theorie

Gekochte Daten sammeln Franz Boas und die Ash Can Cats: Über Charles Kings Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand

Von Friedrich Balke

Franz Boas stellt einen zeremoniellen Tanz der Kwakiutl nach, um Bildhauern der Smithsonian Institution beim Bau eines Dioramas zu helfen

© Smithsonian Institution Archives

 

Kann es eine Schule der Rebellen geben? Die Schule ist ja bekanntermaßen der erste Ort, an dem neben der Übertragung von allerlei Wissen vor allem auch Disziplin eingefordert und eingeübt wird. Man soll z.B. über längere Zeit an seinem Tisch sitzen bleiben und darf nicht einfach den Raum verlassen oder im Klassenzimmer herumspazieren, wie es einem gefällt. Die Schule gehört eben auch in die Geschichte von Überwachen und Strafen. Wenn der deutsche Verlag für das Buch von Charles King über den sogenannten Boas-Kreis, dem wir die Entstehung und Etablierung der Kulturanthropologie verdanken, daher den Titel Schule der Rebellen gewählt hat, erscheint das auf den ersten Blick wie ein Fehlgriff. Das amerikanische Original heißt denn auch deutlich pathetischer: «Gods of the Upper Air» – und verspricht im Untertitel die Antwort auf die Frage «How a Circle of Renegade Anthropologists Reinvented Race, Sex and Gender in the Twentieth Century». Der Hanser-Verlag macht aus «renegade» (also abtrünnig) «verwegen» und kürzt den Titel damit um das häretische Potential dieses Zirkels, dessen Leistung man nur begreifen kann, wenn man sich klar macht, gegen welche mächtige Orthodoxie hier zur Felde gezogen wurde: Es ist, kurz gesagt, die Orthodoxie des akademisch lancierten und politisch institutionalisierten Rassismus der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert. Präziser ist der amerikanische Untertitel daher auch, weil er dem Kreis um Franz Boas die Neu-Erfindung von Race, Sex und Gender zuschreibt, während der deutsche Verlag so tut, als hätten die verwegenen Anthropologen dieses Wissensfeld überhaupt erst hervorgebracht. Erfindungen ereignen sich ja stets auf einem Feld, das bereits besetzt ist, so dass von denen, die es besetzen, äußerster und lang anhaltender Widerstand zu erwarten ist, wenn sie spüren, dass sie das Feld räumen sollen.

Schule der Rebellen trifft es daher eigentlich ganz gut: Denn Boas, oder wie ihn seine Schüler*innen liebevoll nannten, «Papa Franz» war durchaus ein Lehrer, der denen, die sich auf ihn einließen, vor allem eins abverlangte: den Bruch mit ihren Gewohnheiten. Und das hieß zunächst einmal: Bruch mit ihren Herkunftsmilieus. Boas, der aus dem ostwestfälischen Minden stammte, hatte es im Übrigen selbst vorgemacht. Früh steht für ihn fest, dass er sein Glück in den USA versuchen will, aber er braucht dazu eine Menge Anläufe und Fehlversuche, bevor es ihm nach zahlreichen Enttäuschungen und Zurückweisungen gelingt, sich in den USA als Anthropologe festzusetzen. Erst 1897, mit über vierzig Jahren, erhält er die Professur für Anthropologie an der Columbia University, wenig später wird er sogar in die Akademie der Wissenschaften gewählt und in den folgenden Jahren steigert sich sein Ruhm in ungeahnte Höhen, was vermutlich der Grund gewesen ist, warum King sich zu dem Titel «Gods of the Upper Air» verstiegen hat. Boas’ Geschichte ist schon öfter geschrieben worden: sein Image als eines ‹verrückten Wissenschaftlers›, voller Energie, aber auch jähzornig, dickköpfig und für keinen Kompromiss zu haben, ein Wissenschaftler mit einer Mission, die in nichts weniger bestand, als die Anthropologie aus ihrer Verbindung mit einem wissenschaftlich auftretenden Rassismus herauszulösen, der die Überlegenheit bestimmter Kulturen über andere zu behaupten und nachzuweisen versuchte.

