Blick als Subjekt In seinem Eifersuchtsdrama Nuestro Tiempo bespielt Carlos Reygadas die ganze Breite der Leinwand

Der Anfang von Nuestro Tiempo ähnelt dem von Post Tenebras Lux, dem Vorgänger, auf den ersten Blick sehr. Kinder und Jugendliche in freier Landschaft, am und im Wasser, man weiß nicht wer, man weiß nicht wo, man weiß nicht wann und warum und wozu. Hier wird nicht der Beginn einer Geschichte erzählt, obwohl sich – anders als in Post Tenebras Lux – eine Geschichte herausschälen wird. Die Kinder des Beginns haben damit aber nur tangential zu tun, sie führen da nicht hin, für ihr Spiel und ihr Herumhängen und ihr pubertäres Sexhabenwollen und Eifersüchtigsein, ihr Flirten, Küssen, Liegen nimmt sich, gibt ihnen der Film alle Zeit der Welt.
Auf Kinderaugenhöhe, wenn nicht darunter, beginnt Nuestro Tiempo. Mit aller Zeit der Welt. Die Kamera, wie da hineingeraten, schwebt, sucht, überlässt sich dem Moment, dessen Teil sie ist. Sie ist nicht Subjekt, gehört zu keinem Körper, blickt niemandes Blick, macht aber ihre Anwesenheit spürbar, nicht als Anwesenheit einer Kamera, sondern als Anwesenheit, die nichts anderes sein will als: präsent. Es könnte ewig so weitergehen, und im Grund gilt das für die Filme von Carlos Reygadas grundsätzlich: Alles könnte immer so weitergehen, und wenn es dann anders weitergeht, und es geht verlässlich immer ganz anders weiter, könnte es so, also anders, auch immer weitergehen. Man weiß nie, was jetzt kommt.
Also kommt, recht spät im Film, der mit knapp drei Stunden recht lang ist (und dem Nicht-Reygadas-Fan vermutlich noch viel länger vorkommen kann, während der Reygadas-Fan, wie ich einer bin, natürlich jede Minute mitfiebert, als ginge es um nicht weniger als Leben und Tod, und schließlich geht es ja auch um Leben und Tod; und dann aber auch, vor allem, die Liebe und die Ehe und das Begehren und das Ende von Liebe und Ehe und Begehren, wenngleich auch sehr wichtig sind: Automotor und Schlagzeugmusik), also, spät im Film, das: Einer, von dem zuvor noch gar nicht die Rede war, ist plötzlich das Zentrum, einer, der viel zu jung stirbt, im Sterben liegt, Metastasen im Hirn, sein Name ist Pablo, bekifft, er ist auf dem Sterbebett umgeben von Buddha-Statue und Menschen, die ihn lieben und für ihn singen und alle wirken gelöst und in Frieden; außer Juan. Ganz organisch fügt sich das am sehr dünnen narrativen Faden, den es sehr viel mehr als in Post Tenebras Lux in Nuestro Tiempo wieder gibt.
Eines ist auch ganz anders als im Vorgängerfilm. So sehr dieser sich durch keinen Schritt, den er tat, in seinen weiteren Schritten einengen ließ (und in diesem Sinn sich narrativen Zusammenhängen, die er doch schuf, ständig entzog) – das Format war doch, nahe an der Academy Ratio, zum einen sowieso schmal, zum anderen noch durch die Filter, die das Bild auf seinen Kern fokussierten und die Ränder unscharf beließen mit einer bewusst störenden Dopplung am Übergang von Schärfe zu Unschärfe, deutlich begrenzt. Was eigentlich Reygadas’ typischer Mise-en-Scène widerspricht: Er baut ja eher nicht Bilder zu geschlossenen Räumen, es geht nicht um Bedrängung, sondern Befreiung: Die Welt jenseits des Bildes atmet in die Bilder hinein. Dazu passt die Lebendigkeit der Kameraanwesenheit. Das Sich-in-Bewegung-Setzen und damit das In-Bewegung-Versetzen des Bildes, ist jederzeit möglich.
