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Brillante Mendoza Eine Feier des Lebens

Von Lukas Foerster und Bert Rebhandl

© cargo

 

In nur fünf Jahren ist Brillante Mendoza, der 2005 im Alter von 45 Jahren seinen ersten Film machte, zu einem der wichtigsten Filmemacher des Weltkinos geworden. Er nimmt für sich in Anspruch, auf wahrhaftige Weise die sozialen Realitäten seines Landes in Geschichten zu fassen, und bedient sich dabei einer involvierenden Dramaturgie und einer Ästhetik der Unmittelbarkeit. Im Februar war Brillante Mendoza auf Einladung der dffb und des Arsenals in Berlin, bei dieser Gelegenheit haben wir mit ihm das folgende Gespräch geführt.

Mr. Mendoza, Sie hatten 2009 zwei Filme auf europäischen Festivals: Kinatay rief in Cannes sehr kontroverse Reaktionen hervor, Lola fand wenige Wochen später in Venedig viel Zuspruch. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Als ich Kinatay machte, hatte ich eine bestimmte Vorstellung von den Emotionen, die ich damit hervorrufen wollte. Ich wusste relativ genau, welche Reaktion ich vom Publikum wollte, aber ich war mir unsicher, wie das zu erreichen sei und musste mir das Stück für Stück erarbeiten. Ich wusste, ganz unbescheiden, dass es um etwas Besonderes ging. Schon mein Film Serbis (Service, 2008) hat das Publikum gespalten, und bei Kinatay war das sogar noch stärker. Mich beunruhigt das nicht, aber ich wusste, dass Lola anders sein würde: Hier gibt es Mitgefühl, die Emotionen sind besser zu verkraften, denn in Kinatay geht es doch um Verstörung. In Lola gibt es ein berührendes Moment, und ich wollte mich in diese Richtung ein wenig herausfordern. Lola ist dafür der perfekte Film. Das Drehbuch ist mehrere Jahre alt, aber es kam nie der geeignete Zeitpunkt, um zu drehen. Nach Kinatay war der Moment für Lola da. Im Mai war ich mit Kinatay in Cannes, im Monat darauf war ich wieder auf den Philippinen. Dort begann die Regenzeit, und das war genau die Stimmung, auf die es mir ankam: Es war dämmerig, die Farben blieben in einem Graubereich, es hörte nie richtig zu regnen auf. Alte Menschen sind die Hauptfiguren in Lola, aber das Wetter ist mehr als nur ein Teil der Geschichte, es ist selbst so etwas wie eine Figur, ein Element, das zu einer Figur wird.

Wie würden Sie die Gefühle näher beschreiben, um die es Ihnen mit Kinatay ging?

Verstörende Gefühle. Ich wollte dem Publikum klarmachen, dass es da draußen in der Welt nicht sicher ist. Und zwar nicht nur auf den Philippinen, wo alles so ungeheuer laut und voller Menschen ist. Auch in der «Ersten Welt» gibt es Gefahren. Es könnte jederzeit und irgendwo etwas Grausames passieren.

Die Prostituierte und Tänzerin Madonna, die von Gangstern in ein Auto gezwungen und zu einem Haus außerhalb der Stadt gefahren wird, wo sie brutal umgebracht wird – wodurch wird sie zum Opfer?

Vergleichbare Morde gab es in den Philippinen während der 60er Jahre, es gibt berühmte Fälle, man kennt die Personen bis heute, und die meisten dieser Fälle sind nach wie vor ungelöst. Noch während wir drehten, gab es Fälle von Menschen, die geschlachtet und zerteilt wurden. Diese Dinge bilde ich mir nicht ein, die passieren wirklich. Bei diesen Taten geht es um Menschen, die ihre Macht zeigen und ihr Territorium behaupten wollen. Madonna ist das Opfer, aber auch der junge Peping wird zu einem Opfer. Aus einem Gangstersyndikat steigt man nicht aus, man ist gefangen, man hat die Seele verkauft, und das ist Teil der Geschichte: Es geht um den definitiven Verlust der Unschuld. Das ist Teil des Gefühls, das ich dem Publikum vermitteln wollte. Und gegen diese Unsicherheit gibt es keinen Schutz und kein Recht. Wenn auf den Philippinen irgendwo über mehrere Stadtviertel verstreut Körperteile gefunden wurden, dann verlieren sich die Untersuchungen meistens zwischen den zuständigen Behörden.