An Kings Buch gefällt vor allem, wie er in den ersten Kapiteln die Figur Boas ins Zentrum stellt, um sie dann im weiteren Verlauf immer mehr in den Hintergrund treten zu lassen. Boas ist nach wie vor da, spielt eine wichtige Rolle, aber er überlässt die Bühne seinen vielen Schüler*innen, die den Impuls der wissenschaftlichen Rebellion aufnehmen, weitertragen und verstärken. Es ist wichtig sich klarzumachen, dass der Kreis um Boas nicht wie ein K-Gruppen-Zirkel funktionierte, in dem ein «Papa» seine Kinder mit den Prinzipien der wahren Lehre vertraut macht und darüber wacht, dass kein Jota an ihr geändert wird. Boas war ein anderer Typ ‹Papa› – und das hatte im Kern damit zu tun, dass er einen sehr grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber Lehren, Theorien und Disziplinen hegte, also all jenen Elementen, die eine wissenschaftliche Schulzugehörigkeit definieren. Er konnte die Anthropologie ‹wieder›erfinden, weil er jeden Versuch einer normativen Bestimmung des Menschen und dessen, was für ihn typisch oder exklusiv zu sein hatte, zurückwies. Obwohl sein Denken theoretisch enorm folgenreich war, lag ihm an Theorie im Grunde nicht viel. Vielmehr fand er Vergnügen daran, Theorien dabei zu beobachten, wie sie scheitern, weil sie ihrer sozialen und politischen Stützen und damit ihrer kulturellen Reproduktionskraft beraubt werden. Man muss die Theorie auf ihrem eigenen Gebiet schlagen – und Boas war ‹verrückt› genug, dieses Wagnis als deutscher Migrant in den USA ausgerechnet auf einem Gebiet zu unternehmen, in dem die Theoriebildung mit der kulturellen Identitätsstiftung und dem policymaking aufs engste verbunden war.

Gegen die Theoriebildung setzt Boas daher von Anfang an auf die Feldforschung – Feldforschung, die zu seiner Zeit noch keineswegs eine selbstverständliche Praxis anthropologischer Datenakquise über ‹fremde› Kulturen ist. Über Boas’ eigene Feldforschung bei den Inuit und den Ureinwohnern der amerikanischen Nordwestküste ist viel geschrieben worden. Kings Buch gelingt es, einen entscheidenden Aspekt seiner dort gesammelten Erfahrungen freizulegen, der heute im Kontext ganz anderer Datenpraktiken erneut eine zentrale Rolle spielt. Sammeln bezieht sich für Anthropologen ja auf so unterschiedliche Dinge wie das Zusammentragen von Alltags-und Kultobjekten, die Archivierung von Zeremonien, die Anfertigung von Wortlisten, das Aufschreiben von Geschichten. Was aktuell im Kontext der Beschäftigung mit Big Data als eine große Einsicht gefeiert wird, nämlich dass es keine ‹Rohdaten› gibt, ist eine Erfahrung, die Boas bereits auf seinen ersten Expeditionen macht, wenn er sich darüber beklagt, dass Informanten immer gut darin seien, «Fremde hereinzulegen». Die Interpretationsspielräume, die Zeichen, Rituale und Objekte bereits bei den natives, die es doch eigentlich wissen müssten, eröffnen, nähren Boas’ Skepsis gegen vorschnelle Verallgemeinerungen: eine Skepsis, die nicht als Eingeständnis einer grundsätzlichen Unvollkommenheit menschlicher Erkenntniswerkzeuge zu werten ist, sondern als die Voraussetzung für komplexere und dichtere (Neu-)Beschreibungen der Befunde. Boas, der durchaus ein großer Sammler, unter anderem von Masken war, wird seine Zeit im Feld nutzen, diese Skepsis in eine umfassende Kritik an den Ausstellungspraktiken der anthropologischen Bildungseinrichtungen und Museen zu überführen, die die ausgestellten Gegenstände einer Inventarisierungslogik unterwerfen und sie damit von ihren heterogenen Verwendungszusammenhängen trennen. Boas’ vielkritisierte induktive Methode trug dem Rechnung, was King das «Gefühl der Orientierungslosigkeit in einem Datenzyklon» nennt. Ob ein Bogen eine Waffe, ein Kinderspielzeug oder ein Instrument zum Feuermachen war, ließ sich ihm nicht ansehen, sondern setzte die Beobachtung seines Gebrauchszusammenhangs und die Befragung all derer voraus, die ihn für ihre jeweiligen Zwecke nutzten.