In Nuestro Tiempo nun aber: ganze Breite der Leinwand, endlos erstreckt sich der sichtbare Raum; die Unschärfe, die es an den Rändern manchmal gibt, fühlt sich ganz anders an: als Präsenz eines Blicks, der Richtung Unendlichkeit geht – wie ja bei Reygadas, er ist darin Malick nicht unähnlich, das Universum im Kleinsten immer mitgedacht ist, auch wenn der ungläubige Reygadas sich die Schöpfung keineswegs als dem Leben der Menschen darin besonders zugeneigt vorstellt. Gerade das Ausgesetztsein, die Konfrontation mit dem Elementaren, führt bei Reygadas zu erhabenen Momenten, die nicht unbedingt großer Dinge bedürfen, die immer wiederkehrende metapyhsische Mitplanscherei im Wasser zum Beispiel tut es auch; ohnehin ist das Erhabene vom Komischen nicht immer leicht zu unterscheiden, es ist eine Komik, die nichts Lächerliches hat, sondern eher ein umgekehrtes Erhabenes darstellt, eine Auslieferung noch des Kleinsten ans Große, und sei es nicht mehr als ein großes Gefühl.

Die Breitleinwand scheint in Nuestro Tiempo freilich geradezu kontraintuitiv. Erzählt wird ein beinahe klassisches Kammerspiel. Die Ehe von Juan und seiner Frau Esther gerät in eine Krise, als sie eine Affäre mit Phil beginnt. Sie sind schon länger zusammen, haben zwei Kinder, Rut und Gaspar. Eigentlich haben sie sich Lizenzen erteilt zum Sex mit anderen hier und da. Juan scheint zunächst auch nicht durch die Affäre verstört, sondern dadurch, dass sie sie verschweigt, ihn sogar bei Nachfrage wiederholt anlügt. Daraufhin kündigt er, wenn auch zunächst eher passiv, den Duldungspakt auf. Er spioniert hinter ihr her, versteckt sich und beobachtet und filmt Phil und Esther beim Sex.
So geradeaus vorwärts, wie hier zusammenfassend beschrieben, läuft das bei Reygadas allerdings nicht. Der Konzentration auf die Dreiecksgeschichte arbeiten nicht nur die Breite der Leinwand, sondern auch das Ambiente entgegen: Esther betreibt eine Ranch, auf der sie Stiere für Stierkämpfe züchtet, weit ist das Land, hoch der Himmel, der es überwölbt. Phil ist der Mann, der die Pferde für die Cowboys und Cowgirls der Ranch zähmt und einreitet. Es gibt hier den Pol des Rohen und den, wenn man so will, des Gekochten. Das Rohe ist der wilde Stier, der aber sowas von rot sieht, auf zwei der Männer von der Ranch losstürzt, die sich auf einen Heuwagen flüchten, der Stier attackiert ein Pferd, man fürchtet das Schlimmste, einer der Männer (namens Buddha) flüchtet, die Kamera folgt ihm – und wenn wir zurückkehren zu dem kauernden Mann, ist in der Tat Schlimmes geschehen: Das Pferd ist aufgeschlitzt von vorne bis hinten, es quillt Blut und Gedärm. Am Ende stirbt, weniger blutig, lakonisch geradezu, ein weiteres Tier.
Am Pol des Gekochten: Juan. Er ist ein gefeierter Dichter, passiv bleibender Intellektueller, zu dem allerdings Phil, der Bezähmer der Pferde, keineswegs das Gegenbild ist. Beide sehr bärtig, leise eher als laut, Reiter und Zureiter der sanfteren Art. Man ist angesichts des In- und Gegeneinanders von privaten Leidenschaften und dem Animalischen der Umgebung versucht, metaphorische Übertragungen vorzunehmen, aber das geht nicht auf. Es gibt bei Reygadas eben keine einsinnigen Relationen, immer eher Metonymie als Metapher, immer eher Eigenwert als Für-anderes-Stehen. Das gilt für die Liebes- und Begehrensverhältnisse der Figuren untereinander, aber auch für den Bezug des Menschen zum Tier, zur Natur, selbst dann, wenn etwa dem strömenden Regen Affektintensitäten abgewonnen werden, die dem inneren Aufruhr der Figur zu entsprechen scheinen.
