berlinale 2021

Was bleibt

What Do We See When We Look at the Sky?

© Faraz Fesharaki/DFFB

 

Azor (Andreas Fontana) Ein Banker aus Genf muss nach Argentinien, weil der dortige Repräsentant verschwunden ist. Es ist die Zeit der Militär­diktatur: Ein Gewaltregime, von dem Yvan De Wiel nicht viel mitbekommt, weil er damit beschäftigt ist, die Spitzen der Gesellschaft gelddiplomatisch zu betreuen. Azor erzählt in einer großen, eleganten Allegorie von einer Urszene der Gegenwart: von der Erfindung einer brutalen Abschöpfungsökonomie, die in den Schwarzgeldparadiesen ihre Infrastrukturen findet. Erste und Dritte Welt konspirieren gegen alle, die nur Leib und Leben (und Hunger nach Gerechtigkeit) haben. Eldorado erweist sich als eine Buchhaltung des Grauens. reb

 

Bad Luck Banging or Looney Porn (Radu Jude) Auf diesen Titel muss man auch erstmal kommen. Wildes Teil, in mancher Hinsicht, aber auch, wie immer bei Radu Jude, knallvoll mit konzeptuellem Schabernack. Ein Triptychon, das die rumänische Gegenwart filetiert, enzyklopädisierend ins Found Footage-Archiv geht und schließlich auf einem leicht trashigen Theaterbühnenset implodiert. Dort dann nicht nur ein Schwall reaktionärer Sprechakte, sondern auch lustige Militäruniformen, fast wie auf dem Traumschiff. Ein Lehrerkollegium versammelt sich, das ein geleaktes Heimvideo, in dem eine Kollegin bei einer Privatveranstaltung mit Maske zu sehen ist, gemeinsam sichtet und gründlich nachbespricht. Schauprozesstheater mit Wonder Woman, Milo Rau würde ins Grübeln kommen. Pornografisch aber vor allem der Blick auf Bukarests automobilen Verkehr. Vollfrontal dokumentiert: der Normalwahnsinn dieser wirklich sehr «autogerechten» Stadt. Männer, die riesentraktorartige Geländewagen auf Zebrastreifen parkieren und dann bei laufendem Motor aussteigen, um einfach mal durchzuatmen. rot

 

Herr Bachmann und seine Klasse (Maria Speth) Nah an den Wohnblocks stehen die Fabrikanlagen der Fritz Winter Eisengießerei. Früher ringsherum Rüstungsfirmen, WASAG, DAG, im NS groß geworden mit Zwangsarbeit, das volle deutsche Programm. Dieter Bachmann, kurz vor der Berentung, meist bestrickmützt, Hoodie mit RAW-Schriftzug, arbeitet schon lange im mittelhessischen Stadtallendorf, als Lehrer für alles. Was genau er unterrichtet, könnte ich auch nach 210 faszinierenden Minuten, die ihn und die von ihm Beschulten im direct cinema-Modus bei der Arbeit beobachten, nicht genau sagen. Irgendwie halt wirklich alles und am besten nichts mit Medien (taucht ein Smartphone auf, wird es konfisziert), sondern was mit Gitarre, gerne auch mal Steine klopfen. Bachmann kennt seine Pappenheimer, praktiziert (lebt, darf man hier sagen) Integration mit alltäglicher Selbstverständlichkeit. Kein Zweifel, dass er den Kindern der 6b, die oder deren Familien überwiegend aus Rumänien, Bulgarien, Kasachstan, Marokko, auch aus der Türkei und Sardinien kommen, erste, zweite, dritte Generation, etwas beibringt. Beeindruckend entfaltet sich ein sehr selbstgebautes pädagogisches Alternativprogramm. Eine gut abgehangene altlinke OSI-Vergangenheit schimmert durch. Da war mal eine andere Berliner Luftluftluft. Aber Bachmann ist null nostalgisch, geht völlig in Gegenwart auf. Eine Geduld und Zugewandtheit, die nicht von dieser Welt, aber offenbar ansteckend ist. rot

 

Juste un Mouvement (Vincent Meessen) La Chinoise (1967) von Godard gilt als eines der wichtigsten Kinozeugnisse zu den Ereignissen von 1968. Einer der Protagonisten war Omar Blondin Diop, ein junger Mann aus Afrika. Er wurde 1969 abgeschoben, betätigte sich im Senegal in der Opposition gegen den Präsidenten Senghor, und starb 1973 auf der Gefängnisinsel Gorée unter bis heute nicht aufgeklärten Umständen. Vincent Meessen versucht, das intellektuelle Erbe dieser Generation in seine Gegenwart zu holen. 1968 war der Maoismus eine der wichtigsten politischen Strömungen, das kommunistische China galt als Modellsystem. Heute betreibt China in Afrika neoimperiale Außenpolitik. Meessen arbeitet zwar auch dokumentarisch in einem klassischen Sinn, er zeigt Archivmaterial und hat Interviews geführt. Doch Juste un mouvement geht weit über Zeitgeschichtsschreibung hinaus und versucht, in einer essayistischen, poetischen Form viele, zum Teil auch eigenwillige Verbindungen zwischen damals und heute herzustellen. reb

