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Der Haderer Weißbiergläser auf Wirtshaustischen sind schwere Anker: Zum filmischen Werk Herbert Achternbuschs

Von Madeleine Bernstorff

Bierkampf (1977)

© Alive

 

Weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sind die Filme von Herbert Achternbusch, «ihre überströmende Fülle» (Lotte Eisner). Die Theaterstücke werden seltener gespielt, unzählige Bücher warten in den Bibliotheken. Von der lustigen Gespensterdemonstration auf der Berlinale 1983 anlässlich des Protests gegen die Zensur des Films Das Gespenst (1982) gibt es ein paar kurze Aufnahmen. Immerhin hatte sich mit dem Veto durch den damaligen Innenminister Zimmermann die neokonservative bundesrepublikanische (Film-)Wende auf kolossale Weise manifestiert, das Ende des Neuen Deutschen Films war damit – und mit dem Tod Fassbinders – besiegelt. Das Gespenst ist in Österreich immer noch verboten. Zensur hieß: Die Verweigerung einer schon zugesagten Förderung, es folgten die internalisierte Selbst-Zensur der Fernsehsender und Förderanstalten, sowie zehn Jahre der gerichtlichen Auseinandersetzung – bis Achternbusch Recht bekam. Aber auch schon zuvor war seine Beschimpfung der «bayrischen Gegend» in Servus Bayern (1978) nicht so genehm.

Die verschiedenen Arme der bayrischen Obrigkeit pflegen eine lange Tradition der Filmzensur, von den Schnitten der aktivistischen Szenen in Nielsen/Gads Spielfilm Die Suffragetten 1914 über die Razzia im Münchner Werkstattkino gegen/wegen Thierry Zenos VASEDENOCES 1978 bis zu den Abschaltungsaktionen des 3. Programms, etwa bei Praunheims bahnbrechendem Werk NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT von 1971. Einige Sätze Achternbuschs sind längst zu Redewendungen geworden: Die bayrische Gegend ist also eine, «die mich kaputt gemacht hat und ich bleibe so lange, bis man ihr das ansieht», oder auch «Du hast keine Chance, aber nutze sie!» – so hieß die Serie von Achternbuschs Schriften, bei Goldmann veröffentlicht. Kühn ließ es sich damals auch noch fragen, «in Bayern gibt es 60 Prozent Anarchisten, und die wählen alle CSU, wo gibt’s denn sowas?». Achternbusch benennt, was die Bayern nicht gern benannt wissen: Er kehrt die Gemütlichkeit von innen nach außen und an der frischen Luft wird sie faulig, sagt Luisa Francia über ihn. Schon den «Petrarca-Preis» hatte er 1977 gesprengt, den falschen Filmprojektor umgeworfen, den Burda-Scheck verbrannt.

Das Paradigma der Widerständigkeit in Achternbuschs episodenhaften Filmen trifft zusammen mit Polizeiverachtung, ich wünschte mir jetzt einen Film von ihm zum bayrischen Polizeigesetz. Poli und Zisti heißen sie im Film oder Blöde Wolke und Grünes Arschloch. Kurt Raabs Polizist im GESPENST trägt sein Pistolenhalfter mittig vor dem Hosentürl.

Achternbuschs Kino ist eines der szenischen Aufführungen und der wilden Improvisation, es sucht die Nähe zur Burleske, dem frühen Kino: schöne Kreisblenden-Vignetten, Zwischentitel. Seine Idiosynkrasien sind so immens wie sein Traum-Eisberg in Grönland. Wie alle Komiker weiß er auch genau um das Versanden des Witzes: wenn etwas ausläuft in den gefährlichen kalauernden Grenzgebieten der fröhlichen Überschreitung. Sein offensiv aggressives Slapstick-Tänzchen durch das Oktoberfestzelt in BIERKAMPF (1977) ist geschult an den Marx Brothers, seine Sprache an Marieluise Fleißer und an Karl Valentins Zen-Bajuwarik. Die Weißbiergläser auf den Wirtshaustischen sind schwere Anker, in die man im Melancholiedusel hineinstarrt. Es wird wieder mal vom Krieg erzählt, und Achternbusch inszeniert im unscheinbar düsteren Vordergrund dazu eine trübe verlangsamte Polonaise von Männern in Häftlingskleidung, ihr Summen wird zum Fliegerbrummen.

