Dezidiert kleinformatig Über das B-Kino des Robert Hossein

Les salauds vont en enfer (1955)
© Champs-Élysées Productions
Schon die allererste Einstellung des Hossein-Kinos hat es in sich: Die erste Aufblende in Les salauds vont en enfer (1955) offenbart uns ein Gangsystem im Innenhof eines Gefängnisses, hauptsächlich bestehend aus vier engen, vergitterten Pfaden, die sich in der Mitte des Hofs und der Leinwand in einer Plattform vereinen. Aus allen vier Himmelsrichtungen kommen die Insassen anmarschiert, die Schritte hallen, zunehmend lauter werdend, durch die Gänge. Bereits bevor wir erfahren, dass die Häftlinge sich im Zentrum der Strafanstalt versammeln, um eines Toten zu gedenken, etabliert die Rhythmik in Bild und Ton die Form des Rituals. Später freilich benutzen zwei der Insassen, Macquard (Henri Vidal) und Rudel (Serge Reggiani), dasselbe Ritual, um sich der strafrechtlichen Eintaktung komplett zu entziehen: Während die Mehrzahl der Häftlinge und Wärter ein weiteres Mal beim Gottesdienst versammelt sind, gelingt ihnen der Gefängnisausbruch – in einer bravourös inszenierten Sequenz, die auf der Tonspur durchweg von den gedämpften Klängen der Trauerfeier unterlegt ist.
Einige Grundparameter der Filme Robert Hosseins sind damit schon etabliert: Sein Kino ist eines der engen Räume und der Reduktion, seinen Reiz gewinnt es aus der Wiederholung und der Variation einer begrenzten Anzahl bedeutungstragender Elemente. Die Filme sind primär nicht von Figuren, sondern von ihrer Struktur (und von der Musik) her gedacht. Allerdings folgt daraus nicht, dass die Figuren in diese Struktur hineingesetzt würden wie Gefangene in eine Zelle. Vielmehr gibt es eine grundsätzliche Passung von Figur und Umgebung und außerdem einen Prozess der wechselseitigen Adaption. Die Figuren akzeptieren die Situation, in der sie sich platziert sehen, grundsätzlich durchaus, aber sie testen auch ihre Freiräume in einem Spiel, dessen Regeln sich ihrerseits oftmals situativ verändern.
Das Gefängnis mit seinen starren, vorfestgelegten Zwängen ist insofern gerade kein privilegierter Raum des Hossein-Kinos. Auch in der im Knast spielenden ersten Hälfte von Lessalaudsvont enenfer sind die schönsten Szenen die, die sich in der relativen Freiheit des Gefängnishofes entfalten, wo die Häftlinge (einen davon spielt Hossein selbst; in seinen meisten späteren Filmen begnügt er sich nicht mit Nebenrollen) untereinander eine neue, eigene Ordnung etablieren, ein Sozialsystem, das gleichermaßen von Gewalt und Tanz geprägt ist. Aber richtig großartig und zum Blueprint fast aller folgenden Hossein-Filme wird das Debüt erst nach dem Ausbruch. Die zweite Hälfte spielt fast komplett in einer und um eine einsame Strandhütte, in die die beiden Sträflinge flüchten.
In isolierten Hütten spielen neben Lessalaudsvont enenfer auch La nuit des espions (1959) und Point de chute (1970). Die zentralen Schauplätze in Toi… le venin (1958), Les scélérats (1960), Le jeu de la vérité (1961), Les yeux cernés (1964) und wohl auch in dem leider derzeit nicht greifbaren letzten Film Le caviar rouge (1985) sind zwar Privathäuser, beziehungsweise Hotels, aber auch diesen haftet stets der Eindruck eines Provisoriums an. Niemand ist je ganz zuhause in Hosseins Kino, schon gar nicht in jenen Filmen, die hauptsächlich unter freiem Himmel, ob nun in der Stadt (La mort d’un tueur, 1964, Le vampire de Düsseldorf, 1965) oder in der Natur (Le goût de la violence, 1961, Une corde un Colt …, 1969) spielen.