Viele Ihrer Filme, auch Kinatay, sind auf die erzählte Zeit eines Tages oder eines Tages und einer Nacht beschränkt. Hat dies einen besonderen Grund?

Diese Dramaturgie von 24 Stunden kommt bei mir öfter vor, das stimmt. Bei Foster Child ist es so ähnlich, auch Serbis ist im Grunde ein Tag im Leben dieser Menschen. Das ist Teil meiner Ästhetik, meiner Weise, eine Geschichte zu erzählen. Der Effekt von Tag und Nacht ist selbst eine Figur: das normale, tägliche Leben der Menschen und die andere, nächtliche Seite dieses Lebens. Das habe ich mit Bedacht gemacht, das macht die Geschichte reicher, denn es gibt den Figuren mehr Welt – jemand heiratet, er erlebt einen Meilenstein, in der Nacht gibt es einen anderen Meilenstein, einen entgegengesetzten. Das ist es, was Peping in Kinatay erlebt.

Wichtiger Teil dieser Dramaturgie in Kinatay ist die lange Autofahrt aus der Stadt hinaus: Madonna liegt geknebelt im Wageninneren, draußen geht das Leben seinen Gang, der Film gewinnt daraus eine ungeheure Spannung.

Ich wollte, dass das Publikum diese fast unerträgliche Erfahrung durchlebt. Wir sehen ein Leben, das ausgeliefert ist. Wir wissen im Grunde schon, dass sie sterben wird, wir wissen nur nicht, wann. Das ist eine quälende halbe Stunde. Bevor ich diese Szene gedreht habe, hatten wir einen «drive through», von der Bar, aus der das Mädchen entführt wird, bis zu dem Ort, an dem sie getötet wird. Als ich im Wagen war, habe ich darauf gewartet, dass jemand spricht, aber wir haben geschwiegen, es war langweilig für uns, in diesem Wagen zu sein. Wenn du ein Killer bist, und ein Opfer neben dir liegt, dann redest du trotzdem über belangloses Zeug, das ist wie das Geschwätz von Arbeitskollegen. Wir haben das in Kauf genommen, dass das Publikum vielleicht gelangweilt sein könnte durch diese Beiläufigkeit, denn das erhöht nur den Eindruck von Gefahr: Einerseits das Geplapper, während die Frau auf dem Boden liegt, andererseits ihr Stöhnen, und dann noch die Geräusche, die von draußen in den Wagen dringen. Die Szene mag lang sein, aber sie ist nicht langweilig, sondern verstörend.

Der Ton ist besonders interessant – es gibt direkten Ton, offensichtlich aber auch Nachsynchronisation, und es gibt einen Soundtrack. Alles geht ineinander über.

Da bin ich ganz eigensinnig. Ich wusste vorher, dass dieser Film «sound heavy» sein würde, also eine intensiv bearbeitete Tonspur haben sollte, anders als in meinen anderen Filmen. In Foster Child hat, glaube ich, nur eine Szene Musik, auch in Serbis konnten die Szenen gut ohne Musik bestehen. Hier aber brauchen wir die Musik, weil sowohl Madonna wie Peping zum Schweigen verurteilt sind: Sie ist geknebelt, er darf seine Gefühle nicht verraten. Ich brauche also eine zusätzliche Kommunikationsebene, die das zum Ausdruck bringt. Das macht hier der Soundtrack, der auf dem Live-Ton aufbaut. Wir hatten viele Mikrofone in dem Wagen. Nach dem Drehen haben wir Sounddesign hinzugefügt, wir sind noch einmal durch den ganzen Ablauf gegangen, haben verschiedene Dinge verstärkt, manche hatten wir schon «live» betont, so haben wir zum Beispiel ein Stück Fleisch gekauft und mit in den Wagen genommen und damit die Schläge auf Madonna «live» gedreht, durch Fausthiebe auf dieses Stück Fleisch. Der Ton macht es noch viel schrecklicher, wenn wir hören, wie jemand geschlagen wird.