 

Petite Maman (Céline Sciamma) Es ist Céline Sciammas große Kunst, aus einfachen Elementen Komplexität herzustellen. Nichts könnte klarer sein, und simpler, als die Dinge, die Nelly, vielleicht sechs oder sieben, widerfahren, nichts simpler als die Handlungen, die die Kamera zeigt und bezeugt. Es ist die Großmutter gestorben, Nelly geht durch Flure, nimmt Abschied. Bald darauf ist sie im einsamen Haus der Großmutter mit ihrem Vater allein, die Mutter verschwindet. Im Wald trifft Nelly auf ein anderes Mädchen, es heißt Marion, wie Nellys Mutter. So konkret jedes Bild weiterhin bleibt, die beiden spielen im Wald und Haus, sprechen über eine Operation, die Marion bevorsteht, backen Pfannkuchen, so sehr ist alles, was man sieht, eine Überblendung im Geiste: Marion ist das Mädchen im Wald und ist zugleich auch die Mutter. Der Titel Petite Maman bringt das in aller unauflöslichen Einfachheit auf den Punkt. ek

 

A River Runs, Turns, Erases, Replaces (Shengze Zhu) Der Fluss ist der Yangtze, der Ort ist die Millionenstadt Wuhan, die jetzt jeder kennt. Nur zu Beginn sind Bilder aus dem Zentrum zu sehen, die meisten Einstellungen beobachten die Menschen und ihr Leben vom Fluss her. Es sind Tableaux, die Kamera bleibt meist statisch, an Benning kann man denken, auch weil zwischen Bild und Ton oft Freiräume bleiben, Gesang, der von irgendwo herweht. Bau­arbeiter an einer Brücke sind zu sehen, Menschen auch, die im Dunst, der oft über der Stadt liegt, ein Bad nehmen im Yangtze. Das Trauma der Stadt (die Pandemie, die den Rest der Welt noch im Griff hat) wird vor allem in schriftlichen Inserts thematisch: Gestorbene, Abwesende werden adressiert, die an Corona gestorben sind. Die Stimmen sind verschlagen, nur Fetzen zu hören. ek

 

What Do We See When We Look At the Sky (Alexandre Koberidze) Zum schlechtest denkbaren Zeitpunkt werden zwei junge Menschen in Kutaissi, Georgien, über Nacht verwandelt: nach der ersten Begegnung, vor dem ersten Rendezvous. Lisa und Giorgi sind für einander unerkennbar geworden, Liebende in einem Körper, der dem bereits festlegten Blick des Anderen nichts bedeutet. Eine Gefangenschaft auch in Logiken einer Welt, in der Verwünschungen und Flüche für denkbar gehalten wurden. Die Stimme eines großväterlich klingenden Mannes aus dem Off ist einer der Anker, die Alexandre Koberidze in dieser Welt wirft: eine Stimme, die ein Garn spinnt, das an manchen Stellen des Films die ganze Welt umfasst. Dann nämlich, als ein Fußball in den Himmel steigt und dann in einen Fluss fällt, in dem er bis in die Fluten des Unerzählbaren mitgerissen wird. Der Bann, in den Koberidze schlägt, wird kinomythologisch gelöst, und der italienische Sommer, in dem Deutschland nur zu der Deutschen Freude Fußballweltmeister wurde, bekommt im fernen Kutaissi, hinter den sieben Bergen, eine schöne alternativhistorische Pointe. reb

 

The Wheel of Fortune and ­Phantasy (Ryusuke Hamaguchi) Zwischenmenschliche Verhältnisse, die instabil sind, darum geht es bei Hamaguchi immer, auch hier. Der Film ist ein Triptychon aus drei Kurzgeschichten, kammerspielartig, nicht über die Figuren verbunden, eher über die Motive und das Modellhafte der Konstellation. Eine Frau, die einer anderen von einer betörenden Begegnung mit einem Mann erzählt, der sich in der Folge als Ex der anderen erweist. Eine Frau, die von ihrem Geliebten, der mit seinem Ex-Professor noch ein Hühnchen zu rupfen hat, dazu verführt wird, diesen zu verführen. Das geht schief, aber nicht unbedingt so, wie man denkt. Und drittens zwei Frauen, die einander verkennen, hier aber, wo gar nichts stimmt, erscheint alles möglich. Hamaguchi ist ohne Bösartigkeit, auch ohne Sentiment. Hong, Rohmer, Ozu: Hat von allem was, bleibt aber eigen.

 

cargo Filmrating Berlinale 2021

Alexander Horwath und Bert Rebhandl im Gespräch