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Späte Satisfaktion Ein letztes Buch über vorletzte Dinge: Siegfried Kracauers unterschätztes Spätwerk Geschichte – Vor den letzten Dingen erscheint in der Werkausgabe seiner Schriften

Von Simon Rothöhler

Siegfried Kracauer, Rom 1964

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

 

Die «Formulierung einiger Gedanken über die Geschichte» treibe ihn derzeit um, lässt Siegfried Kracauer seinen einstigen Schüler Theodor W. Adorno in einem Brief vom 11. Dezember 1960 erstmals wissen. Dasselbe Schriftstück enthält eine milde Kritik an der technischen Sprache und Unzugänglichkeit des Mahler-Buches, das Adorno gerade publiziert hatte («Deine stilistischen Intentionen sind derart, daß sie dem musikalischen Laien, der ich bin, keine Krücken bieten») und die Erinnerung an eine lange gemeinsame Diskussion in Bergün, der Kracauer retrospektiv eine «Matrix» und «Grundeinstellungen» des adornitischen Denkens entnehmen zu können glaubt.

Rund sechs Jahre später, am 23. Oktober 1966, schreibt Kracauer seinen letzten Brief an Adorno, wenige Wochen darauf, am 26. November, stirbt er in New York an einer Lungenentzündung. Von einer «Erkältung» ist darin knapp und wohl auch untertreibend die Rede, von Mauricio Kagels Film Antithèse, den Adorno bei den Kranichsteiner Ferienkursen für Neue Musik gesehen und seinem Freund empfohlen hatte (dieser reagiert eher defensiv als dankbar: «Es geht mit Filmen wie mit Sommerfrischen: bei beiden kommt man um die eigene Inspektion nicht herum») und ein letztes Mal auch vom «Geschichtsbuch» («sind noch gut drei Kapitel zu schreiben – wahrscheinlich die schwierigsten»).

Zur Fertigstellung kam es nicht mehr, das Projekt blieb, insbesondere im Hinblick auf zwei der insgesamt acht Kapitel, Fragment. Dennoch erschien 1969 die Monografie History. The Last Things Before the Last; 1971 folgte eine deutsche Übersetzung, die Karsten Witte besorgte. Anfang Dezember ist das Geschichtsbuch nun endlich als Band 4 der Kracauer-Werkausgabe im Suhrkamp Verlag erschienen, herausgegeben von Ingrid Belke, die eine sehr gründliche, rund 200-seitige Nachbemerkung verfasst hat. Nützlich daran ist nicht nur die editorische Notiz, in der die damals von Kracauers Ehefrau Lili überwachte Schlussredaktion des Manuskripts durch den befreundeten Soziologen Rainer Koehne nachgezeichnet wird, sondern auch eine ausführliche Schilderung von Kracauers New Yorker Tätigkeitsfeld während der 60er Jahre – vor allem als reise- und kontaktfreudiger Berater der Bollinger Foundation.

Ein Buch für Viele

Die Rezeptionsgeschichte des Geschichtsbuches ist nicht weniger problembeladen als die Umstände seiner Edition. Eine Geschichtstheorie, die auf verschlungenen Wegen mit den fotografischen Medien argumentiert und dabei immer wieder philosophische Nebenschauplätze eröffnet, setzt sich zwangsläufig zwischen alle disziplinären Stühle. Das Ergebnis: Ein Buch für Viele, für das sich niemand richtig zuständig fühlt.

In den 90er Jahren, als Kracauer in der Filmwissenschaft intensiv gelesen wurde, kam das Geschichtsbuch meist nur peripher vor. In jüngeren Versuchen, seine Arbeiten mit neo-phänomenologischen Ansätzen oder den Kinobüchern von Deleuze zusammenzubringen, wird es gewöhnlich völlig außer Acht gelassen. Es passt einfach nicht ins Bild. Man bezieht sich hier lieber selektiv auf den «materialistischen» Kracauer der Weimarer Zeit und liest ihn als Erfahrungstheoretiker.

