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Ins Unvertraute Body Horror reloaded: Über David Cronenbergs Crimes of the Future

Von Cristina Nord

© Serendipity Point Films

 

In einer Szene im zweiten Drittel von Crimes of the Future besucht Saul Tenser, der von Viggo Mortensen gespielte Protagonist, eine Kindsmörderin im Gefängnis. Die Frau namens Djuna hat ihren eigenen Sohn mit einem Kopfkissen erstickt, kaum dass der Film begonnen hat. Saul will wissen, warum. Djuna antwortet: Weil Brecken, das Kind, nicht mehr menschlich gewesen sei, sondern «a creature», vom eigenen Vater so manipuliert, dass es nichts als Plastik habe essen können. In einer der ersten Szenen des Films ist zu sehen, wie der vielleicht acht Jahre alte Junge neben einer schmutzigen Toilette kauert und dabei mehrmals in einen Plastikmülleimer beißt und laut kaut, während ihm eine weiße, staubige Substanz in den Mundwinkeln klebt. «Wenn die Polizei Breckens Leiche gefunden und eine Autopsie angeordnet hätte, was glauben Sie, hätte sie gefunden?» fragt Saul, und Djuna antwortet: «outer space», den Weltraum.

Crimes of the Future, der jüngste, im Mai in Cannes uraufgeführte Film von David Cronenberg, ist ein Frontier-Film. Die Grenze, um deren Verschiebung es ihm geht, ist die, die das Äußere vom Inneren des Körpers trennt. So wie John Fords Figuren gen Westen ziehen, so wie der Weltraumfilm ins unerforschte All aufbricht, so dringt Crimes of the Future ins Unvertraute des Körperinneren vor. Dabei sieht das dystopische, in einer nicht allzu fernen Zukunft angesiedelte Szenario vor, dass sich unter der Haut nicht nur die üblichen Organe befinden. Bei manchen Menschen wachsen neue Organe, an Drüsen, Nieren oder Herzen erinnernde Gebilde ohne bekannte Funktion. Saul Tenser ist einer dieser Menschen, und mehr als einmal darf die Kamera unter seine Bauchdecke gucken. Nicht wegen des Sexappeals einer gut definierten Bauchmuskulatur interessiert der Körper des Stars, sondern wegen seines Dünn- und Dickdarms, wegen der Nieren, der Leber und des Magens.

Damit wendet sich Cronenberg nach einer längeren Pause erneut dem body horror zu, einem Subgenre des Horrorfilms, das er vom Beginn seiner Karriere an bis etwa zur Jahrtausendwende mit viel Fortüne und Einfallsreichtum bearbeitet hat. Seine Fantasien vom menschlichen Körper und dessen technologischen Erweiterungsmöglichkeiten haben im Lauf der Jahre Erstaunliches produziert: einen Phallus-artigen Dolch in der Achsel von Marilyn Chambers, einer aus dem adult entertainment bekannten Darstellerin, in Rabid (1977), die Mensch-Maschinen-Schnittstellen in Anus-Gestalt, die in eXistenZ (1999) eine Rolle spielen, oder die Prothesen, die Rosanna Arquettes Figur in Crash (1996) mit ihrem von einem Unfall versehrten Körper verbindet, so dass sie die physischen Einschränkungen nicht nur ausgleichen, sondern ihre Fähigkeiten erweitern kann. 

Zuletzt hat Cronenberg dieses Genre in seinem Romandebüt Consumed (2014) aufleben lassen, etwa in der Figur einer französischen Philosophin, die ein Symptom hat, das sich Apotmenophilie nennt. Das heißt, sie verspricht sich sexuelle Lust von der Amputation eines Körperteils. Eine andere Romanfigur schneidet sich bei jeder Gelegenheit ins eigene Fleisch und isst kleine Brocken ihrer selbst. In den Filmen dagegen ging es in der letzten Dekade etwas weniger invasiv zu; die Transgressionen verlagerten sich in Maps to the Stars (2014), Cosmopolis (2012) und A Dangerous Method (2011) auf andere Felder. 