Frieda Grafe liest in ihren großen Texten zu Herbert Achternbusch alles zusammen: seine Schriften und Theaterstücke, seine Gedichte und Selberlebensbeschreibungen, seine Filme, auch seine Malerei. Es ist warm und gefräßig heute hier. «Achternbuschs Filme befreien und machen auf euphorisierende Weise, wie Horrorfilme, Angst, weil man mit seinen Erfindungen eigener Innenbewegungen gewahr wird, die immer auf der Schwelle zu Gefühlen und Gedanken bleiben.»

Schattenreich. «… denn als Selbstmörder gehöre ich zum Totenberg der Opfer. Zum Totenberg der selbstgerechten Deutschen will ich nicht gehören. Leb wohl», heißt es in DAS LETZTE LOCH (1981). Mit diesem Film ist es Achternbusch gelungen, das Opfer-Täter-Verhältnis in der Vergangenheitsnichtbewältigung durch ein bizarres Zählwerk und manische Aufrechnerei zu detournieren. Thomas Elsaesser findet hier ‹Tarnformen der Trauer›: Affekte, tragisch, und Effekte, melodramatisch. Die immerwährende Sehnsuchtsbewegung der Susn-Suche, der Suche nach der allgegenwärtigen und unmöglichen Mutterfigur, schütze vor den überstrapazierten Vater-Sohn-Konflikten im (Neuen) deutschen Film der 1970er bis 1990er Jahre, so Elsaesser in seinem Buch Terror und Trauma. Hier nehme das Opfer-Täter-Verhältnis eine andere Form der psychischen Verflechtung an, bei der nicht die (narzisstische) Subjektposition des Opfers, sondern eine Intersubjektivität, bis hin zur schmerzlichen Über-Identifikation mit dem Anderen, zum Motor werde.

2008, zum siebzigsten Geburtstag, hat das Münchner Filmfest eine Retrospektive gezeigt, es entstehen ein paar lokale und überregionale Kulturfeatures und die Edition von fünf DVDs. Jetzt gibt es den achtzigsten Geburtstag zu feiern in München, und vor allem in Leipzig. Das passionierte Luru-Kino in der Spinnerei versammelt in einer Retrospektive von November bis Mai 2019 in zweiwöchig aufgeführten Doppelprogrammen 22 Filme, davon nur 2 digitale Kopien, der Löwenanteil ist auf 16 mm oder 35 mm zu sehen. Möglich ist das, weil die Mehrzahl der Filme aus einer umfangreichen Privat-Sammlung zur Verfügung steht. Die drei Kurator*innen Sophia Eisenhut, Maja Roth und Tilman Schumacher interessieren besonders Achternbuschs widerständiger Heimatbegriff und die Treffsicherheit, mit der seine Filme mitten in die bundesrepublikanische Geschichtsvergessenzeit zielen. Es gibt Bierdeckel zur Werbung und im Dezember ein ausführliches Programmheft.

«Vom Lehrer im ANDECHSER GEFÜHL zum Bademeister in den Atlantikschwimmern, zum Arbeitsscheuen im BIERKAMPF, der sich mit einer Polizeiuniform versieht, zum nichtigen Schriftsteller in SERVUS BAYERN, zu einer Null im JUNGEN MÖNCH, die sich noch einige Regungen anmaßt, zum Bewußtlosen im KOMANTSCHEN, einem Haftentlassenen im NEGER ERWIN, Verbrecher im LETZTEN LOCH, Geköpften im DEPP, zum Gespenst im GESPENST, das ist mein Werdegang in meinen Filmen», erzählt Achternbusch seine Filmrollen. In HICK’S LAST STAND möchte er gerne (1984) native werden, und filmt kolossale Büffelherden in Wyoming. In HEILT HITLER (1986) wird ein deutscher Stalingrad-Soldat als Gipsstatue in die Zukunft katapultiert und sucht nach den Schläfer-Nazis an der Münchner Feldherrnhalle. Sein bis dato letzter Film DAS KLATSCHEN DER EINEN HAND (2002) ist eine Hommage an das Nicht-Theater.