Allgemein gilt das Spätwerk – dazu gehört auch die publizierte Fassung der Theorie des Films – als irgendwie weniger avanciert. Unterschwellig im Spiel ist hier die mäßig plausible, aber immer noch weit verbreitete biografische Deutung, Kracauer habe sich im Exil sukzessive dem pragmatistischen US-Mainstream angenährt – aus einem Anpassungsreflex heraus. Falsche Versöhnung lautet seit Adornos von Zwischentönen nicht freiem Nachruf der Vorwurf: Wo die frühen Schriften der kapitalistischen Massenkultur noch einen finalen «danse macabre» voraussagen, begeistert sich die Theorie des Films mit weltbürgerlichem Optimismus für die Fotoausstellung «Family of Man», die Roland Barthes so verabscheut hat.

Das Geschichtsbuch wurde entweder ähnlich rubriziert oder gleich ganz ignoriert – und das, obwohl sein Autor glaubte, einem Opus magnum auf der Spur zu sein. Zudem hoffte Kracauer, die zerstreuten Fäden seines Werkes einer finalen Bündelung zuführen zu können und suchte zu diesem Zweck auch den Austausch mit zeitgenössischer Theoriebildung, wie beispielsweise ein knapper brieflicher Austausch mit Claude Lévi-Strauss belegt (der Tonfall auf beiden Seiten: höflich-distanziert).

Die eigentlichen Adressaten des Geschichtsbuches, die Historiker, ließen jedoch bis vor kurzem praktisch gar nichts von sich hören. Erst seit der französischen Erstübersetzung im Jahr 2006 scheint sich daran langsam etwas zu ändern. Konferenzen werden abgehalten, ein von Philippe Despoix und Peter Schöttler herausgegebener Sammelband ist erschienen (u.a. mit einem Beitrag von Jacques Revel). Selbst die kaum mehr an Theorie interessierten und auch sonst ziemlich heruntergewirtschafteten Cahiers du cinéma reagierten auf diese bemerkenswerte akademische Konjunktur im Oktober 2007 mit einem kleinen Kracauer-Dossier (das allerdings so angelegt war, dass der Hausheilige André Bazin keinen Schaden nimmt). Der italienische Historiker Carlo Ginzburg, der schon früh auf das Geschichtsbuch aufmerksam wurde und vielleicht etwas voreilig seinen eigenen Ansatz darin verteidigt fand – als «beste Einführung in die Mikro-Geschichte» preist er es – sprach kürzlich sogar von einer fächerübergreifenden «Kracauer-Renaissance».

Verfremden

Geschichte – Vor den letzten Dingen vollzieht in erster Linie meta-historiografische und geschichtsphilosophische Denkbewegungen. Nachdrücklich sucht Kracauer den Dialog mit von ihm bewunderten Historikern wie Jacob Burckhardt oder Philosophen wie Hans Blumenberg. Aus einem Briefwechsel mit Leo Löwenthal geht hervor, dass es nicht zuletzt die Lektüre von Marc Blochs gleichfalls posthum erschienener Schrift Apologie der Geschichtswissenschaft war, die das Projekt in Gang setzte.

Es sind Fragen zum «Handwerk des Historikers» (Bloch), die Kracauer primär beschäftigen: Wie nah an den Quellen müssen geschichtliche Narrative entwickelt werden, welche Bedeutung haben Erzähltechniken, überhaupt ästhetische Verfahren für den Erklärungszusammenhang des historiografischen Textes? Wie verhält sich die Erkennbarkeit historischer Verläufe zur geschichtlichen Relativität der Deutungsperspektive? An vielen Stellen scheint das Geschichtsbuch modern und unmittelbar anschlussfähig an die geschichtstheoretischen Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: von Hayden Whites kritischer Analyse des historiografisch-ästhetischen «emplotments» bis zu Reinhart Kosellecks Reflexion der «Standortgebundenheit».