Aber zurück zur Hütte. In Les salauds vont en enfer wird sie von Eva (Marina Vlady) bewohnt, die nicht zufällig so heißt; allerdings ist sie sozusagen gleichzeitig Eva und der Apfel, sie hat selbst schon längst vom Baum der Erkenntnis gekostet und wird nun ihrerseits zur verbotenen Frucht. Dass Macquard und Rudel ihr beide verfallen sind, macht der Film unmissverständlich deutlich mithilfe zweier Schwenks, die Vladys Körper abscannen, von oben nach unten und zurück. So sehr die Filme in der Form zur Abstraktion streben, so sehr bleiben sie in der Substanz den Realitäten des Sinnlichen verpflichtet: Um Sex geht es sowieso fast immer, außerdem wird auffällig oft gegessen. Besonders die Frauen haben dauernd Hunger in Hosseins Filmen.
Mit dem Schwenk ist die Sache nur auf den ersten Blick entschieden. Dass die Ausbrecher kein harmonisches Ende nehmen werden, ist zwar spätestens dann klar, wenn in den Dünen nahe der Hütte ein Schild mit der Aufschrift «Achtung, Treibsand!» in den Blick gerückt wird. Der Film scheint sich jedoch, und das rührt glaube ich am Kern des Hossein-Kinos, selbst lange gar nicht allzu sehr um die Frage zu kümmern, wie er enden, wer die Frau bekommen, beziehungsweise im Treibsand versinken wird. Deutlich mehr als für die melodramatische Zuspitzung interessiert sich Hossein für die Phase des Abtastens, der wechselseitigen Anziehung und Abstoßung, die ihr vorangeht. Für das eigenartige libidinöse und dramaturgische Equilibrium, das sich in der Hütte etabliert, sobald die ersten Blicke gewechselt und die ersten Annäherungsversuche abgewehrt sind.
Und für das, was eben diese Situation mit den Figuren anstellt. Zwar haben die beiden Männer offensichtlich nur eine Form von Gefangenschaft gegen eine andere getauscht. Freiheit im Sinne eines grundsätzlich anderen Lebens ist in Hosseins Filmen nicht zu haben. Aber in der Hütte realisiert sich eine andere, innere Freiheit: Wo die beiden vorher durch externen Druck – das Gefängnisregime, der Thrill der Flucht – strikt aufeinander bezogen waren und selbst im Streit kaum über getrennte Subjektivitäten verfügten, so stellt sie die Begegnung mit Eva vor eine Wahl, durch die sie zu Individuen werden: Akzeptiere ich die Frau als eine mir Gleiche, oder nehme mir gewaltsam, was ich möchte? Wo ist mein Platz in der Struktur des Begehrens, die der Film vor mir ausbreitet?
Solche Momente der Selbstbefragung tauchen immer wieder auf im Werk. In einigen anderen Filmen resultieren sie in ausgiebigen Stillstellungen, verschleppten Blickwechseln, komplett durchritualisierten Bewegungsmustern. Les salauds vont en enfer geht diesen Schritt in Richtung Entlebendigung noch nicht. Das liegt auch daran, dass ein zentrales Element des Hossein-Kinos fehlt: die Musik. Zwar liefert Roberts Vater und Stammkomponist André Hossein schon fürs Regiedebüt seines Sohnes einen schönen Score, aber die erste Arbeit des arrivierten Berufsmusikers fürs Kino gerät noch recht klassisch symphonisch, das Hauptthema ist ein aufpeitschender Streicherwirbelwind. Die Scores der späteren Hossein-Filme bestehen zumeist nur aus ein, zwei, höchstens drei hypnotischen, schon in sich selbst repetitiven Themen, die nicht auf dramaturgische Akzentuierung zielen, sondern in ihrer exzessiven Wiederholung eine retardierende Funktion haben. Das Wiedereinsetzen der Musik ist stets ein Moment des Innehaltens: Ein weiteres Mal wird Bilanz gezogen, das Gleichgewicht nachjustiert, der Moment der Entscheidung herausgezögert.