Die Datenfrage steht auch im Zentrum von Boas’ Beitrag zur Weltausstellung in Chicago, die 1893 stattfand. Anthropologie war zu Boas’ Zeiten und noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Anthropometrie – sie galt als eine strikte, weil mit Zählen, Messen und Wiegen verbundene Wissenschaftspraxis, die auch Boas in seinen Kursen an der Columbia University ganz selbstverständlich lehrte. Im von ihm kuratierten «Anthropologie»-Pavillon der Weltausstellung hatte er ein Labor aufgebaut, dass den Besuchern Echtzeit-Forschung vorführte – nämlich an ihren eigenen Körpern. Es ist interessant zu sehen, wie Boas ausgerechnet die Anthropometrie verwendet, um sie gegen ihre rassistische Indienstnahme zu wenden. Der US-amerikanische Staatsrassismus, der sich in umfangreichen Gesetzgebungsmaßnahmen der Bundesstaaten zur Geltung brachte, war durch das Phantasma der ‹rassischen Schwächung› in Folge von Masseneinwanderung motiviert. Boas, selbst Migrant, fühlte sich hier zweifellos besonders herausgefordert. Sein Gegenspieler, Madison Grant, der die Bewahrung der ‹eigenen Rasse› vor dem Angriff durch ‹minderwertige› Einwanderer publizistisch so wirkungsmächtig vertrat, dass sogar Hitler nachweislich bei ihm in die Schule ging, operierte mit spekulativen Annahmen über die ‹Verschlechterung› von Typen in Folge von Vermischung, denen allerdings jede Datenbasis fehlte. Grant, der ein Bewunderer von Zoos und Reservaten als Milieus der Bewahrung ‹reiner Arten› war, träumte von der Übertragung dieser Techniken auf die Regierung von Bevölkerungen, um den Untergang der großen Rasse, so der Titel seines in zahlreichen Auflagen und deutscher Übersetzung (1925) erschienenen Hauptwerks, in letzter Minute noch abzuwenden. Wie sich «eindringende Arten», darunter verstand er «eingewanderte Juden» genauso wie «störende Italiener» und «lästige Slowaken», auf die von ihm so genannte «große Rasse» auswirkten, könne man auf den Plätzen und in den Schluchten von Lower Manhatten bestens studieren.

Boas nahm diese und andere Invektiven nicht zum Anlass, Ideologiekritik zu betreiben, was uns heute viel näher liegen würde. Er widerlegte die Thesen Grants anthropometrisch – also auf dem Feld, auf das sich dieser bloß rhetorisch bezog, wenn er seinen Behauptungen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben versuchte. Als der US-Kongress 1911 eine Kommission zur Untersuchung der Auswirkungen der Einwanderung auf die Vereinigten Staaten einsetzte, wird Boas gefragt, ob er einen «Bericht» abfassen könne. Er erklärt sich sofort bereit und schlägt vor, die Thesen seiner Gegner dadurch empirisch zu überprüfen, dass er Einwanderer vermisst und ihre Lebensgewohnheiten über Fragebögen umfassend auswertet. Er lässt seine Doktoranden und eigens angestellte Assistenten in die ganze Stadt ausschwärmen und Daten sammeln, deren Ergebnis nur einen Schluss zulassen: Die Anpassungsfähigkeit der neu Zugewanderten an den ‹amerikanischen Typus› ist so groß, dass distinkte Eigenschaften, die im Zusammenhang mit der Herkunftskultur stehen, bei den Eingewanderten nur mehr eine zu vernachlässigende Rolle spielen. ‹Rassen›, so Boas, sind fundamental instabil, und wenn sie im gegenwärtigen Augenblick keine messbare Realität darstellen, «konnten sie auch in der Vergangenheit nicht existiert haben.»