Die Methodenreflexion wird bei Kracauer aber immer wieder durch weit ausholende, zuweilen messianistisch gefärbte Bezugnahmen auf die Geschichte «an sich» durchkreuzt. Kracauer wendet sich auf dieser Ebene zum einen gegen die im Marxismus wiederbelebte teleologische Spekulation: «In der Folge werden weltliche Vorstellungen von Fortschritt und Evolution zunehmend mit der Aufgabe belastet – um nicht zu sagen: überlastet –, die theologische Interpretation der Geschichte zu ersetzen. Und unter der Einwirkung von Konnotationen, die ihnen dergestalt zuwachsen, wird die Aufwärtsbewegung zum Jenseits in die horizontale Ebene projiziert und beginnen weltliche Ziele eschatologische Erwartungen zu verdrängen.» (44) Der andere Gegenspieler ist der Historismus, eine vielstimmige Denkrichtung, die Kracauer verkürzend mit einem naiven Positivismus und einer falschen Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung nach dem Erkenntnismodell der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringt. Die Vermittlungsfiguren, die sich durch das ganze Geschichtsbuch ziehen, sind nicht zuletzt Produkte dieser doppelten Frontstellung, wobei Kracauer sich mehr als einmal auf die rhetorische Ambiguität des modernen Geschichtsbegriffs zurückzieht und zumindest stellenweise unklar bleibt, ob von Geschichte als Ereignisfolge oder von Historie als Repräsentationsform die Rede ist.

Auf den ersten Blick hat das Geschichtsbuch mit Filmtheorie entsprechend wenig zu tun. Kracauers Fragestellung ist epistemologischer Natur und zielt auf Geschichte als akademische Disziplin und geisteswissenschaftliche Praxis. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist jedoch eine gleichsam interdisziplinäre Intuition: «Blitzartig wurden mir die vielen Parallelen klar, die zwischen Geschichte und den photographischen Medien, historischer Realität und Kamera-Realität bestehen.» (11) Die Analogie wird als spekulatives Manöver anmoderiert, als terminologischer Transfer, der produktive Unruhe stiften soll, erweist sich aber schnell als tragende, wenngleich ambivalent bleibende Säule der gesamten Unternehmung. Auf der Suche nach einer Denkfigur, die sein heterogenes Lebenswerk im Rückblick kohärent erscheinen lässt, trägt Kracauer seine umfangreichen Vorarbeiten zu den fotografischen Medien (er unterscheidet generell nicht zwischen Fotografie und Film, letzterer ist schlicht eine «Erweiterung» des älteren Mediums) mit heuristischer Intention in das Feld der Geschichtstheorie ein, um «gewohnte Aspekte auf historischem Gebiet zu verfremden» (71).

Nicht nur weil die Frage, wie der Film in der Geschichte und zur Geschichte steht, ein Leitthema in Kracauers Werk ist, enthält auch sein letztes Buch – trotz der skizzierten methodologischen Anlage – eine implizite Auseinandersetzung mit dem historiografischen Vermögen des Films, seiner «Affinität» zur Geschichte. Kracauers Überzeugung, dass die Spezifik der fotografischen Medien als Bildform und Kulturtechnik nicht ohne deren Bezug zum Historischen bestimmbar ist, findet sich in der Tat bereits in den Weimarer Schriften – fernab von jeder Idee eines «wunderlichen» (Adorno) Abbild- oder Errettungsrealismus, wie vor allem im enigmatischen Fotografie-Aufsatz (1927) nachzulesen ist, der zur Essaysammlung Das Ornament der Masse gehört.

Medien, die anders sind

Im Geschichtsbuch taucht die angenommene Nähe zwischen Film und Geschichte zunächst in der Form einer terminologischen Analogie auf, erschöpft sich aber dennoch nicht darin, dem Nachdenken über Geschichte ein paar attraktive optische Metaphern aus der begrifflichen Welt des Films zuzuführen. Worin also erkennt Kracauer die «Parallelen», welche ästhetischen Eigenschaften des Films lassen sich als historiografische deuten und was bringt diese Engführung mit sich?