Wie mag es mit Peping am nächsten Morgen wohl weitergehen? Das wäre fast eine Fortsetzung wert.

Das stimmt, aber ich werde sie nicht drehen, da mache ich lieber irgendeine andere Geschichte über einen Jungen, der eine lebensverändernde Erfahrung gemacht hat. Wie es mit Peping weitergeht, können wir uns weitgehend vorstellen. Er wird nicht mehr derselbe sein, wir werden zwar nicht konkret wissen, was er nun tun wird, aber ich glaube, es ist besser, es der Imagination zu überlassen.

 

 

Lola (2009)

© trigon-film

 

Sie sind also aus Cannes nach Hause gekommen, haben im Juni Lola gedreht, und im September war schon die Premiere in Venedig.

Das war möglich, weil ich die Geschichte zu Lola schon im Kopf hatte, schon vor Kinatay: Ich wusste, welche Schauspieler ich haben wollte, und ich hatte einen Produzenten, der an das Projekt geglaubt hat und den ich unter Druck setzen konnte. Ich war nach Cannes voller Energie und wollte etwas ganz anderes machen. Die Dreharbeiten zu Lola dauerten 13 Tage, mein Cutter hat schon während des Drehens geschnitten. Ich drehe in der Regel chronologisch, das Drehbuch von Anfang bis Ende, das ist vor allem für die Schauspieler hilfreich, sie können ihre Emotionen nachvollziehbar durchleben, alles hat seine Ordnung, wenn ich einen Film mache, und wenn ich das richtige Tempo beim Drehen finde, dann ist der Schnitt meistens kein Problem mehr.

Wer sind die Schauspieler in Lola?

Mit Anita Linda habe ich schon vor drei Jahren gesprochen, sie war damals schon über 80 Jahre alt, für die andere Rolle war zu diesem Zeitpunkt noch eine andere Schauspielerin vorgesehen, sie war dann aber schon zu schwach, als wir drehen konnten, ich musste also eine andere Schauspielerin finden, und entschied mich dann für Rustica Carpio, ebenfalls fast 80. Auf den Philippinen ist es nicht Hauptrolle zu haben. Kein Produzent würde in so etwas investieren, mir ging es aber gerade darum. Das ist die Geschichte. Konkret handelt es sich um zwei sehr verdiente Schauspielerinnen. Anita Linda ist seit den 50er Jahren im Film, Rustica Carpio vor allem eine Bühnendarstellerin.

Die Frauen geben der Kamera das Tempo vor.

Ich wollte zeigen, wie zerbrechlich, wie langsam, wie alt die Frauen sind. Das ist ein Statement in sich selbst, zugleich machen sie aber etwas, das für sie selbst und für andere Menschen wichtig ist. Es ist eine Feier des Lebens, trotz des Alters. Wir sehen, wie schwierig ihre Situation ist, aber auch, wieviel Energie sie noch aufbringen. Tief innen sind sie voller Leben.

Eine Polizeistation ist ein wichtiger Ort der Geschichte. Ist das ein Set?

Das ist eine richtige Polizeiwache. Auf den Philippinen ist es sehr leicht, zu drehen. Alle sind sehr kooperativ, Drehgenehmigungen sind leicht zu bekommen, wir haben in den Zellen gedreht mit richtigen Gefangenen und einigen Komparsen. Manche Leute kannten mich, deswegen haben sie eifrig geholfen. Die Menschen sind nicht so besorgt darum, wie sie gefilmt werden. Das Kino ist Unterhaltung, davon profitiert auch noch ein Filmemacher wie ich. Lola ist allerdings ein wahrhaftiger Film, er zeigt die Realität, viele Menschen auf den Philippinen, die an das Mainstreamkino gewöhnt sind, würden ihn deswegen als langweilig empfinden.

Wie sehen Mainstreamfilme aus?

Sie sind unterhaltsam, haben einen attraktiven Look, berühmte Schauspieler, das Tempo ist nicht zu langsam, Produktionsdesign ist wichtig.

Lino Brocka ist der philippinische Regisseur, von dem wir ein paar Beispiele kennen, die man als kritischen Mainstream bezeichnen könnte.