Diese grenzlethargische, gleichzeitig introspektive und antipsychologische Coolness und auch die in gleich mehreren Filmen durchscheinende existenzialistische Schlagseite haben etwas von Melville, dessen Hang zur abgerundeten, organischen Form Hossein freilich fremd ist. Selbst noch in ihrer Langsamkeit sind seine Filme nicht elegisch, sondern quirky – wenn sie doch einmal Fahrt aufnehmen, schrecken sie auch nicht vor den modischen Gadgets des Sechzigerjahre-Popkinos zurück, etwa wenn die Figuren während Verfolgungsjagden immer wieder direkt in die Kamera laufen. Vor allem bleiben die Filme stets dezidiert kleinformatig und in ihren Themen und Texturen bewusst der Tradition der B-Movies Hollywoods verpflichtet: Hossein dreht Thriller, Gangsterfilme und Western, zumindest bis Mitte der 1960er hat seine gesamte Filmografie eine deutliche Noir-Grundierung, was auch auf seine Freundschaft und mehrmalige Zusammenarbeit mit Frédéric Dard zurückzuführen sein mag.
Die produktivste Phase um 1960 herum fällt direkt mit dem Hype um die Nouvelle Vague in eins. Man kann fast von einem Parallelprojekt sprechen: Nicht nur dreht Hossein ebenfalls Filme, die im populären Idiom die Formsprache des Kinos erneuern wollen, er beruft sich dabei sogar offensichtlich auf dieselben, hauptsächlich amerikanischen Vorbilder. Schwer nachzuvollziehen ist, warum die Cahiers du cinéma-Leute, soweit sie Hossein überhaupt wahrgenommen haben, nichts mit ihm zu tun haben wollten. Godard und Truffaut fetischisierten zwar die Monogram- und Republic-Produktionen, aber der Poverty-Row-Maverick im eigenen Land taugte ihnen offensichtlich nicht als Verbündeter.
Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Hossein den niedrigen Budgets seiner Filme zum Trotz innerhalb der Industrie kein Außenseiter war. Schon bevor er selbst inszeniert, hatte er als Schauspieler Erfolg, in den 60ern ist er, parallel zu seinen Regiearbeiten, ein veritabler Star, er spielt nicht nur in den eigenen Filmen, sondern übernimmt auch Hauptrollen bei Vadim, Autant-Lara, Astruc, oft in Abenteuerfilmen als agil-stoischer, düster brütender bad guy oder auch als Frauenschwarm. Dreimal ist er in den überaus erfolgreichen Angélique-Filmen an der Seite von Michèle Mercier zu sehen. So einer fügt sich vermutlich nicht so recht ins Selbstbild romantischer Kinorevolutionäre. (Darüber, ob Hossein, der gutaussehende, polyglotte Jude mit russischen und persischen Wurzeln, den jungen, sehr französischen Wilden auch aus weniger harmlosen Gründen suspekt gewesen sein könnte, mögen Andere spekulieren.)

La nuit des espions (1959)
© Collection de Gaumont
So oder so ist es ein Armutszeugnis für die Nouvelle Vague, dass sie in ihren eigenen Kanon nicht zumindest La nuit des espions eingemeindet hat, ebenfalls eine Dard-Verfilmung und Hosseins minimalistischster, wagemutigster Film. Ein Mann (Hossein) und eine Frau (Vlady) verbringen während des Zweiten Weltkriegs eine Nacht in einer Hütte irgendwo in der Normandie.
Er ist entweder ein deutscher Offizier oder ein britischer Agent, sie ist entweder eine Naziinformantin oder ebenfalls eine britische Agentin. Zweck des Treffens ist eine Geheimnisübergabe, aber natürlich kommt es auch zu einer erotischen Annäherung. Erst nach dem Sex schleicht sich der Verdacht wieder ein.
Der Film hat die Form eines Spiels (ein auf wenige bedeutungstragende Elemente reduziertes Spielfeld, ein klar formuliertes Ziel, mehrere «Runden», zwischen denen die Karten neu gemischt werden), aber die beiden Hauptfiguren sind nicht die Spieler, sondern die Spielfiguren. Gespielt werden sie von einer Verschweißung von Liebe und Krieg, deren Paradoxien nicht bloß die des Melodramas sind («Du bist mein Feind, aber ich liebe Dich»), sondern auf gesteigerter, nicht mehr in kommunikative Sicherheiten übersetzbarer doppelter Kontingenz gründen («Du bist vielleicht gar nicht mein Feind, aber möglicherweise liebst Du mich auch nicht»).