Im letzten Kapitel des Geschichtsbuches, das mit «Der Vorraum» übertitelt ist und zu jenen gehört, die in einem relativ fragmentarischen Zustand überliefert wurden, fasst Kracauer die behauptete Analogie noch einmal wie folgt zusammen: «Man könnte den Bereich der geschichtlichen Wirklichkeit ebenso wie den der photographischen Wirklichkeit als einen Vorraum-Bereich definieren. Beide Wirklichkeiten sind von einer Art, die sich nicht leicht in fest umrissener Form abhandeln läßt. Das eigentümliche Material beider Bereiche entzieht sich dem Zugriff systematischen Denkens und ist auch nicht wie ein Kunstwerk formbar. Wie die Aussagen, die wir über die physische Wirklichkeit mit der Kamera treffen, können sich jene, die sich aus unserer Beschäftigung mit der geschichtlichen Wirklichkeit ergeben, gewiß über die Stufe bloßen Meinens erheben; aber weder vermitteln noch erstreben sie letzte Wahrheiten wie Philosophie oder eigentliche Kunst. Sie teilen ihre wesentlich vorläufige Natur mit dem Material, das sie aufzeichnen, erforschen, durchdringen.» (209)

Was die beiden «Vorraum-Medien» demnach teilen, ist eine Äquidistanz zu den jeweils angrenzenden Feldern, die für Kracauer vergleichbar auf autonome Schöpfungen aus sind: auf der einen Seite die Wahrheitsansprüche der Philosophie und die Objektivitätsvorstellung der Naturwissenschaften, auf der anderen Seite die Kunst mit ihrem Streben nach Eigengesetzlichkeit. Die Gegenüberstellung mag schematisch erscheinen und in ihrer Absolutheitsunterstellung vor allem theoriestrategisch dazu dienen, jenen «Bereich eigenen Anspruchs» zu konturieren, der sich mit den «vorletzten Dingen» begnügt.

Dass Historiografie und Film ihr «Rohmaterial» nicht vollständig «verzehren», sondern mit relationalen Formgebungen operieren, ist für Kracauer ein entscheidendes Argument. Beide Praktiken müssen von etwas ausgehen – einer historischen Quelle, der Welt vor der Kamera –, das ihnen vorausliegt, und nicht beliebig formbar ist, weil es bereits eine Form hat. Kosellecks Diktum vom «Vetorecht der Quellen» gilt auch für den Film, weil aufgezeichnete Objekte, Landschaften, Personen etc., auf die er beziehbar bleibt, zwar inszeniert, kadriert und montiert werden können, aber nicht ad infinitum mit willkürlichen Bedeutungen belegbar sind (ein Stuhl kann keine eifersüchtige Dienstmagd spielen): «Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht», heißt es bei Koselleck.

Hinter diesem Zusammenhang verbirgt sich letztlich auch die hochaktuelle Frage nach der wechselseitigen Durchdringung von ästhetischen und epistemischen Aspekten in der Kunst und im wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang. Das Geschichtsbuch liefert nicht nur Hinweise auf ästhetische Momente im historiografischen Verstehensprozess (als textueller Effekt der Vergegenwärtigung und Anschaulichkeit, aber auch weil Geschichte nur im Medium des Erzählens erklärbar wird), sondern lotet auch Erkenntnis-Ressourcen im ästhetischen Feld aus. Kracauer umkreist den schwierig bestimmbaren Punkt, an dem Historiografie ästhetisch operiert, ohne Kunst zu sein und die fotografischen Medien Wissen erzeugen und vermitteln, ohne Wissenschaft zu sein.

