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Komplementärkontrast Ambition in Richtung Psycho-Horror: Über Kantemir Balagovs Beanpole

Von Elena Meilicke

Beanpole (2019)

© Eksystent Distribution

 

Beanpole beginnt mit zwei Szenen der Lähmung, gleich hintereinander montiert – konkreter: mit zwei gelähmten Körpern. Die erste Szene zeigt Iya, die Haut blass, die Haare weißblond, eine ätherisch-gespenstische Schönheit mit überlangen Gliedmaßen. Bewegungslos, wie in Trance, steht sie in einer Waschküche, den Blick starr in die Ferne gerichtet. Um sie herum hantieren Frauen, alle Geräusche sind leise und fern; gut hörbar dagegen Iyas trockenes Schlucken, ein unangenehm klickendes Geräusch. Als die junge Krankenschwester wieder zu sich kommt, eilt sie zum Bett eines Verwundeten. Der ist blass und dünn wie sie und erzählt Geschichten vom Krieg. Währenddessen, Großaufnahme, sticht ein Arzt ihm mit einer langen Nadel in die Fußsohlen, in den Rücken: «Spüren Sie hier etwas?» Nein, nichts.

Leningrad, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Krieg ist gewonnen, doch die Paralyse, die den jungen Soldaten irreversibel und Iya anfallsweise befällt, hat die Welt des Films fest im Griff. Die Luft scheint zu knapp zum Atmen, die Erschöpfung endlos. Alle Bewegungen und Gesten der Menschen sind verlangsamt, sie erinnern an Untote. Die Zuschauerin erfährt, dass auch Iya – sie ist, hochaufgeschossen, die titelgebende Bohnenstange – im Krieg gekämpft hat und ihre Anfälle Folge einer Verwundung sind. Sie wohnt in einer kommunalka, einer herrschaftlichen, zur Gemeinschaftsunterkunft umfunktionierten Altbauwohnung und kümmert sich liebevoll um den kleinen Sohn ihrer Freundin Mascha, die noch in der Armee ist. Doch als Mascha – in allem das Gegenteil zu Iya: klein, drahtig, wild – zurückkehrt, ist das Kind tot. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine folie à deux, ein klaustrophobisches Verhältnis zwischen Liebe, Dominanz, Schuld und Abhängigkeit. Es gipfelt darin, dass Mascha, an deren Unterleib eine große Narbe (Kaiserschnitt? Schrapnell?) prangt und die keine Kinder mehr bekommen kann, von Iya ein Kind verlangt. Ein Kind soll beide heilen, erlösen, zurück ins Leben führen.

Beanpole ist der zweite Film des erst 28-jährigen russischen Regisseurs Kantemir Balagov (der auch das Drehbuch geschrieben hat), und er nennt eine ganze Reihe visueller und narrativer Einflüsse: Vermeer und die Farben der niederländischen Malerei; ein Foto von Robert Capa aus dem Jahr 1947, das tanzende Frauen in Moskau zeigt; und vor allem das Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (1985) von Swetlana Alexiejewitsch (auf einem der Bücher der weißrussischen Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin beruhte auch die HBO-Miniserie Chernobyl von 2019). Der Krieg hat kein weibliches Gesicht ist eine Art Dokumentarroman, eine Montage von Interviews mit Frauen und Mädchen, die in der Roten Armee gedient haben; ihrer verdrängten Erfahrung wollte Alexiejewitsch eine Stimme geben, dabei «keine Geschichte des Krieges, sondern eine der Gefühle» schreiben, und zwar so, «dass dem Leser übel wird davon.» Balagovs Bezug auf Alexiejewitsch ist lose und frei, von einer Adaption kann man nicht sprechen; aber den Hauptkonflikt, seine Ausgangsfrage, scheint er von ihr entlehnt zu haben. Sie schreibt: «das Wesentliche ist: Wie unerträglich es ist, zu töten, denn eine Frau gibt Leben. Trägt es lange in sich, zieht es groß. Ich begriff, dass es Frauen schwerer fällt zu töten.»