Ja, das stimmt, aber ich persönlich denke, dass Brockas Filme vor allem das Melodramatische im Sinn haben, also eine gewisse Formelhaftigkeit von Emotionen. Ich konzentriere mich lieber auf eine Geschichte und verwende realistische Schauspieler, die einer Figur gerecht werden. Ich suche keinen Kompromiss mit dem Mainstream. Mein Vorteil ist: Mein Produzent ist nicht von den Philippinen, mein Produzent ist Ausländer, die Filme sind nicht darauf angewiesen, auf dem nationalen Markt viel einzuspielen. Heutzutage sind die Filmemacher stärker an realistischen Geschichten interessiert, das trifft auch auf mich zu.

In Serbis erzählen Sie von einer Familie, die ein Sexkino betreibt. Der Drehort ist schon der halbe Film, könnte man meinen. Wo haben Sie den gefunden?

Das Kino gibt es genau so, wie Sie es im Film gesehen haben. Nach Masahista (The Masseur, 2005) wollte ich eine Trilogie über Untergrundprostitution machen, der Erfolg von Masahistalegte das nahe. Als ich Recherchen machte, kam ich auf «Rentboys» in Kinos, aber irgendwie kamen diese Sachen nicht so richtig voran. Das sah alles ein wenig zu sehr nach einer Wiederholung von Masahista aus. Ich ließ das dann bleiben, und machte einen kleinen Film Manoro (The Teacher, 2006) …

Über eine junge Frau aus dem indigenen Volk der Aeta, die in ihrer Gegend das Lesen und Schreiben zumindest soweit bekannt machen will, dass die Menschen an Wahlen teilnehmen können …

… und einen relativ kommerziellen Film, Kaleldo (Summer Heat, 2006), eine Familiengeschichte. Als wir Summer Heat drehten, entdeckten wir in der Provinz dieses Kino und die Familie, die es betreibt. In diesem Moment sagte ich zu meinem Drehbuchautor: Das ist die Geschichte, die uns damals gefehlt hat. Es ist tatsächlich eine Geschichte über diese Familie, die in diesem Kino lebt und es betreibt.

Existiert ein Sexstar namens Barbara Milano wirklich? Ihr Name steht auf einem Plakat für einen Film mit dem Titel «Bedmates«, im Netz war zu ihr nichts zu finden.

Das ist ein tatsächlicher existierender Film aus den 80er Jahren. Man sprach damals von «frechen» Filmen («bold films»), in den 90ern sagte man ST-Filme («sex trip films»). Man sieht nicht allzu viel, aber die Mädchen tragen ein sexy Outfit, oft sind es Newcomer, ein Mädchen ist Jungfrau, es hat keine Erfahrung, und wird dann verdorben. In der Provinz werden diese Filme noch gezeigt, in Manila sind die meisten Kinos schon auf Cineplex umgestellt und befinden sich in den Malls, dort gibt es keinen Markt für diese sozialen Formen mehr.

 

Serbis (2008)

© Swift Productions

 

Für Serbis ist auch ein anderer Kontext wichtig, eine Novene, das ist eine religöse Gebetswoche.

Das ist wichtig, denn es zeigt die Ironie zwischen der Frömmigkeit und den Kompromissen, die damit geschlossen werden. Das macht unsere Kultur sehr farbig, denn die Menschen leben in dieser Ironie, und deswegen spielen die religiösen Aktivitäten in dieser Jahreszeit in meinem Film eine Rolle. Der Kalender ist in dieser Hinsicht ungeheuer dicht, eigentlich gibt es die ganze Zeit etwas. Das ist ein wichtiger Teil unseres Lebens, man müsste das ausdrücklich ignorieren, wenn man es nicht in einem Film haben wollte.

In Tirador (Slingshot, 2007) gehen die politischen und religiösen Veranstaltungen, wie zum Teil schon in Serbis, ineinander über.

Ich habe Tirador genau während der Senatswahlkämpfe gedreht. Auf den Philippinen ist genau geregelt, wann aus religiösen Gründen der Wahlkampf auszusetzen hat, aber natürlich nützen die Politiker diese Gelegenheiten, bei denen sich die Gläubigen versammeln, für ihre Zwecke. Manche schenken Rosenkränze her, manche Hemden, überall stehen ihre Namen darauf. Die Menschen nehmen das natürlich, das heißt nicht, dass sie für diesen Politiker stimmen. Das ist eine weitere Ironie, die ich zeigen wollte: Die Menschen und die Politiker versuchen einander auszunützen.