Anders gesagt: Keines der Elemente ist in Reygadas’ Filmen privilegiert – nicht der Mensch, nicht das Tier, nicht das Licht, nicht der Raum, nicht das in Szene gesetzte und nicht die Mise-en-Scène, nicht das Bild, nicht der Ton, nicht das Unbewegte und nicht die Bewegung. Alles kann jederzeit, und sei es für einen Augenblick, einen emphatischen eigenen Wert bekommen, kann akzentuiert, ja, zum Mittelpunkt der Welt werden. Das reicht bis weit in äußerste Exzentrizität. Im strömenden Regen fährt Esther, zunächst in einer weiten Totalen gefilmt, aus der Stadt zurück auf die Ranch. Dann geht es ins Wageninnere, man hört Musik von einer CD, sieht im Close-Up kurz Esther, ihr Gesicht von der Seite, dann ihre Hände am Lenkrad, dann den CD-Player, dann ihren rechten Fuß am Pedal – und dann: den Automotor. Ja, tatsächlich, die Kamera hat sich unter die Haube begeben und zeigt einige Sekunden lang im Close-up den Motor in Bewegung, von irgendwo innen, Lichtquelle unklar.
Es scheint mir klar, dass auch und gerade der Motor in diesem Moment nicht für etwas anderes steht: nicht für die Bewegtheit Esthers, nicht für ihre Aufgewühltheit (dafür stünde schon eher der Regen, aber auch der ist in erster Linie nur heftiger, spürbarer, anwesender Regen). Der Motor ist Motor, er repräsentiert nichts, wird als Teil einer Szene, in der er anwesend ist, repräsentiert. Wenn hier etwas über den Motor hinaus dargestellt ist, dann das umfassende metonymische Begehren bei Reygadas: Er will der ganzen Welt, en detail und en gros, in seinen Filmen Aufenthalt geben. Filmgrammatisch heißt das: Privilegierung der Kamerafahrt (und des Flugs, großartig einmal in der Nacht über Mexico City) über den Schnitt; Privilegierung von staunender Kamerafahrt an Menschen und Dingen entlang, Privilegierung von Überlagerung Blende, von Zusammenkommen und Auseinanderscheren von Tönen – es ist nicht die Montage, die Sinn und Bedeutung hervorbringt.
Präsenter, hineindringender, gellender und geltender jedoch als alle Motoren und Menschen dabei, in diesem wie in anderen Filmen: die Natur, mexikanisch. Die Natur jedoch, der Reygadas seine Figuren und seine Filme aussetzt, kümmert sich, so gewaltig sie ist, und weil sie so gewaltig ist, um das, was in ihr den Menschen widerfährt, herzlich wenig. Sie erhält in Reygadas’ Filmen großes Gewicht, im Bild, die Fläche und Weite, die Baumlosigkeit und der Wald, aber auch der steile Abhang, von dem ein Stier herabstürzen und sich das Genick brechen kann. Fast mehr aber noch als im Bild hat die Natur Gewicht auf der Tonspur: der Regen und sein Prasseln, der Wind und sein Tosen, das auch schon mal den Dialog übertönt, das charakteristische gequält klingende Blöken eines Tiers (es klingt fast menschlich, ist sehr präsent, rückt sich immer wieder in die Nähe des Vordergrunds). Natur, aber nicht notwendig naturalistisch: Geräusche können im Bild und gegen das Bild quasi freigestellt werden. So, wenn der Wind das Gespräch übertönt. Selten wird Musik darübergelegt, richtig massiv nur am Schluss, ein Naturausgang, der den Kreis zum Natureingang schließt. Am Anfang Menschen am und im Wasser, am Ende die Stiere und Kühe ohne Mensch in der Natur, aber ein Paradiesidyll ist es so und so nicht.
Soundpolitisch bezwingend aber auch einmal die Rückkehr Esthers, wieder im Auto, allein, aus der Stadt auf die Ranch. Das ist als Subjektive gefilmt – wobei man bei dem Begriff sehr vorsichtig sein muss, denn auch Blicke sind bei Reygadas keineswegs mit Notwendigkeit an Subjekte gebunden, selbst dann nicht, wenn klar scheint, wer da gerade blicklogisch blickt; Blicke sind immer auch, ja eher: Blick, losgelöst vom Individuum, Blick als Subjekt eigenen Rechts. Es gäbe diese Blicke bei Reygadas auch in einer Welt, in der der Mensch ausgelöscht ist. Esther also kehrt zurück aus der Stadt, der Blick schwebt mit der Autofahrt über den Weg, Zäune und Weiden zur Rechten und Linken, darauf Pferde vor allem. Man hört aber nicht, und zwar wirklich im Leisesten nicht: das Auto, nicht den Motor, nicht das Knirschen der Räder auf dem nicht asphaltierten Weg. Was man hört, ist das Getrappel der Pferde, ihr Wiehern, sind die Geräusche, die der Wind herantreibt und fortträgt. Mit Naturalismus hat das alles gar nichts zu tun. Reygadas ist ein Manierist, wenn auch einer, der sich ins Elementare verguckt hat.