Für die Filmtheorie liegt hier eine Möglichkeit, das Medium aus zunehmend einseitigen Zuschreibungen als primär somatisch vermittelte «Affektmaschine» herauszulösen, ohne beim trockenen Informationsverarbeitungsbegriff der Kognitivisten zu landen. In Kracauers Analogie erscheint die Kulturtechnik Film nicht nur als spektakulärer Erlebnisraum der Geschichte, sondern auch als Medium ihrer Verstehbarkeit. Dazu gehört eine Aufwertung des Films als Objekt und der Idee filmischer Autorschaft. Immer wieder parallelisiert Kracauer den Regisseur mit dem Historiker (und beide mit der Proust-Figur des «Fremden»), ohne zu übersehen, dass der Filmautor mit einer Technik operiert, die quasi auch unwillkürlich «historiographische» Arbeit leistet.

Das betrifft nicht nur den dokumentarischen Zeugnisaspekt des filmischen Bildes, sondern hat vor allem mit der internen Multiperspektivität des Mediums zu tun. Wie selbstverständlich realisiert der Film fluide Bewegungen zwischen Mikro- und Makrogeschichte, wie sie dem Historiker und Columbia-Professor Sigmund Diamond, einem Kollegen Kracauers, vorschwebten: «Diamond träumt von einer amerikanischen Geschichte, in die er unter anderem Großaufnahmen einzublenden plant, und zwar nicht als Illustrationen seiner allgemeinen Annahmen, sondern im Gegenteil als in sich geschlossene Einheiten, die dem, worauf er insgesamt den Nachdruck legen will, zuwiderlaufen können.» (142)

Bereits in der Theorie des Films untersucht Kracauer das entsprechende Potential der Großaufnahme. Am Beispiel der ineinander verschränkten Hände von Mae Marsh in Intolerance (1916) beschreibt er, wie der Close up zwischen dramatisch-storyfunktionalem Eingebundensein und disruptiver Autonomie pendelt: «Für Griffth sind diese großen Bilder kleiner materieller Phänomene nicht nur wesentliche Bestandteile der Handlung, sondern auch Entdeckungen neuer Aspekte der physischen Realität. (…). Jede Großaufnahme enthüllt neue und unerwartete Formationen der Materie; das Gewebe einer Haut erinnert an Luftaufnahmen, Augen verwandeln sich in Seen oder vulkanische Krater.» (94) So widerspricht die Großaufnahme der erzählerischen Makrobewegung, läuft dem Plot entgegen oder entwickelt einen eigenen und verweist damit auf die Eigenrechtlichkeit des Ausgangsmaterials, den Makrokosmos, der im Detail steckt. Diamonds epistemologischer Traum einer Historiographie, die die Autonomie, Diskontinuität und Vieldeutigkeit der Quellen immer wieder durchscheinen lässt, statt sie thesengemäß zurechtzustutzen, ist für den Film: der ästhetische Normalfall.

Sammeln. Dem Namenlosen Namen geben

«Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine Würde und Unantastbarkeit dadurch, dass die bewahrende und verehrende Seele des Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet», schreibt Nietzsche in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Allerdings nicht ohne zugleich auf die verbreitete Form der «Entartung» des antiquarischen Interesses hinzuweisen: «das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwuth, eines rastlosen Zusammenscharens alles einmal Dagewesenen.»

Mit Nietzsche setzt sich das Geschichtsbuch an verschiedenen Stellen auseinander, prominent in der Frage, wie vollständig die historischen Details Eingang finden müssen in das Gedächtnis der Kultur und den Text der Geschichtsschreibung. Nietzsche erkennt in der «Sammelwuth» ein «beschränktes Gesichtsfeld», einen Mangel an «Proportion» und «Werthverschiedenheit». Wer nur auf das Bewahren konzentriert ist, sieht die Gewordenheit der Verhältnisse ohne Perspektive und verpasst die Gelegenheit zu kritischer Aufkündigung des Bestehenden: «dann soll es eben gerade klar werden wie ungerecht die Existenz eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient.»

