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Die Gegenwart wirft lange Schatten Über eine DVD-Edition, die neben den (Geschichts-)Filmen von Thomas Brasch auch seine Fernsehauftritte als Künstlerfigur versammelt

Von Matthias Dell

Katharina Thalbach und Thomas Brasch, Engel aus Eisen (1981)

© Absolut Medien

 

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Größe und Verschüttetheit von Thomas Brasch bezeugt Youtube in nüchterner Manier. Gibt man den Namen des Schriftstellers und Filmemachers ein, stößt man auf ein in fünf Clips aufgeteiltes Interview, das Brasch 1988 in der SDR-Sendung «Im Gespräch» gegeben hat, sowie auf einen Ausschnitt von der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981, in dem Brasch für die Regie seines späten Debüts Engel aus Eisen ausgezeichnet wird. Die Leiste mit den «Ähnlichen Videos» deutet dabei an, welches Potenzial der 2001 verstorbene Brasch als mediale Figur hat, der seine Interviewer in die Verunsicherung treibt, weil er auf falsche Fragen nicht falsch antworten will: Dort wird mit Klaus Kinski ein veritabler Youtube-Star geführt. Zugleich belegen die Zahl der Kommentare sowie die der «Views» (im unteren vierstelligen Bereich), dass Brasch bislang eher einer Minderheit bekannt ist.

Die Entdeckung des Filmemachers wie der Künstlerfigur Thomas Brasch erhält Nährboden nun durch eine Veröffentlichung in der Filmedition Suhrkamp. Verdienstvollerweise beinhalten die 3 DVDs nicht nur die vier Filme (Engel aus Eisen, Domino, Mercedes, Der Passagier – Welcome to Germany), die Brasch gedreht hat. Christoph Rüter, dessen Name mit Porträtfilmen etwa über Heiner Müller (Die Zeit ist aus den Fugen, 1989/90; Ich will nicht wissen, wer ich bin, 2009) verbunden ist, hat die Fernsehrecherche durchgeführt. Besorgt wurde die Edition von Martina Hanf, Brasch-Spezialistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner Akademie der Künste, und Kristin Schulz, die zuvor an der ebenfalls bei Suhrkamp erschienenen Heiner-Müller-Werkausgabe mitgewirkt hat. Und so finden sich als Beigabe zu den Filmen Schnipsel von Fernsehauftritten, die auf eine erhellende Weise – nicht allein – das filmische Werk des Thomas Brasch kommentieren.

Vielmehr erzählt dieses Footage eine ganz eigene Geschichte des Künstlers und seiner Zeit. Braschs Medialisierung als Künstler, überhaupt: seine Künstlerwerdung setzt ein mit der Übersiedlung nach West-Berlin in der Folge der Biermann-Ausbürgerung Ende der 70er Jahre. Sein Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne war zuerst im Westen Deutschlands erschienen; vor die Wahl gestellt, ihn zurückzuziehen und auf unbestimmte Zeit zu verstummen oder dem Buch zu folgen, entschied sich Brasch für letzteres. Wiewohl ihm dieser Schritt nicht leicht gefallen ist: Gerade in der medialen Öffentlichkeit, derer sich Brasch mit einem Mal erfreuen durfte, wird die Unmöglichkeit sichtbar, einen eigenen Platz als Deutscher zu behaupten in einer Zeit, in der Fragen der Staatszugehörigkeit einer ideologisch aufgeladenen Bipolarität unterworfen waren. Schon der im letzten Jahr bei Suhrkamp erschienene Interviewband Ich merke mich selbst nur im Chaos, ebenfalls von Hanf gemeinsam mit Annette Maennel herausgegeben, macht in enervierender Redundanz die Zerrissenheit zwischen den beiden deutschen Ländern deutlich, die Brasch seit seiner Übersiedlung empfunden hatte und die er durch einen radikalen Rekurs auf sein Künstlertum zu überwinden versuchte. Wie fremd dem Künstler die Erwartungen des Westens blieben, dokumentiert das in dem Interviewband geäußerte Angebot des Suhrkamp-Verlags, für 100 000 DM ein Tagebuch seiner Übersiedlung zu verfassen, das Brasch wohlweislich ausschlug. Er wolle kein zweiter Biermann werden, beschied der Künstler kühl und benannte damit die Gemengelage, in der sich jeder prominente Flüchtling wiederfand. Für eine noch zu schreibende Dissidentengeschichte der politischen Geworfenheit einer ästhetischen Existenz in Zeiten des Kalten Kriegs kann Brasch als Kronzeuge dienen: weil sein Schicksal gut dokumentiert ist und weil er sich vehement gesträubt hat gegen falsche Vereinnahmung.