Weil es so lange dauerte, bis sich Boas in seiner Wahlheimat durchgesetzt hatte, weil er sich durch noch so viele Rückschläge, die King alle minutiös bilanziert, nicht davon abschrecken ließ, auch bei seinen Gegnern, die mächtige institutionelle Positionen innehatten, erneut vorzusprechen und sie für seine Vorhaben zu gewinnen, weil er nicht zuletzt die Zuneigung und Unterstützung von Mäzenatinnen gewann, wurden diejenigen auf ihn aufmerksam, die wie er selbst aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts ebenfalls auf der Suche nach einer Rolle und Position in einem ihnen verschlossenen Milieu waren. Dass der Kreis um Boas «Gender» und «Sex» neu erfand, hieß vor allem erst einmal: dass es Frauen waren, die, wie King notiert, zur «passioniertesten Hörerschaft» unter Boas’ Columbia-Studenten gehörten. Und sie waren es auch, die die akademischen Lebensformen ebenso wie die akademischen Agenden gehörig durcheinanderwirbelten. Auftritt Ruth Benedict, Auftritt Margaret Mead, Auftritt Zora Neale Hurston, die in den letzten Jahren geradezu zu einer Kultfigur avanciert ist und die für lange Zeit die einzige schwarze Studentin am Barnard College blieb, das durch Boas’ hartnäckige Bemühungen für Frauen und Männer gleichermaßen geöffnet wurde. «Meine besten Studenten sind ausnahmslos Frauen», hatte Boas schon früh zu Protokoll gegeben, obwohl doch auch Männer wie Edward Sapir und Alfred Kroeber zu seinen prominenten Schülern gehörten. Frauen erwiesen sich, das macht Kings Buch völlig klar, als die deutlich talentierteren Rebellen im Boas-Kreis. Boas wiederum haderte mit den erkenntnisbehindernden Effekten dessen, was man in der Wissenschaft nicht zufällig eine Disziplin nennt. So verzichtete er in der Lehre konsequent auf Lehrbücher, denn diese schreiben ja einen bestimmten Stand der Wissenschaft fest, was Boas nicht behagte. Er ermunterte dagegen seine Studenten, Notizen über Vorträge anzufertigen und sich untereinander intensiv über ihre Lektüren auszutauschen. Vor allem aber sollten sie sich schon früh die Hände mit empirischen Details dreckig machen, also in die Feldforschung einsteigen. Und das hieß auch: die eigenen Lebensformen, zumal wenn sie mit etablierten Konventionen kollidierten, als Teil des erweiterten Feldes zu betrachten.

Die Ash Can Cats, wie die Frauen des Boas-Kreises schon früh liebevoll genannt wurden, führten ein unstetes Privatleben, das sie ihren vorgesehenen Lebensläufen entfremdete und sie eben deshalb bestens auf ein Studium vorbereitete, das der Untersuchung von Vermischungen und Diffusionen gewidmet war. Sie kamen aus der Provinz und lebten nun in Wohngemeinschaften, sprachen dem Alkohol (Gin) zu und hatten häufig wechselnde Liebesbeziehungen mit Männern wie Frauen, die sie selbst «Karambolagen» nannten. Sie machten in gewisser Weise die Probe auf den methodischen Diffusionismus, den Boas vertrat, indem sie vorführten, dass selbst in einem homogenen, männerdominierten akademischen Milieu wie dem der Columbia University Praktiken und Lebensformen entstehen konnten, die den Normalerwartungen und typischen Karrierepfaden zuwiderliefen. Diversität war in diesem Zusammenhang kein explizites Programm und schon gar kein Staatsziel, sondern einfach eine alltägliche Erfahrung, die Boas’ Doktorandinnen optimal auf ihre anstehenden Feldforschungen vorbereitete, die sie auf Inseln im Südpazifik ebenso wie zu den Völkern des amerikanischen Südwestens oder in schwarze Siedlungen Floridas führen würden. Benedict studierte bei den Zuñi, wie leicht der Geschlechterwechsel vonstatten gehen konnte, wenn man der Genderdifferenz nicht diese maßlose Bedeutung zuwies, wie es die ihr bekannte Kultur tat: Männer übernahmen wie selbstverständlich ‹Frauenarbeit› und nominelle Frauen konnten einen Penis haben, ohne dass das ihre Männer störte. Mead wiederum besuchte Samoa und fand heraus, dass ein Jugendlicher zu sein nicht in allen Kulturen ein solches Drama wie in unseren war, so wie für die Sexualpraktiken der Samoaner die Rigidität der Paarbildung, die Mead als ‹Socken-Modell› ironisierte, bedeutungslos schien. Wichtiger aber als diese Resultate ihrer Feldforschung, die zu Büchern führten, die sich großer Popularität erfreuten und viel akademische Kritik auf sich zogen, weil sie das polygame Sehnsuchtsbild einer freien Liebe zu errichten schienen, ist eine methodische Konsequenz: Feldforschung unterscheidet sich von dem, was früher Expeditionen zu ‹primitiven Völkern› waren, dadurch, dass die Forschenden sich entscheiden, mit den Völkern, die sie besuchen, zu leben – über einen langen Zeitraum hinweg ihren Alltag zu teilen und das gerade auch in seinen unspektakulären und unzeremoniellen Phasen. Sich auf dieses Experiment einzulassen, hat auch Konsequenzen für den Status der Theoriebildung über ‹andere Kulturen›. Vieles, was die Ethnologie über Regeln und Rituale der fremden Kulturen, die sie untersucht, herausgefunden und fixiert hatte, erweist sich tatsächlich vor Ort als optional. So fand Mead heraus, dass die Samoaner über die Regeln, die ihr Leben angeblich beherrschen sollen, denkbar schlecht informiert und eher desinteressiert sind. In vielen Bereichen ihres Alltags sind eine gewisse Laissez-faire-Haltung und die Kunst der Improvisation verbreiteter als in den heimischen Lebenswelten der Feldforscherinnen.

