rarovideo
Ein Familienunternehmen: Ermanno Curti gründete in den 70er Jahren die Produktionsgesellschaft Gruppo Minerva International, heute leiten Gianluca und Stefano Curti die Geschäfte. Produziert wird zwar immer noch (Gianluca war unter anderem an Abel Ferraras NapoliNapoliNapolibeteiligt), Kerngeschäft aber ist seit über einem Jahrzehnt das Home-Video-Segment. Programmatisch war gleich die erste rarovideo-Veröffentlichung noch zu VHS-Zeiten: Andy Warhols Vinyl. Die Warhol-Anthology, die insgesamt zwölf Filme umfasst (darunter ein 60-Minuten-Cut von Empire), zählt auch zu den Glanzlichtern des DVD-Sortiments. Außer den Italienern hat sich bis heute noch niemand an die prä-Morrissey-Phase des Underground-Heroen gewagt.
Um dieses Großprojekt herum erschließt rarovideo das Undergroundkino im engeren wie im weiteren Sinne: Paolo Gioli, Jodorowsky, Jarman, Zulawski. Das Label definiert Underground nicht verbiestert sektiererisch, sondern angenehm leger. Da passen Klassiker von Buñuel bis Herzog genauso mit hinein wie kleine Sonderbarkeiten: Paul Czinners Stummfilm Fräulein Else etwa, oder Monte Hellmans Spätwerk Iguana. Internen Zusammenhalt stiftet weniger die Filmauswahl, als das eingängige schwarz-rote Coverdesign.
Und das ist noch lange nicht alles; das rarovideo-Imperium hat sich über die Jahre in alle möglichen Richtungen – allerdings nur sehr vorsichtig in Richtung Gegenwart – und über zahlreiche Sublabels ausgebreitet: Minerva Classic, Horror Club, Il Cinema Secreto Italiano und so weiter. Auch weil die Label-Website denkbar kompliziert und unlogisch konstruiert ist, fällt es schwer, den Überblick zu behalten; raro setzt grundsätzlich mehr auf den Eigensinn des Wildwuches, denn auf ein enges programmatisches Korsett. Die Sublabels sind hauptsächlich dem heimischen italienischen Kino gewidmet. Neben Veröffentlichungen zentraler Werke großer Autoren wie Marco Ferreri, Elio Petri oder Francesco Rosi widmen sie sich den ungezähmteren Auswüchsen des Genrekinos der 60er- und 70er-Jahre. Besonders verdient macht man sich um das Werk des Exploitation-Rabauken Fernando di Leo, der mit gleich zehn Filmen im Sortiment vertreten ist und dessen vitalistischer Primitivismus nicht immer ganz weit weg ist von Warhols antivitalistischem Minimalismus. In Vacanze per un massacro (1980) ist sogar Joe Dallesandro als psychopathischer Gangster mit von der Partie.
Bei allen Idiosynkrasien der Filmauswahl sind die Veröffentlichungen in editorischer Hinsicht auf fast konstant hohem Niveau. Gelegentlich erlaubt man sich Ärgerlichkeiten wie eine unterirdische DVD von Mario Bavas Wikingerfilm I coltellides vendicatore im falschen Bildformat. Gerade auf die prestigeträchtigen Boxsets verwendet raro jedoch eine Sorgfalt von fast Criterion’schen Ausmaßen: Zahlreiche Extras, umfangreiche Booklets, frisch restaurierte Kopien. Und ein großer Teil des Sortiments ist – auf dem italienischen Markt eine absolute Seltenheit – englisch untertitelt.
Pier Paolo Pasolini & Giovanni Guareschi: La Rabbia, 1961
Pasolinis poetisch-radikaler Wutanfall und Guareschis wertkonservatives Gegenstück. Zwei komplementäre Versuche, die neue Weltordnung der Nachkriegsjahre aus ihren eigenen Bildern zu bergen. Ein Schlüsselwerk des politischen Kinos der 60ern erstmals komplett restauriert auf DVD.
Andy Warhol: Vinyl, 1965
Eine Stunde abhängen in Warhols Factory. Irgendwer kommt auf die Idee, Anthony Burgess’ Clockwork Orange nachzuspielen. Gerard Malanga gibt den Juvenile Delinquent und wird ausführlich gemartert. Dazwischen tanzt man zu Sixties-Pop und konsumiert alles mögliche. Edie Sedgwick sitzt den ganzen Film über unbeteiligt und desinteressiert im Vordergrund herum. Raues, großartiges Undergroundkino.
Fernando di Leo: I ragazzi di massacro, 1969
Massenvergewaltigung! Anisschnaps! Crossdressing! Fernando di Leo zeigt dem deutschen Feuilleton, was eine Problemschule ist. Wer braucht filmhandwerkliche Routinen, wenn man außerhalb der Regeln soviel Spaß haben kann? Einer der radikalsten Filme des Tarantino-Vorbilds Fernando di Leo.
Elio Petri: La classe operaia va in paradiso, 1971
Der Arbeiter und die/als Maschine; Sex mit der Maschine, bis der Finger ab ist. Studenten gegen Gewerkschaften, jede Kamerabewegung ist politisch, die Revolution kommt, aber zuerst muss die kapitalistische Subjektivität zertrümmert werden. Dazwischen eine umständliche Entjungferung im Kleinwagen. Kaum zu glauben: So etwas konnte Anfang der 70er die Goldene Palme in Cannes gewinnen.