Welche Rolle spielt Religion heute im Leben der philippinischen Bevölkerung?

Wir wurden katholisch aufgezogen, unsere Eltern waren sehr religiös, es ist, als hätte man gar keine Wahl. Aber ganz ehrlich, die meisten Philippinos sind religiös, weil man nun mal religiös ist, sie sind nicht mit dem Herzen dabei, sondern es geht um ein System der Zugehörigkeit.

Machen wir einen Sprung an den Anfang ihrer Karriere. Sie begannen mit 45 Jahren als Filmemacher. Warum so spät?

Ich begann als Auftragsregisseur. Masahista (2005) war mein erster Film, das Drehbuch war ursprünglich eine schwule Liebesgeschichte. Ich fand, dass sie voller Klischees war, und ich wollte diesen Film durch Recherche auf eine andere Grundlage stellen. Die Produzenten dachten an einen Film, der «straight to video» gehen sollte. Ich war damals zufrieden mit meinem Leben, ich verdiente gutes Geld in der Werbung, man trat an mich heran, um diesen Film zu machen. Es war wie ein Abenteuer, und anfangs habe ich es nicht ganz ernst genommen – als ich jung war, wollte ich Filmemacher werden, aber nach vielen Jahren in der Werbung war das Bedürfnis nicht mehr so dringlich. Ich habe also den Auftrag angenommen, dann aber zuerst einmal recherchiert und viel über Masahistas herausgefunden, und so hat sich das Drehbuch allmählich verändert, und ich habe auch allmählich etwas über mich herausgefunden und darüber, wer ich sein wollte – als Filmemacher. Mir war damals vieles noch nicht klar. Ich habe mich bei diesem Film selbst neu entdeckt, und auch eine Ästhetik entwickelt. Ich habe den Film entlang der realen Erfahrungen von Masseuren entwickelt, es war ein Experiment. Wir mussten in diesem Fall einen Set bauen, vor allem wegen der Draufsichten, die ich in einem echten Bordell nicht hätte drehen können.

Wie haben die Produzenten reagiert?

Sie waren natürlich nicht zufrieden. Sie wollten einen kommerziellen Film, sie wollten Sex sehen, einen nackten, jungen Mann, einen Schwulenfilm, der sich gut verkauft. Aber als der Film bei einem großen Festival wie Locarno gezeigt wurde, wurde alles anders. Davor hatte ich ein Screening gemacht mit fünfzig Menschen auf den Philippinen. Es kamen 20 Freunde, 20 Leute aus der Industrie, zehn aus dem akademischen Bereich. Ich habe Papier und Bleistift ausgegeben, und alle sollten aufschreiben, was sie dachten. Es gab nur drei Leute, alle drei Akademiker, die den Film gut fanden. Danach habe ich Masahista zu Festivals in Locarno oder Toronto eingereicht. Preise auf Festivals haben den Film dann gerettet.

 

Masahista (2005)

© Gee Films Productions

 

Wie geht das philippinische Kino mit Homosexualität um?

Auf den Philippinen wird dieses Thema nicht ernst genommen. Es gibt schwule Figuren in Mainstreamfilmen, aber das sind in der Regel Karikaturen, sie haben keinen seriösen Wert und sind auch kaum einmal im Zentrum der Geschichte. Selbst Lino Brocka hat dieses Thema nicht sehr seriös behandelt, denken Sie an My Father, My Mother. Erst in jüngerer Zeit gibt es interessante Beispiele wie The Blossoming of Maximo Oliveros (2005) von Auraeus Solito.

In der alltäglichen Kultur wird die Homosexualität aber auch nicht verdrängt.

Nein, das ist alles sehr offen. Es gibt die Bars mit den Rentboys, manche Jungen arbeiten für Männer aus dem Militär, auch Bordelle werden von Militärs betrieben. Niemand tut so, als gäbe es das nicht.

Sie sagen, dass Sie mit Masahista das Kino erst entdeckt haben. Was war davor? Wir wissen, dass Sie Produktionsdesign gemacht haben und Werbung.