Braschs prominenter Hintergrund, wenn auch kein Einzelfall unter den Ausgereisten, bestärkte die Gelüste einer Trophäisierung, die ihm im Westen entgegenschlugen: als ältester Sohn einer Familie von jüdischen Antifaschisten am Ende des Kriegs geboren in England, die beiden, wie Thomas vor der Zeit verstorbenen Brüder Klaus und Peter ebenfalls Künstler (Schwester Marion, die einzige Überlebende der Familie, ist heute Radiomoderatorin in Berlin), der Vater stellvertretender Kulturminister, Besuch einer Kadettenschule der NVA, vom Studium der Journalistik exmatrikuliert, wegen Verteilung von Flugblättern nach dem Einmarsch der Sowjets in Prag Gefängnis, danach Bewährung in der Produktion – ein bürgerliches Leben, das im Westen zwangsläufig in 1968 aufgegangen wäre, in der DDRaber in der selbstzerstörerischen Klebrigkeit von um Liebe ringender Dissidenz gefangen bleiben musste.

Von solch widerstrebenden Gefühlen ist Brasch im Westen, anders als seine Gesprächspartner und Porträtisten wie Georg Stefan Troller annehmen wollten, nie erlöst wo rden. Braschs Trotzigkeit, die eigene Haut nicht billig zu verraten, spiegelt die Bayerische Filmpreisverleihung wider, die auf den DVDs zu finden ist und die nicht zufällig Bildexegeten wie den Berliner Radiomoderator und Volksbühnenvideoschnipselreferenten Jürgen Kuttner zu Höchstleistungen motiviert hat: Ein Jurymitglied verkündet in einem prächtigen, aber auch intim wirkenden Theaterhaus die Preisvergabe an Engel aus Eisen, während daneben auf der Bühne Franz Josef Strauß steht als rotgesichtig-halslos-x-beiniger Gartenzwerg. Die Kamera zeigt die erste Reihe, in der sich ein immerhin im Jackett gekommener Thomas Brasch neben einer feixenden Katharina Thalbach erhebt, die beide wirken wie zwei Halbstarke, die sich unter feine Leute geschlichen haben. Brasch geht auf die Bühne, nimmt unbeholfen die Plastik und die Urkunde von Strauß entgegen, legt sie wie ein Oberschüler ohne Manieren neben dem Rednerpult ab, um seine Zweifel an der Annahme des Preises aus den Händen des, es ist kurz nach Strauß’ Kanzlerkandidatur, von – linken – Intellektuellen meistgehassten Mannes der deutschen Politik zu begründen und schließt mit dem Satz, er danke der Filmhochschule der DDRfür seine Ausbildung, der unter vehementem Gegrummel aus dem Saal unterzugehen droht. Strauß, noch rotgesichtiger, lächelt unentwegt und lobt Braschs Rede als Beispiel für die liberalitas bavariae; dass die Verantwortlichen daraufhin die Hotelkosten von Brasch zurückfordern, ist erst im Nachhinein zu erfahren.

 

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Die Rede ist trotzig, aber sie ist auch symptomatisch. Die Ost-West-Opposition hat Brasch nicht mitmachen, sondern in ein Nebeneinander relativieren wollen. Das erklärt, warum einem Engel aus Eisen (1980) auf eine Weise fremd und avanciert erscheinen muss; der Diskurs hat den Film noch immer nicht eingeholt. Der Film erzählt die Berliner Räubergeschichte der Gladow-Bande, in der nach dem Krieg Schüler zu stadtbekannten Verbrechern werden. Die Bande spielt mit dem Ost-West-Gegensatz Katz und Maus, sie flieht immer dahin, wo die zuständige Polizei an der Sektorengrenze stoppen muss. Die Unterscheidung zwischen Ost und West ist ihr nicht mehr als ein Krawattenmuster: Gestreifte Krawatten für die Ostmitglieder, gepunktete für die aus dem Westen, erklärt einer einmal im Film. Die Weltpolitik, für die gestreift und gepunktet ein Unterschied ums Ganze ist, ist Hintergrundgeräusch. Am Himmel die Flieger, die West-Berlin über eine Luftbrücke versorgen, und Ernst Reuters Rede an die Völker der Welt als leiser Soundtrack zu einer Reihe von Überfällen, die die Bande begeht dank der Kenntnisse, die der arbeitslos gewordene Henker und jetzige Polizeiarchivar Völpel, gespielt von Hilmar Thate, aus Akten und Bauplänen hat.

Das Verbrechen ist die Jetzt-Zeit in Engel aus Eisen, nicht die Berlin-Blockade, in deren Rücken es möglich wird. Das ist die alternative Auffassung von Geschichte, die Braschs Filme vertreten. Verbrechen ist kein moralischer Akt, sondern bedeutet auch die Möglichkeit einer Dissidenz. In Der Passagier – Welcome to Germany (1988/89) verkneift sich Irm Hermann in der Rolle einer KZ-Kommandantin den Hinweis auf einen für einen Film aus dem Lager ausgewählten Juden nicht: Der Junge Baruch (gespielt von Birol Ünel) sei nicht nur Jude, sondern auch kriminell. Das Auswählen der Juden für die Mitwirkung an einem Film geht auf Veit Harlans Arbeit (Jud Süss, Die goldene Stadt) zurück, bei der Juden als Komparsen eingesetzt wurden. In Der Passagier steht am Ende Baruchs Tod durch einen Verrat, den Freund Janko (Gedeon Burkhard) begeht. Das Verbrechen macht Baruch, der aufgrund seiner jüdischen Identität Opfer ist, menschlich in einem Sinne, der die Komplexität der Figur erhöht. «In Widersprüchen leben», lautet ein Credo aus einer Fernsehdiskussion, aus der Filmpreisrede, das Braschs Scheu vor einfachen Lösungen beschreibt. Der Umgang zwischen den Verbrechern Gladow (Ulrich Wesselmann) und Völpel hat etwas Zärtliches.