Beanpole wird als (Anti-)Kriegsfilm mit weiblicher Perspektive gehandelt und läuft auch auf einigen Filmfestivals mit LGBTQ-Fokus – ganz kann der Film diese Versprechen aber nicht halten. Die Art und Weise, wie Mascha in den Film eingeführt wird und ihr erster Auftritt inszeniert ist, trägt ein Moment von drag in sich, spielt mit dem Queering von Geschlechtsidentitäten: Bevor ihr Gesicht zu sehen ist, filmt die Kamera lange nur ein Paar derber Soldatenstiefel, während auf der Tonspur eine rauhe, tiefe Stimme drängt: «Mach auf, Iya, mach die Tür auf!» In seiner anschließenden Fixierung auf den Kinderwunsch als Erlösungsfantasie hängt Beanpole dann aber doch einem Biologismus an, und der allegorisch aufgeladene Plot rund um die «unfruchtbare» Frau, die um jeden Preis, fast wahnhaft, ein Kind haben will, um eine äußere oder innere «Leere» zu füllen, ist nicht so weit entfernt vom alten misogynen Klischee der hysterischen Frau, deren Wahnsinn mit ihrem Uterus zu tun haben soll.

Allerdings scheint das Auseinanderdröseln von Plotkonstruktion und (verquaster) Figurenpsychologie am Film ohnehin vorbeizugehen: Die Ambition geht in Richtung Psycho-Horror, ein wenig Übersteigerung und Hyperbolik ist angebracht. Visuell ist Beanpole – Kamera geführt hat die Russin Kseniya Sereda – ein unglaublich gut aussehender Film, bis ins letzte Detail geschliffen, fast zu poliert. Die Farben zum Beispiel; Beanpole ist ein Film aus Rot und Grün, zum Glühen und Leuchten gebracht durch gelbes Licht: die Wände im Krankenhaus, Maschas sumpfgrüner Soldatenmantel, ihr rötlich schimmerndes Haar, Iyas grell-roter Wollpulli und das überdrehte Giftgrün eines geliehenen Seidenkleides. Bei Alexiejewitsch erzählt eine Ex- Soldatin: «Einmal nähte ich mir eine Bluse aus rotem Stoff, am nächsten Tag hatte ich komische Flecken auf den Armen. Bläschen. Ich konnte kein Blut, keinen roten Batist, keine roten Blumen, ob Rosen oder Nelken, mehr vertragen … Nichts Rotes …» Rot und Grün sind Primärfarben, Signalfarben, Komplementärkontrast, der einfachste und stärkste, den die Palette hergibt. Eine symbolische Lesart drängt sich auf: das Farbe gewordene Verhältnis der beiden Hauptfiguren, der Gegensatz von Leben und Tod.

 

Closeness (2017)

© Wild Bunch

 

Beanpole hatte, wie Balagovs erster Film, Premiere in Cannes, mit exzellenten Kritiken: «sensationally talented», fand die New York Times, «possibly the most arresting young filmmaker to emerge in the last few years», schrieb J. Hoberman in der New York Review of Books. Unterfüttert wird die Wunderkind-Genie-Rezeption durch Balagovs Beziehung zu Alexander Sokurov, an dessen Filmschule Primer Inotnatsii Balagov studiert hat (vgl. das Gespräch mit Sokurov in cargo 42). Ein Teil der Faszination hat vielleicht auch mit Balagovs Herkunft zu tun, die sein erster Film Closeness (2017) ausdrücklich zum Thema macht, in einem Akt entwaffnend direkter, fast rührender Selbsterklärung: «My name is Kantemir Balagov. I am a Karbadian. I was born in the town of Nalchik in the North Caucasus Region of Russia. This story happened in Nalchik in 1998», steht da zu Beginn des Films, eingeblendet über Bilder einer Autofahrt durch die nächtliche Stadt; man sieht breite Straßen und sozialistische Monumentalarchitektur, Plattenbauten und schließlich niedrige Häuschen an schlammig-ungeteerten Wegen.