Etwas anders gefasst: La nuit des espions ist kein Film über zwei Agenten, die sich gegenseitig liebend austricksen, sondern ein Film über zwei Menschen, die aneinander zweifeln. Auch dieser Zweifel ist, siehe oben, kein Mittel zum Zweck, er ist kein Werkzeug für Spannungserzeugung, und auch nicht bloß (oder zumindest nicht ungebrochen) ein Medium des Melodramatischen, sondern ein Zustand, ein Experiment, auf das sich zwei Menschen eine Nacht lang letztlich nicht deshalb einlassen, weil sie etwas Konkretes erreichen wollen, sondern weil sie im Zuge des Experiments etwas über sich selbst herauszufinden hoffen.

Le vampire de Düsseldorf (1965)
© Rome-Paris Films
Immer wieder laufen Hosseins Filme auf derartige Situationen zu. In Toi … le venin wird Hossein selbst, in einer Umkehrung der Konstellation von Les salauds vont en enfer, zum Spielball der Macht- und Konkurrenzkämpfe zweier Schwestern; nur, dass man bald den Eindruck gewinnt, dass eigentlich alle drei sich in dem auf erotischer Unsicherheit gründenden Spannungsfeld ziemlich wohlfühlen. Wenn in dem sehr schönen Lesscélératseine junge Französin bei den neu zugezogenen amerikanischen Nachbarn eine Stelle als Haushälterin antritt, wird sie zunächst zum Katalysator eines Ehekrachs; der dann aber in ebenfalls durchaus inspirierenden interkulturellen Beobachtungsverhältnissen stillgestellt wird. Selbst in dem bizarren Le vampire de Düsseldorf, in dem Hossein den historischen deutschen Serienmörder Peter Kürten verkörpert, geht es vor allem um dessen von wechselseitigen Projektionen und Verkennungen dominierte Beziehung zu einer Tänzerin.
Point de chute wiederum ist eine Art Remake der zweiten Hälfte von Les salauds vont en enfer: Noch einmal eine einsame Strandhütte, noch einmal zwei Männer und eine Frau, noch einmal Machtspiele, die nicht auf den großen Knall, sondern auf ein vorsichtig austariertes Equilibrium abzielen. Dennoch ist diesmal alles anders. Das beginnt schon damit, dass das Meer zwar sichtbar, aber unerreichbar ist. Hosseins Kino hat sich inzwischen so weit abstrahiert, dass es von autonomen Figuren komplett absehen kann. Stattdessen entfaltet sich der Film ausgehend von einer Handvoll Objekte – eine Maske, ein Funkgerät, ein halb gegessenes Sandwich und so weiter – in Rückblenden und setzt dabei eine Serie von Blick- und Bewegungskaskaden in Gang, die nicht auf intentionales Handeln verweisen, sondern auf eine Struktur, die sich Stück für Stück, wie ein Puzzlespiel, zusammenfügt.
Point de chute wäre auch für Hosseins Kino insgesamt ein logischer Endpunkt gewesen und in der Tat wendet er sich danach erst einmal dem Theater zu, wo seine Inszenierungen aufwändiger spectacles jene großen Publikumserfolge feiern, die seinen Kinoarbeiten verwehrt blieben. Wenn er mehr als zehn Jahre später doch noch einmal ins alte Metier zurückkehrt, und zwar zunächst ausgerechnet für eine Neuverfilmung von Les miserables (1982), dann passt dieser antiklimaktische Schlusspunkt dennoch ganz gut zu einem Werk, das sich gängigen dramaturgischen Mustern immer schon entzogen hatte.
Der Text entstand im Anschluss an eine Hossein-Retrospektive im Filmmuseum Frankfurt, organisiert vom Filmkollektiv Frankfurt. Einige Hossein-Filme sind auf DVD erschienen, allerdings in zum Teil bereits vergriffenen Editionen. Über Internethändler sind derzeit Toi … le venin, Une corde, un colt und Les misérables erhältlich. Über französische Anbieter sind auch Les salauds vont en enfer, La nuit des espions und Point de chute verfügbar