Braschs Filme handeln von Geschichte, indem sie die Zeit aus ihrer Rolle als Chronologie entlassen. «Lieber Gott, erspar mir in einer uninteressanten Zeit zu leben. Oder so», heißt es am Beginn von Engel aus Eisen, was nebenbei eine bezeichnende Szene für Braschs eklektizistischen Stil ist: Hilmar Thate und Katharina Thalbach als Theaterfiguren vor einem Flugzeug, das an das Ende von Casablanca erinnert, Expressionismus gepaart mit Lakonik («oder so»). Der letzte Satz macht in Engel aus Eisen das Licht aus dem Prolog aus. Kommissar Schäfer (Peter Brombacher) sagt über den verhafteten Kollegen Völpel, als die vier Mächte sich geeinigt haben, die Anarchie vorbei ist, die Ordnung anfängt: «Jetzt, wo alles wieder losgeht.» Der Film dehnt durch seine Langsamkeit, seine Stilisierung, sein Desinteresse an der action die kurze Pause vom geordneten Gang der Dinge zur eigentlichen Gegenwart.

Mercedes (1984), die theaterhafte Verfilmung von Braschs gleichnamigem Stück für das holländische Fernsehen, in fahler Farbe und wenigen Einstellungen gedreht, beginnt mit einem Text über die Zeitauffassung der Zuni-Indianer, die «ohne Maschinen» ist, «wo Arbeit ausgeht», frei von den Takten, die das geregelte Leben strukturieren. In Domino (1982) – dem Film, der die magische, stilisierte, traumverlorene Bildsprache Braschs mischt mit dokumentarisierenden Blicken auf die winterlichen Einkaufsstraßen West-Berlins, in die sich gleich zu Beginn ein anonymer Mann mit seinem Mantra wider die Arbeitslosigkeit verirrt – ist die Spielzeit (und Drehzeit) klar umrissen: die Tage von Weihnachten bis Silvester, die Lisa Gabler (Katharina Thalbach) mit ihrer Einsamkeit konfrontieren, die schließlich zum Ausbruch aus den Normierungen des Lebens als Schauspielerin führen. Ein paar Tage, in die alles Leben hineingehört: Wie selbstverständlich sitzt die gleichalte Mutter Lisa Gablers (ebenfalls gespielt von Katharina Thalbach) mit ihr am Küchentisch, wird in der Beziehung zum Regisseur Lehrter (Bernhard Wicki) eine Vaterschaft angedeutet, und am Ende öffnet sich zur Befreiung Lisa Gablers eine Winterlandschaft mit durchziehenden Menschen: Herkunft, Zukunft, in einer Woche.

Am konsequentesten setzt Brasch in Der Passagier – Welcome to Germany die Zeit ins Bild. Der Film ist Film-im-Film-im-Film und dabei nie nur handwerkliches Geschick: Ein amerikanischer Regisseur kommt nach Deutschland, um die Geschichte seines Lebens, seiner Flucht, seiner survivor’s guilt zu inszenieren, und die nachgestellten Szenen mit den Juden aus dem KZ, die in einer antisemitischen Geschichte mitspielen sollen, dienen zur Evozierung der Geschichte, nicht von Handlung. Fast unmerklich wechselt die Kamera bei der Abfahrt der Juden aus dem KZ in die Ankunft der Schauspieler auf dem Filmgelände. In der Eingangsszene vollzieht Cornfield im Heute die tödlich endende Flucht von Baruch nach. Das wird er später noch einmal tun, und noch einmal wird es die Maskenbildnerin tun, die Katharina Thalbach wiederum in einer Doppelrolle spielt, als junge Frau im historischen Film und als alte Frau, die neben Cornfield die einzige Zeitzeugin ist, das Korrektiv seiner Erinnerung, die den Verrat des Freundes erst offen legt. Durch seine virtuose Verschachtelung, zu der auch die Engführung von Casting und Selektion gehört, gelingt dem Film etwas Unerhörtes: eine eminente Verkürzung der Zeit des Erlebens und der Zeit des Erinnerns. Patina kann dieser Film nicht ansetzen, weil keine Luft ist zwischen seinen Schnitten, die 1942 von 1988 trennen. Der kühne, nicht glättende, sondern Widersprüche aufwerfende Relativismus von Thomas Braschs Filmen besteht genau darin: in der Verwandlung von Geschichte in Gegenwart. Und diese Gegenwart wirft lange Schatten.

Thomas Brasch: Filme (3 DVDs, erschienen in der Filmedition Suhrkamp / Absolut Medien)