Ich war in den späten 80er Jahren ein Production Designer im Mainstreamkino, aber man verdient damit nicht wirklich Geld, und es waren auch keine guten Filme, an denen ich mitgearbeitet habe. Deswegen bin ich in die Werbung gegangen, da gibt es auch Grenzen der Kreativität, aber man verdient wenigstens gut. Und ich habe festgestellt, dass ich dieses Leben mochte. Ich wollte Filmemacher werden, aber es hat sich nichts ergeben, und so habe ich diese Idee irgendwann aufgegeben. Erst als das Angebot zu Masahista kam, hat sich das geändert. In der Werbung verkaufe ich Produkte, beim Film erzähle ich eine Geschichte, und ich muss gut darin sein, um wahrhaftig sein zu können. Werbung verkauft Produkte, du musst ihnen Glamour geben, du musst Ideen verkaufen. Im Kino geht es mir um Wahrhaftigkeit, das ist das Gegenteil von Glamour. Dieser Unterschied wurde mir klar.

Gibt es vielleicht trotzdem einen Werbespot, den Sie damals interessant fanden?

Ich habe einmal einen Spot für McDonald’s gemacht, ohne Dialog. Es gab eine Kirche während der Weihnachtszeit zu sehen, alles ist sehr feierlich gestimmt. Auf den Philippinen ist es üblich, dass die Menschen nach der Christmette essen gehen. Ich habe das dann so gelöst, dass ich gerade nicht eine Familie beim Essen im Fastfoodrestaurant gezeigt habe, sondern nach der Kirche kam nur noch das Logo der Kette. Ich finde, dass dieser Spot sehr gut auf die lokale Kultur eingeht.

Wie sahen damals Ihre Vorstellungen von einer Karriere als Regisseur aus?

Ich wollte der erste philippinische Blockbusterregisseur werden. Ich wollte den ersten Hit haben, in den Menschen in Massen hineingehen. Man würde mich als den größten Regisseur mit den berühmtesten Schauspielern anhimmeln – so habe ich mir das damals vorgestellt.

Gab es Veränderungen im philippinischen Mainstream in den letzten zwanzig Jahren, seit sie als Produktionsdesigner gearbeitet haben?

Im Mainstream hat sich in den letzten zwanzig Jahren nichts geändert, vielleicht ist es sogar noch ein wenig schlimmer geworden. Es gibt neue Schauspieler, aber die Geschichten bleiben immer die gleichen, Horror und Melodrama. Die meisten Fernsehsender importieren auch einfach Seifenopern aus Korea oder Spanien. Dagegen habe ich prinzipiell nichts, aber zuviel davon hilft dem Publikum nun auch nicht. Wenn von Nachmittag bis Mitternacht nichts anderes läuft, dann gibt es keinen Sinn für Realität mehr. Die Filmindustrie steht unter dem Druck, da mithalten zu müssen. Allerdings hat sich auf dem Feld der Independents eine Menge getan, dieser Sektor blüht, vor allem wegen der internationalen Wahrnehmung und nicht so sehr wegen der lokalen Akzeptanz und des lokalen Publikums. Das cinéphile Publikum ist sehr klein, die paar Regisseure müssen sich das aufteilen.

Sie gehören inzwischen selbst zu den wichtigsten Vertretern dieses unabhängigen philippinischen Films. Masahista hat Sie auf einen anderen Weg gebracht.

Ich habe begriffen, dass dieses Denken nicht richtig ist. Ich habe mich analysiert und habe gelernt, zwischen dem Richtigen und dem Falschen zu unterscheiden. Recherchen über das richtige Leben haben mich dahin gebracht. Die Vorstellungen des Produzenten sind von Wunschdenken geprägt, er möchte, dass nackte Männer herumlaufen.

Es gibt dann fast so etwas wie einen Quantensprung in der filmischen Kompetenz zwischen Masahista und Tirador, also innerhalb zweier Jahre.

