfeld in den Filmen niedergeschlagen hat. In Ein Sommer mit Monika ist leicht zu erkennen, dass die meisten Zeichen auf ein anachronistisches Verhältnis zur Nachkriegskultur hindeuten: der poetische Realismus der ersten Szenen verweist zurück auf die Zeit um 1930, und auch das Küchenwarengeschäft, in dem Harry arbeitet, erscheint als ein altertümlicher Betrieb, in dem Effizienzkriterien noch kaum eine Rolle spielen, während das Wort des Firmenpatriarchen alles ist. Diese vagen Spuren einer spezifischen Historisierung bleiben aber eine Ausnahme. In der Regel spielen die Bergman-Filme in einer ungefähren Epoche, und weil es sehr häufig insulare Situationen sind, lassen sie sich noch besser als universale Geschehnisse verstehen, die vor modellhafter Natur das Grundsätzliche der Probleme besser hervortreten lassen.

Licht im Winter (Nattvardsgästerna, 1963) spielt in und zwischen den zwei abgelegenen Dörfern Mittsunda und Frostnäs (und zwischen zwei Gottesdiensten in den beiden Kirchen). In diese Welt dringt nur an einer Stelle des Films ein Signal von außen. Jonas Persson, ein einfaches Mitglied der Gemeinde mit Frau und vier Kindern, gibt sich dem Pfarrer gegenüber als zutiefst verstört zu erkennen (klinisch gesprochen hat er vermutlich eine schwere Depression), und Auslöser dieser Unheilserfahrung ist ein Zeitungsbericht, aus dem seine Frau die Schlagzeile zitiert: «Er las, dass die Chinesen zum Hassen erzogen werden», und dass die Gefahr eines Krieges sehr groß ist.

Diese Nachricht gehört in Licht im Winter allerdings vor allem in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang: «Das Grauen ist unermesslich, und Gott ist so weit entfernt.» Damit ist die Position des Pastors beschrieben, der diese Entfernung in eigener Person zu überbrücken versucht, und darin auf eine paradoxe Weise eine Genesung findet. Das «Heilig, heilig, heilig, die Erde ist voll deiner Ehre», mit dem Gott am Ende angerufen wird, ist nur als Glaubensakt auf Grundlage von Absurdität denkbar (credo, quia absurdum) – die Absurdität liegt dabei aber zu einem nicht geringen Teil darin, dass Bergman eine Situation zeichnet, in der es an Zeichen der Zeit gerade mangelt. Dies nun ist aber keine Epochensignatur (denn die Moderne ist eher zu stark als zu schwach lesbar), sondern ein bewusster Rückzug mit dem Erzählen auf Situationen, in denen das Universelle stärker hervortreten kann. Dass dieses Universelle mit einer bestimmten bürgerlichen Familienkonstellation (die im Wesentlichen die des Ödipus in Freuds Deutung ist) einher geht, ist im Grunde schon ein Anachronismus in einer Welt, die gerade zu entdecken beginnt, dass es neben den familiären auch soziale (im Gegensatz zu den totalitär diskreditierten kollektiven) Bewegungen gibt, in denen das Individuum neue Freiheitsräume entdeckt. Bei Ingmar Bergman überlebt das Bürgertum auf einer Insel, und es ist wohl diese Suggestion einer «natürlichen» Vergesellschaftung, die er in der zweiten Werkphase besonders deutlich ausgearbeitet hat und ihn zu einem Klassiker hat werden lassen, von dem viele meinen, sie könnten sich darin bis heute wie in einem Spiegel betrachten.

 

Ingmar Bergman Edition 2 (10 DVDs, keine nennenswerten Extras, Tonspuren Schwedisch + Deutsch, Untertitel Deutsch) Arthaus 2010