Von der wunderbaren Räude, die etwa Rabid zu eigen ist, ist Crimes of the Future dann aber doch recht weit entfernt. Dazu steckt mit Viggo Mortensen, Kristen Stewart und Léa Seydoux zu viel Starpower in dem Film. Nachdem lange vergeblich nach der Finanzierung gesucht worden war (Cronenberg schrieb das Drehbuch vor mehr als 20 Jahren), konnte der Produzent Robert Lantos griechische Geldgeber für das Vorhaben gewinnen. Auch wenn dem Film daran liegt, den Eindruck von Schäbigkeit zu erwecken, merkt man, dass die production values andere sind, als sie es am Anfang von Cronenbergs Karriere waren. Schauplatz ist ein kunstvoll derangiertes Athen mit heruntergekommenen Industriebauten, erlesen verschmutzten Wohnungen, rostigen Schiffswracks und dunklen Gassen. Während der Plot von Rabid nicht vieler Erläuterungen bedarf, benötigt Crimes of the Future eine ganze Reihe von Dialogen, um die eigenen Prämissen zu klären.

Die Figuren bewegen sich zwischen zwei Möglichkeiten: Soll die verbliebene Menschheit die beschleunigten Evolutionsprozesse akzeptieren, sich darauf einlassen und schauen, was sie mit sich bringen? Oder soll sie die neuen Organe entfernen, weil sie wie ein Geschwür sind, das den Körper beschädigt? Die, die der ersten Option anhängen, üben schon mal, wie man sich von Plastik ernährt; die, die sich wie Saul Tenser der neuen Organe entledigen, quälen sich in einem fort. Nachts schläft er schlecht, obwohl ihm ein tolles Requisit zur Verfügung steht, ein elektronisch gesteuertes, an einen auf dem Rücken liegenden Käfer erinnerndes Bett. Dieses Möbelstück soll Saul so hin- und herwiegen, dass er keine Schmerzen verspürt, doch das klappt nicht gut. Morgens sitzt er in einem Frühstücksstuhl, der mit knöchernen Greifarmen den Kau-, Schluck- und Verdauungsapparat stimuliert; doch die Mühe, die das macht, ist unübersehbar. Und das, was im Film «alter Sex» heißt – gemeint ist damit eine Art der Sexualität, in der chirurgische Eingriffe keine Rolle spielen –, ist auch nicht seine Stärke. 

Die Regierung, erfährt man nach einer Weile, folgt der Linie, sich der wilden Evolution in den Weg zu stellen. Diejenigen, die sie umarmen, bewegen sich also im Untergrund. Je länger Crimes of the Future dauert, umso mehr gerät Saul Tenser zwischen die Fronten – bis hin zum wunderbar mehrdeutigen Schlussbild, mit dem sich Cronenberg auf Carl Theodor Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc (1928) bezieht. Die Großaufnahme von Renée Falconettis Gesicht in der Scheiterhaufen-Szene steht Pate für die letzte Einstellung von Crimes of the Future, auch wenn Cronenberg diese Idee nicht beim Dreh, sondern erst im Schneideraum entwickelte. 

Eine zweite Ebene erhält der Film dadurch, dass Saul und seine Gefährtin Caprice (Léa Seydoux) sich als Performance-Künstler begreifen: Die Operationen geschehen öffentlich, das Publikum verehrt die beiden, es liebt das Spektakel, das sie aufführen. Sie sind nicht die einzigen, die fortführen, was Künstler*innen wie Marina Abramovic, Ron Athey oder Mao Sugiyama tun: aus der extremen Arbeit am und mit dem Körper Kunst machen. In einer Szene lässt sich ein Tänzer Augen und Mund zunähen und etwa hundert Ohren am Körper anbringen, bevor er tanzt. «It’s time to listen», raunt es aus Lautsprechern. Seine Tanzkünste, spottet später Caprice, seien ausgeprägter als sein konzeptuelles Talent. Eine andere Performance-Künstlerin lässt ihr Gesicht mit tiefen Einschnitten neugestalten, und zwar nach dem Vorbild eines Horrorfilms, der auf Röhren-TVs läuft. 