Also ins Licht, wie ins Dunkel. Aber alles Dunkel überwindet das Licht. Wie schon der Titel von Post Tenebras Lux sagt. Von Stellet Licht ganz zu schweigen. In Nuestro Tiempo: Neben sehr dunkel bleibenden Szenen (Sex, verstohlen gefilmt) viel strahlendes Licht, wieder und wieder die Sonne, gegen die auch frontal gefilmt werden kann. So kommt sie aber nicht nur als Quelle des Lichts, sondern als Quelle der Störung ins Bild: immer wieder eine Art Lens Flare, insistente konische Verfärbungsstellen, Eintrübungen, die wie die Unschärfefilter auf die Materialität des Kamerabildes verweisen – und gerade aus der Bedingung der Sichtbarkeit des Gezeigten eine eigene lädierte Schönheit beziehen. Selbstreflexivität wird so selbst noch einmal Medium für ästhetische Form.
Bleibt noch der Plot. Das Liebesdreieck. An dem springt zunächst die Besetzung ins Auge: Juan wird von Carlos Reygadas persönlich gespielt (es ist, soweit ich sehe, sein Schauspieldebüt), Esther ist Nathalia Lopez, die im richtigen Leben seine Frau ist. Die Kinder sind die Kinder der beiden. Es handelt sich dennoch, soweit ich sehe, nicht um Autofiktion. In Interviews begründet Reygadas die Besetzung damit, dass der Film über einen längeren Zeitraum entstand: Mit professionellen Schauspielern wäre das schwierig gewesen. Dennoch gibt das dem Drama eine besondere Intensität, die allerdings bis zuletzt nichts Explosives, eher etwas Schwelendes hat. Reygadas spitzt den Konflikt niemals zu, sondern behandelt ihn dispersiv, er frisst sich in Szenen, Arrangements, Atmosphären, dringt ein, bedrängt, bleibt so passiv-aggressiv wie Juan, der sich als Dulder gefällt. Aber auch Esthers Entfesselung ist ein Zeitlupenakt.
Das Subjekt des Blickens und Leidens an der Affäre ist Juan. Zwischen Selbstmitleid und Bloßstellung von Selbstmitleid schwankt das. Er (und der Film) machen Esther zum Objekt männlichen Leids, Juan wird ausdrücklich zum Voyeur, Blicke auf den Sex seiner Frau mit dem anderen Mann, die der Film zu gleichen Teilen teilt und ausstellt. Und obwohl er die Perspektive Juans, nimmt man alles in allem, sicher privilegiert, sind große Momente des Films jene, in denen Esther aus der Objektposition, in die sie durch Juans Blick gerückt ist, ganz freigestellt wird, gestellt in jene Freiheit des Eigengewichts, die in Reygadas’ Filmen Mensch, Ding, Subjekt, Objekt und der Blick selbst immer gewährt wird. Die Autorückfahrt im Regen. Der Nachtflug über Mexiko City – darunter eine Art Abschiedsbrief von Esther gelegt. Ihr Besuch im Konzert, das schiere Glück in ihrem Gesicht beim Lesen einer Liebesbotschaft.
Die Epiphanien des Glücks, oder auch nur des Seins, sind bei Reygadas aus ihrer Bindung gelöst: der an den Plot, an die Figur, an die Sequenz. Sie sind aperspektivisch, oder panperspektivisch. Natürlich kehren sie in die Verhältnisse der Bindung zurück. Jeder Moment wird lesbar gewesen sein. Das Eigentliche der Filme von Reygadas, und das gilt für Nuestro Tiempo und seinen zentralen Konflikt ganz besonders, sind aber jene Momente des Entzugs und des Exzesses, die nicht den Stier einfangen, sondern sein Rasen, nicht die Fahrt von hier nach da, sondern das Fahren (und sei es durch Exposition des Motors), nicht das Bad, sondern das Wasserhafte des Wassers und das Im-und-am-Wasser-sein. Metaphysische Mitplanscherei, wie gesagt. Das Meta dieser Metaphysik ist aber kein Meta, das Überirdisches oder Transzendenz will, nicht die Bindung, sondern das Lösen, nicht religiöse Überhöhung, sondern nur das irdisch Banale und seine tiefe, tiefe Momenthaftigkeit.
Nuestro Tiempo (Carlos Reygadas) MEX 2018 | Kinostart am 27. Juni 2019