Tirador habe ich einfach genossen. Ich hatte damals kein Geld, geplant war eigentlich ein Dokumentarfilm. Es gab Wahlkampf für den Senat, diese Gelegenheit gibt es nur alle sechs Jahre. Man sieht all diese interessanten Persönlichkeiten, es ist eine bunte Szenerie, diesen Moment wollte ich nicht versäumen. Aber ich suchte nach einer Perspektive, deswegen dachte ich zuerst an einen Taxifahrer oder einen Buschauffeur, aber das schränkt den Blickwinkel ein. Deswegen wurde die lokale Gemeinde von Chiapo selbst zur Hauptfigur, so konnten wir Politik und Korruption in den Blick bekommen, ohne die Politiker direkt ins Zentrum zu stellen. Ich hatte kein Geld, ich fragte ein paar Freunde, für mich zu spielen, die Kamera habe ich selbst gemacht, nur mit dem eingebauten Mikrofon. Trotzdem gab es einige Preise für den Sound, selbst Variety hat den Ton hervorgehoben, dabei habe ich nur das Kameramikro benutzt. Manchmal habe ich direkt vor Ort nachsynchronisiert. Weil ich manche Dialoge nicht verstanden habe, mussten die Schauspieler das gleich noch einmal sprechen – ein zweiter Take, ohne Bild. So stelle ich mir Guerillakino vor. Ich wollte auch eine bestimmte Musik, eine konkrete Musik, die aus dem Gerümpel, aus dem Müll, aus den herumliegenden Dingen entsteht. Ich wohne nicht weit von diesem Viertel, das heißt, dass ich einfach jeden Tag hinübergegangen bin, die Schauspieler traf und dann haben wir gedreht.

Allerdings schon auf Grundlage einer durchkonstruierten Geschichte.

Es begann mit Interviews bestimmter Figuren: Diebe, kleine Kriminelle. Wir fanden heraus, dass sie jeweils Experten für bestimmte Diebstähle waren, einer konnte Telefone, einer Schmuck, einer auf der Straße, einer in Geschäften. Wir haben eine «Arbeitswoche» dieser Leute während des Wahlkampfs und während der «holy week» (Karwoche) mitverfolgt und haben dann auf dieser Grundlage eine Kurve, einen Vektor entworfen, und daraus haben wir dann Einstellungen und Sequenzen entwickelt, wie zum Beispiel für die Frau mit dem Gebiss. Am Ende war es die Geschichte eines Orts, zusammengesetzt aus den persönlichen Geschichten.

Gibt es Raum für Improvisation, wenn die Struktur der Geschichte einmal steht?

Die Dreharbeiten dauern bei mir nie sehr lange, zwölf Tage ungefähr, kaum einmal mehr. Die Recherchen, das ist es, was dauert. Da nehmen wir uns viel Zeit, denn daraus entsteht eine Erzählung, die sehr konkret ist und sehr genau strukturiert. Bei den Dreharbeiten improvisieren wir dann noch in den Dialogen, aber wichtig ist es, dass da schon alles Wesentliche steht, wir müssen Gewissheit haben über unsere Werkzeuge. Das ist der Grund, warum es leicht ist für uns, sehr schnell zu drehen.

 

Tirador (2005)

© Center Stage Productions

 

Es gibt in Tirador eine Szene, die lange nachwirkt: Eine junge Frau, die von allen bewundert wird und viele Komplimente bekommt, kommt nach Hause und nimmt dann vor einem Spiegel ihren Zahnersatz heraus. Das ist wie ein Realitätsschock in einem sowieso schon realitätsintensiven Film.

Das hat einen konkreten Hintergrund. Ich kannte einmal jemanden, der so betrunken war, dass es ihm wirklich schlecht ging. Zahnersatz ist für die meisten Filipinos unerschwinglich, nun musste dieser Mensch kotzen und erbrach dabei seinen Zahnersatz mit. In derselben Sekunde war der Unglückliche total nüchtern und hat sich fast verzweifelt auf die Suche nach diesen Zähnen gemacht. Er fand sie nicht mehr, und es war ihm klar, dass es ewig dauern würde, bis er sich wieder welche leisten konnte. Diese Verzweiflung wollte ich in den Film bekommen, vor allem für Menschen, die vom Stehlen leben. Ich wollte diese ganze Dynamik zwischen der Wirkung nach außen und dem Blick nach innen (in den Spiegel) in eine Einstellung packen, und diese Sequenz enthält das alles.

Gibt es denn einen politischen Fortschritt auf den Philippinen? Sie haben immerhin in Manoro stark für das Wählen agitiert, in Tirador wirkt es eher so, als wäre alles vergeblich.

