comic

GIFT Peer Meter & Barbara Yelin

Von Stefanie Diekmann

© Reprodukt

 

Wissenswertes über Bremen: Der Verleger Brockhaus, der den Auftrag zu einem entsprechenden Reisebericht gibt, denkt dabei an die «üblichen Schilderungen der Sehenswürdigkeiten», die junge Schriftstellerin, die den Auftrag erhält, denkt an «eine kritische Schilderung der bremischen Politik», der Pastor hingegen, mit dem sie bald nach ihrer Ankunft aneinander gerät, denkt an die Hinrichtung, die am nächsten Tag auf dem Domplatz stattfinden wird, und erklärt, dass «sie» (er bleibt für die Dauer des Comics recht konsequent bei der Anrede in der dritten Person) «zur Unzeit in unsere schöne Stadt gekommen ist».

Zur Unzeit und dann lange nicht mehr. Einmal zu viel, einmal und dann nie wieder, beinahe nie wieder, würde nicht fünfzig Jahre später ein Zug nach Bremen umgeleitet und mit dem Zug zwei Damen, von denen die junge «Lou» heißt und sich auf dem Weg zu ihrer ersten Begegnung mit Friedrich Nietzsche befindet, und die sehr viel ältere jene namenlose Dichterin ist, die im Jahre 1831 auf Geheiß von Brockhaus und auf eine Empfehlung von Bettina von Arnim in die Stadt reiste und am nächsten Tag zusah, dass sie wieder wegkam. Der Comic Gift von Peer Meter/Barbara Yelin ist kein Comic für Bildungsbürger, aber er ist nicht frei von bildungsbürgerlichen Prätentionen: ein wenig Literatur- und Geistesgeschichte (Brockhaus! Arnim! Nietzsche! Novalis!), einige Reminiszenzen an den expressionistischen Film (Murnau! Wiene!), viele große Namen, was der Sache nicht schadet, aber auch nicht sein müsste, denn eigentlich hat er genug an seinen beiden Hauptfiguren, der Schriftstellerin und der Giftmischerin, die einander im übrigen nie begegnen werden, sieht man von der Hinrichtung auf dem Domplatz ab.

Diese Hinrichtung ist, folgt man der Darstellung in Gift, ein Medienereignis ersten Ranges gewesen, nicht anders als der historische Fall, den sie abschließen sollte, de facto aber nicht abgeschlossen hat, denn was die Bremer Bürgerin Gesche Margarethe Gottfried dazu veranlasste, im Zeitraum von 1813 bis 1827 fünfzehn Personen ihres engsten Umfelds durch Gift zum Tode zu befördern und mindestens ebenso viele dem Tode nahe zu bringen, wird mit ihrer Enthauptung so wenig geklärt wie vorher mit den Verhören oder mit der gerichtlichen Verurteilung. Die Bürgerin Gottfried ist eine Faszinationsfigur geblieben, für ihre Zeitgenossen, denen gleich nach der Verurteilung ein Bremer Buchdrucker die geheimen Verhörprotokolle in Form von Raubkopien zugänglich gemacht hat, und erst recht für nachgeborene Autoren, Komponisten, Filmemacher, zu deren bekanntesten R.W. Fassbinder zählt. (Sein Film Bremer Freiheit entsteht 1972, mit Margit Carstensen als Gottfried und Uli Lommel als dem ersten von zwei oder drei vergifteten Ehemännern.)