Wiederholt kreisen die Dialoge darum, inwiefern Sauls Produktion von Organen als Kunst zu verstehen sei. Ein Polizeikommissar bezweifelt es: «Ich habe eine Beule an meinem Bauch. Picasso? Duchamp? Francis Bacon?» Timlin (Kristen Stewart), die hinreißend nerdige Angestellte in der Organ-Registrierstelle, widerspricht, indem sie von Saul schwärmt: «Er übernimmt die Kontrolle über die Rebellion seines Körpers, indem er sie in Kunst verwandelt. Das hat Bedeutung, eine sehr potente Bedeutung.»

In solchen Dialogen klingt eine Metaebene an: Crimes of the Future kommentiert den Prozess, der die ungestalteten Körperklumpen in eine Gestalt überführt, und damit letztlich auch sich selbst bzw. das, was Cronenberg macht. Der Reiz des body horror rührt ja vor allem daher, dass man in den Körper hineinschaut, etwas, was einem normalerweise verwehrt ist. Man besteht aus einer Masse von Organen, aus Blut, Muskeln, Sehnen und Fleisch, doch da man all dies normalerweise nicht sieht, nimmt man es nicht als Teil von sich wahr, hält man sich für intakt, glatt. Was die frühe Psychoanalyse über seelische Prozesse wusste – Ich ist nicht Herr im eigenen Haus –, gilt ja auch für die eigene Leiblichkeit: Wie passen die Klumpen der eigenen Organe, das Innere der Eingeweide zum Selbstbild, das man von sich hat? Nicht besonders gut. Cronenbergs Œuvre legt das Unheimliche frei; es macht sichtbar, was zu einem gehört, und findet dafür wiederum Formen, die über das rein Viszerale, Rohe hinausgehen – so wie Saul und Caprice aus den neuen Organen etwas entwickeln, was über diese Organe hinausgeht. Eine der Pointen von Crimes of the Future ist denn auch, dass eine Nebenfigur einen Wettbewerb für «innere Schönheit» auslobt, eine Art Next Top Model für Nieren, Lebern und neue Organe.

Bei all den Schönheiten, die Crimes of the Future zu bieten hat, ist eine Sache aus dem Blick geraten: der Fortschritt der bildgebenden Verfahren in der Medizin. Der Schock, den ein Blick unter Viggo Mortensens Bauchdecke vor 20 Jahren ausgelöst hätte, wird dadurch kleiner, als es dem Regisseur lieb sein mag. Einer kuratorischen Koinzidenz wegen trat dies den Besucher*innen des Festivals von Cannes besonders nachdrücklich ins Bewusstsein. Denn in der Quinzaine des Réalisateurs hatte Véréna Paravels und Lucien Castaing-Taylors Dokumentarfilm De Humani Corporis Fabrica einen großen Auftritt, mithin ein weiterer Film, der ins Körperinnere eindringt. Der Regisseur und die Regisseurin, deren Homebase das Sensory Ethnography Lab der Harvard-Universität ist, kompilieren darin Bildmaterial, das vor und während Operationen entsteht. Sie montieren aneinander, was Sonden sehen, die durch die Speiseröhre und den Darm wandern oder die Harnröhre hinauf. In einer der ersten Szenen durchstößt ein feiner Bohrer eine Schädeldecke; der Mann, der operiert wird, hat nur örtliche Betäubung bekommen, ist also bei Bewusstsein, während die Ärzte die Kamera ins Gehirn einführen. Und was liegt jenseits des Knochens? Weiße Wolkigkeit, planetarischer Nebel, outer space. 

 

Crimes of the Future (David Cronenberg) CAN/FRA 2022 | Kinostart am 10. November 2022