Es gibt in der philippinischen Politik keinen Fortschritt. Gestern (i.e. Anfang Februar) begann der Wahlkampf für das Präsidentenamt, da wird großer Aufwand betrieben, die Menschen aber nehmen das nicht mehr ernst. Es geht nur noch darum, von welchem Politiker sie eher profitieren können, um bestimmte Erleichterungen vorübergehender Art. Es gibt keine Loyalität, alle versuchen einander auszunützen, man wird ausgenützt und nützt aus. Das ist der Zustand der Politik auf den Philippinen.

Auf Mindanao hat kürzlich ein Politiker den Rivalen mit seiner Familie und dem ganzen Tross samt Journalisten einfach massakrieren lassen.

Wie die meisten anderen Fälle, die so gravierend sind, wird man auch diesen verschleppen. Von Zeit zu Zeit taucht noch etwas in den Nachrichten auf, aber allmählich wird man es vergessen. Das ist das Traurige an unserem Justizsystem. Es kommt auch sehr darauf an, auf welcher Seite man steht: Die Täter von Mindanao gelten als zur Regierungspartei gehörig, deswegen wird man sie nicht konsequent belangen.

In den Kommentaren zu Tirador in der Internet Movie Database hat jemand geschrieben, Sie würden von Chiapo ein einseitiges Bild zeichnen – in Wahrheit sei es dort ganz ruhig.

Ich glaube, dass ich mehr über Chiapo weiß als diese Person. Viele Menschen sehen ja gar nicht mehr richtig hin, sie stumpfen ab, sie immunisieren sich. Ich würde definitiv nicht etwas zeigen, was nicht irgendwie auch geschehen ist. Als wir gefilmt haben, haben wir meistens um fünf Uhr Nachmittag aufgehört, und es kam einmal tatsächlich vor, dass eine Szene, die wir an diesem Tag gedreht hatten, wenig später in den Nachrichten vorkam, weil sie sich tatsächlich ganz ähnlich an diesem Tag ereignet hatte. Wir waren sprachlos, denn es wirkte wie direkt aus unserem Film. Ich werde immer wieder von Filipinos kritisiert, dass ich diese Geschichten zeige. Ich beute die Armut aus, sagen sie, wenn sie aber wirklich hinsehen und einer Situation gegenüber aufrichtig sind, dann lässt uns das nicht schlecht aussehen. Vielmehr ist es schlicht die Wahrheit: 70 Prozent der Menschen sind arm, ich kann nicht die 30 Prozent zeigen, denen es gut geht. Die Filipinos können sich mit meinen Filmen identifizieren, denn ich zeige ihr tatsächliches Leben, nicht das der geschützten Viertel, in die ich ohne entsprechenden Ausweis gar nicht hineinkomme.

Es gibt allerdings im globalen Arthausbetrieb eine bestimmte Ghetto- oder Favela-Attraktivität, für die Filme wie City of God aus Brasilien stehen. Davon unterscheidet sich Tirador doch deutlich.

Da bin ich mir ganz sicher. Als ich meine Filme in Japan zeigte, bekam ich von den philippinischen Expats diese typischen Reaktionen: Sie lassen uns schlecht aussehen, wir arbeiten hier schon so lange, und nun machen Sie unsere Heimat schlecht. Ich fragte zurück: Wie lange arbeiten Sie schon hier? – 20 Jahre. – Warum arbeiten Sie nicht auf den Philippinen? Darauf konnte mir diese Frau nicht antworten. Ich war überrascht, als ein japanischer Journalist später sagte: Ich sehe Hoffnung in Ihren Filmen, nicht Depression oder Pessimismus, wie das anscheinend viele Menschen auf den Philippinen sehen. In Japan würden Menschen sich eher töten als so ein Leben zu führen. Die Selbstmordrate auf den Philippinen aber ist sehr niedrig. Das war für mich ein sehr wichtiger Hinweis. Denn ich zeige zwar ein schwieriges Leben, aber ich zeige das Leben, und zwar auf eine möglichst wahrhaftige Weise.

 

Das Gespräch führten Bert Rebhandl und Lukas Foerster. Dank an Bodo Knapheide und Christine Sievers