Nalchik, eine Stadt mit knapp 300 000 Einwohnern, ist die Hauptstadt der Provinz Kabardino-Balkarien, ganz im Süden Russlands; Tschetschenien, Georgien und Nord-Ossetien liegen ums Eck. Das ist, in der Psychogeografie Russlands, nicht nur tiefste Provinz und fernste Peripherie, so weit weg von den urbanen und kulturellen Zentren Moskau und St. Petersburg, wie man sich nur vorstellen kann. Es ist auch der Kaukasus, die Region zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, wo Völker, Kulturen, Sprachen und Religionen aufeinandertreffen und die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder Schauplatz kriegerischer Konflikte gewesen ist; die blutigen Tschetschenien-Kriege der 90er und Nuller Jahre hat Balagov aus nächster Nähe miterlebt. Auch in Kabardino-Balkarien gibt es politische Spannungen, außerdem eine Arbeitslosenquote von nahezu 90 Prozent; Putin will die Wirtschaft durch die Errichtung eines Skigebiets ankurbeln.

Die Geschichte, die Closeness im Anschluss an Balagovs schriftliche Selbstauskunft erzählt (und die er selbst, so Balagov, von seinem Vater erzählt bekommen habe), handelt von einer jüdischen Familie, deren Sohn gegen Lösegeld entführt wird, und ist zugleich die Liebes- und Emanzipationsgeschichte der Tochter. Jede Szene des Films atmet Ort und Zeit seiner Entstehung, ist historisch-geografisch spezifisch und konkret, fast naturalistisch, dabei aber auch auf atemberaubende Weise stilisiert: mit vielen eng kadrierten Einstellungen und Großaufnahmen, mit einer expressiven Licht- und Farbgestaltung, die billiges Pink neben metallisches Blau setzt, mit einem präzise eingesetzten Soundtrack aus sentimentalen russischen Schlagern und kaukasischem Dance-Pop; ein-, zweimal erklingt auch etwas wie ein Shofar. «Balagov schafft scheinbar aus dem Nichts pulsierend-expressive Bilder, die sich einbrennen», schrieb Hannah Pilarczyk 2017 aus Cannes.

Dort war Closeness allerdings auch umstritten. Ziemlich genau in der Mitte seines Films hatte Balagov authentisches Filmmaterial eingebunden, ein Terror-Video, das die Enthauptung eines jungen russischen Soldaten durch tschetschenische Separatisten zeigt. Die Aufnahmen sind verrauscht, werden aber in beträchtlicher Länge ausgespielt und sind zutiefst verstörend. Sie sind lose in den narrativen Zusammenhang eingebunden, zeugen aber von einem nur schwach ausgeprägten Bewusstsein dafür, dass diese Bilder Waffen sind und ihre Reproduktion im Rahmen eines Spielfilms problematisch ist. Für Michael Sicinski hat Balagov sich und seinen Film damit komplett disqualifiziert: «Balagov topples into New Extremity showboating, effectively tanking his film», schreibt er, und weiter: «Balagov’s astonishing ethical lapse virtually invalidates Closeness’ consideration as a work of art.» Die Camera d’Or hat Closeness in Cannes nicht bekommen.

Ob als Folge dieses Skandals oder nicht – Tatsache ist, dass Beanpole in vielem wie ein Gegenstück zu Balagovs Debüt wirkt, eine ganz andere Geschichte von Krieg und Gewalt erzählt. Von Balagovs eigener Lebenswirklichkeit verlagert Beanpole sich auf die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, von der kaukasischen Peripherie nach Leningrad, ins Herz der russischen Erinnerungskultur, zum Großen Vaterländischen Krieg. Gleichzeitig gibt sich Beanpole als eine Ort und Zeit transzendierende Parabel; wo Closeness mittendrin, historisch konkret und spezifisch war, wechselt Beanpole in den Modus universalisierender Allegorie. Dadurch dass die Ausstattung auf alle Insignien der Kommunistischen Partei oder der Roten Armee verzichtet, bleibt die historische Verortung absichtsvoll schwach; es könnte jeder post-katastrophische Schauplatz sein, der hier gezeigt wird. Wichtig sei ihm gewesen, sagt Balagov, dem Heroismus und Hurra-Patriotismus vieler russischer Darstellungen des Zweiten Weltkrieges etwas entgegenzusetzen, seine Generation ins Bild zu setzen über die Grausamkeit des Krieges – es ist nicht ganz leicht, dem Film eine solche geschichtspolitische Agenda abzunehmen.

Beanpole (Kantemir Balagov) RU 2019 | Kinostart am 22. Oktober 2020