Von Fassbinders Entwurf einer notwendig mörderischen Rebellion gegen die Misogynie des biedermeierlichen Bürgertums ist Gift deutlich beeinflusst. Bisweilen nervt das, wenn etwa die Figuren Sätze aufsagen wie «Sie sollte besser ihre Tage handarbeitend zubringen» oder «Eine Frau sollte die Schuld des Lebens nicht durch Tun, sondern durch Leiden abtragen», was dann ziemlich vorhersehbare Repliken nach sich zieht. In solchen Momenten wandelt sich Gift zum Lehrbuch, zum fast-schon-unterrichtstauglichen Themen-Comic, der Positionen verhandelt und Figuren zu einer Konflikthandlung aufstellt, aber das ist, mehr oder weniger, eine Sache des Szenarios. Die Zeichnungen sind berückend: eine lange Reihe sehr haptischer, verwischter und verzogener Stadtbilder und Interieurs mit spukhaften Gestalten darin, deren Züge sich vom Schema (Punkt, Punkt, Komma …) zur Physiognomie und wieder zurück zu einem Schema verwandeln, und von denen eine hinter Gittern festsitzt und eine andere sich durch die Straßen treiben lässt, auf der Suche nach einer Geschichte, zu der sie bis zum Ende keinen Zugang erhält.

Über das 19. Jahrhundert (das bürgerliche, nicht-höfische der Alltagsansichten und -gegenstände) schrieb Vilém Flusser: «Uns ist kaum bewusst, wie überraschend die Farbigkeit unserer Umgebung für unsere Großväter wäre. Im 19. Jahrhundert war die Welt grau: Wände, Zeitungen, Bücher, Hemden, Werkzeuge, all dies schwankte zwischen Schwarz und Weiß, das zu einem Grau zusammenfloss wie die gedruckten Texte.» Es ist eine gleichermaßen graue Welt, die in Gift auf dem Papier ersteht: eine Welt der Schatten und Schraffuren, der Schlieren, Eintrübungen und Verwischungen; Grau in Grau, Grau zu Grau, wenn auch keineswegs das Grau des Buchdrucks, sondern das weiche, etwas fettige Grau des Bleistifts, mit dem Barbara Yelin zeichnet und mit dem auch die Kästen und Sprechblasen gelettert sind. (Die Lettern wiederum kommen scheinbar direkt aus einer Beschreibung von Roland Barthes: aufgedrücktes Blei, gerundete Ecken, harte Arbeit des Stifts auf dem Papier, die Barthes durch etwas anderes ersetzt sehen wollte, indessen passt sie hier ganz gut: Bleistift als Werkzeug, nicht als Zauberstab; nichts tut dabei so, als würde das Zeichnen keine Mühe machen.)

Von den säuberlichen Linien und strahlenden Farbflächen der Ligne Claire ist kaum etwas weiter entfernt als dieser Comic, der statt an der Parzellierung der Dinge an ihrer Verschleifung arbeitet, so dass die Grenzen zwischen Gebäuden und Straßen undeutlich werden und immer wieder auch die zwischen Gebäuden und Figuren, Objekten und Figuren. In den dämmrigen Bildern wird eine Reisende von einer Stadt heimgesucht, so wie sie in einzelnen Episoden von deren Bewohnern heimgesucht wird. Das ist ein schleichender Vorgang – so langsam wie am Ende die Abreise überhastet –, aber schon in den ersten Panels sind die Umrisse zerfasert, mehrfach nachgezogen, als gelte es, sie nachträglich noch einmal zu befestigen, sind die Räume gekrümmt, die Rahmen allzu eng, und von Anfang an lagern Schatten in den Bildern, die teils so tief eingedunkelt sind, dass Konturen, Dinge etc. davon verschluckt werden.

In der tendenziell perfektionistischen Welt der Comic-Gestaltung ist die Bleistiftskizze ein Übergangsmedium, das durch andere Aggregatzustände des Bildes abgelöst wird. In der Gestaltung von Gift ist die Bleistiftskizze als dasjenige Medium entdeckt worden, das als Schauplatz des Unfertigen, Unvollendeten, auch: der Andeutungen, besser als andere einer Geschichte korrespondiert, die nie wirklich zur Geschichte wird und stattdessen im Bereich der Möglichkeiten verbleibt: eine Idee von Investigation, eine Idee von Antwort, von Schuld … dabei hätte man einfach nicht aussteigen sollen, beim ersten Besuch in Bremen nicht und erst recht nicht bei dem zweiten, der kürzer ausfällt und die alte Dame noch einmal zurück auf den Domplatz zurückführt.