Die Sexualitätsdarstellungen sind manchmal zotig und oft verballhornt, mit Schaukelbewegungen und wildem Beinewerfen. Manchmal nerven sie, die Filme. Das war aber auch schon damals so. Für heute viel zu viele N-Wörter. Alles wird einverleibt. Die Fremden und die Frauen. Jedoch Karl Valentin sagt, fremd sei der Fremde nur in der Fremde. Der fröhliche Tauchsieder-Weitwurf-Wettkampf auf der weiten mongolischen Hochebene in AB NACH TIBET (1994) durchkreuzt den Exotismus eher.

Was wären die Filme von Achternbusch ohne die großen bitteren Rezitationen und Monologe der Annamirl Bierbichler – in unbeirrbarer Sehnsucht? Die große Schwester vom Schauspieler Sepp: als Oberin im GESPENST, die sich dann in einen Raubvogel verwandelt und davonfliegt, als Achternbuschs angegriffene Künstlerpersona in RITA RITTER, als verlassene Frau in der Gastwirtschaft im Nachthemd in SERVUS BAYERN, als lebensmüde Wirtin im Gasthaus zum NEGER ERWIN, die am Schluß auf dem großen Nilpferd Mamba Anita vom Zirkus Atlas davonreitet. Achternbusch hatte mit Annamirl Bierbichler eine kongeniale Schauspielerin gefunden, die neben der agilen Gaby Geist mit ihrem fränkischen rollenden R die Filme immer wieder beglückt und oft auch zusammenhält.

Mit dieser «im Leben stehenden Annamirl Bierbichler, ihrer warmen festen Stimme, ihrem leichten bayrischen Akzent», hat Renate Sami gearbeitet für ihren Film MIT PYRAMIDEN (1990), der jetzt in dem Leipziger Januar-Programm gepaart ist mit Achternbuschs USA-Travelogue HICK’S LAST STAND (1989). Renate Sami bereist Ägypten, Ingo Kratisch filmt 16mm, Freunde und Sami selbst auf Super8, atmende Bilder, Originalton. Ein kleines Mädchen inszeniert sich als Bauchtänzerin. Ein mehrmaliger 360 Gradschwenk umfasst die Gegend der frühen Stufenpyramiden von Sakkara im späten Morgengrauen und langsam wird es Tag. Sami führt ein Gespräch mit einer älteren Frau, die ihre erstaunlichen Ehegeschichten erzählt. Historische nicht-westliche Texte aus dem ersten, dem zehnten und dem 14. Jahrhundert beschreiben die Gründung Kairos und die Etablierung des Islams. Sie werden von Annamirl Bierbichler zu den gelegten Fotopanoramen aus Ägypten gesprochen, in der Wohnstube in Ambach, umgeben von Achternbuschs Malerei. Darauf folgt ein Text eines sehr jungen Mädchens über ihre Verheiratung und die gewalttätige Hochzeitsnacht.

Während Achternbusch in HICK’S LAST STAND die Mary anspricht, in einem langen stofflichen Sermon, ohne Originalton, schweift die Kamera über die Landschaft. Sie hat sich in die monumentalen Trucks verliebt. Der Achternbuschsche Hick stiehlt sich aus Moteleingängen, hockt an der Landstraße im Gischt des vorbei strömenden Verkehrs und flieht vor peitschenden Schüssen von Kaktus zu Kaktus. «Daß ich noch immer da bin, das ist das Blöde, das ist wirklich das Blöde.»