Das Problem der Datenakquise verschärft und kompliziert sich noch einmal im Fall von Zora Neale Hurston. Als schwarze Autorin mit literarischen Ambitionen wird sie erst mit 35 Promotionsstudentin bei Boas, der sie als ‹seine Tochter› bezeichnet. Diese Bewunderung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie, anders als Benedict und Mead, Boas vor ernste konzeptuelle Herausforderungen stellte, die mit seiner Perspektive auf die Reichweite von Feldforschung zusammenhingen. Als Hurston mit Boas’ Zustimmung nach Florida geht, um die Kultur der schwarzen Bevölkerungsgruppen zu erschließen, wird schnell klar, dass Boas den Erfolg des Unternehmens daran misst, ob es seiner Doktorandin gelingt, einen ‹archaischen› Bestand an Volkserzählungen, Sprichwörtern und weiteren symbolischen Formen zu bergen, der noch in einem nachweisbaren Zusammenhang mit der afrikanischen Herkunft der verschleppten Sklaven steht. Obwohl Boas die landläufige Stigmatisierung der schwarzen Bevölkerung (Zügellosigkeit, Mangel an Initiative etc.) als ‹rassische› Wesenszüge entschieden ablehnte, teilte er doch die Auffassung, dass derartige Eigenschaften die schwarze Kultur seit der Versklavung bestimmten. Wenn er Hurston daher ständig ermahnt, eine wirkliche Ethnografie der schwarzen Bevölkerung des nördlichen Floridas zu verfassen, dann wischt er damit die Geschichte dieser Bevölkerung in den USA aus, weil er das Schwarzsein auf die Einschreibung einer Herkunft in die Gegenwart reduziert. Hurston konnte aufgrund ihres Wissens um die Dynamik literarischer Formen Boas’ Erwartung nicht erfüllen. Sie transformiert den Modus der Datenakquise daher fundamental, denn sie verschweigt sich nicht als Co-Produzentin dieser Daten. Literarischer Ausdruck dieses Verfahrens ist die Verwerfung des ethnografischen Präsens, die das beobachtete Ereignis in eine überzeitliche Struktur überführt, sowie die Verwendung der ersten Person und damit die Einbeziehung der sozialen und kommunikativen Situation, in der die Daten ‹erhoben› und das heißt: in Hurstons Text überführt werden. Eine weitere Boas-Schülerin, Ella Deloria, deren Vater die Dakota-Häuptlingswürde innehatte, verschärfte diesen explizit gemachten Aktualismus einer brauchbaren Feldforschung noch: Wollte man richtig über ‹Indianer› schreiben, musste man aufhören, sie in der Vergangenheit zu suchen und die vermeintlich ‹letzten Überreste› ihrer Kultur zusammenzutragen, bevor sie zu Staub zerfielen. Gegen diese musealisierende Betrachtung von Kulturen hatte Boas im Grunde immer opponiert, denn sie maßt sich ein Urteil über das ‹Wesen› einer Kultur an, das nur durch eine rigorose Beschränkung der relevanten Datensätze möglich ist. Feldforschung, fasst King das Resultat seiner Geschichte des Boas-Kreises zusammen, lässt regelmäßig soziale Welten kollabieren – und es ist nicht nur amüsant, wie er an den zahlreichen Beziehungsgeschichten der Boas-Schüler*innen und ihren nicht selten gewalttätigen Exzessen vorführt, dass dieser Weltenkollaps auch die Lebenswelten der Anthropolog*innen erschüttert: «Der Preis dieser Methode bestand in einer Art vorsätzlicher Verrücktheit.» 

 

Charles King: Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand (Hanser 2020)