Für Kracauer hingegen bleibt eine «faktografische» Geschichtsschreibung, die sich ganz auf das Sammeln geschichtlicher Materialien verlegt, aus zwei Gründen eine Option. Einmal aus einem theologischen Motiv heraus: «Ihm zufolge ist die ‹vollständige Sammlung der kleinsten Fakten› aus dem Grund erforderlich, daß nichts verlorengehen soll. Es ist, als sollten die tatsachenorientierten Darstellungen Mitleid mit den Toten haben. Dies rechtfertigt die Gestalt des Sammlers.» (150) Ihre ethische Dimension gewinnt diese Empfänglichkeit für das «sprachlose Plädoyer der Toten» aus der Vorstellung, dass in Praktiken des Erinnerns, Sammelns und Aufbewahrens ein Moment der Solidarität enthalten ist, das gerade auch die Lebenden nötig haben.

Sein zweites Argument gegen Nietzsches Sammelskepsis im Namen des «Lebens» entwickelt Kracauer mit Blick auf eine Vorstellung kritischer Überlieferung und verspäteter Anerkennung, die sich im Film artikuliert. Dessen besondere Affinität zur Geschichte gründet für Kracauer im Unvermögen des Mediums, vollständig kontrollierbare Ansichten zu produzieren. Dem Filmemacher entgleitet das Bild unaufhörlich, um nicht zu sagen: systematisch, weil es spezifisch kontingenzbegabt ist, durchlässig für die «Zufallsmanifestationen des Lebens». Nichts ist Kracauer mehr zuwider als die Studioästhetik klassischer Historienfilme, die geschichtliche Szenarien als «Annexionen der Vergangenheit» rekonstruieren: «Weil man das Gefühl nicht los wird, dass die Kamera schon bei der geringsten Bewegung nach rechts oder links im Leeren oder im bizarren Durcheinander von Ateliergeräten landen würde», heißt es in der Theorie des Films.

Die relative Unfähigkeit des Films, kontingente Einschreibungen der Welt vollständig einzuhegen oder nachträglich zu löschen (die digitale Post-Produktion ist Kracauers Albtraum), wird hier als besondere Aufnahmebereitschaft für Nichtintendiertes, für Dinge, Menschen, Ereignisse, die en passant ins Bild rutschen, interpretiert. Es ist die alternative Überlieferung, die «anonyme Geschichte» und mögliche werdende «Gegen-Analyse», wie es bei Marc Ferro heißt, die Kracauer in den fotografischen Medien aufgehoben sieht. Mit einem Zitat aus Blumenbergs Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus verleiht er diesem Aspekt besonderen Nachdruck: «Wird aber das unter der Einstrahlung jener neuen Ideen gewachsene, an ihr zur Selbstgenügsamkeit erstarkte Bewusstsein sich einmal fragwürdig, dann tauchen aus dem Dunkel, in dem die Geschichte die Erfolglosen verwahrt, auch die konturlosen Gestalten derer auf, die widersprochen haben, dann kann sogar jener Kleinmütig-Starrsinnige, der nicht durch Galileis Fernrohr das verbotene Spiel der Jupitermonde ansehen möchte, zu der späten Satisfaktion gelangen, dass ein bedeutender Gelehrter von ihm sagte: ‹To applaud him is by no means impossible for a reasonable being … ›.» (235)

An Stellen wie dieser skizziert Kracauer weniger eine geschichtsästhetische Utopie, die den Film als romantischen Sammler begreift, als einen Aspekt jeder repräsentationskritischen historiografischen Praxis, die die überlieferten Quellen auf jene «Barbarei» hin durchleuchtet, die nach Walter Benjamins berühmtem Satz auf jedem überlieferten Zeugnis der Kultur lastet. Den Versuch zu unternehmen, die von Kapitalinteressen und Propaganda umstellten Archive der Filmgeschichte «gegen den Strich zu bürsten», erscheint aus dieser Perspektive besonders lohnenswert, weil das Medium gerade in seinen ästhetischen Routinen immer wieder unscheinbare Phänomene und Marginalisiertes exponiert.

Im Geschichtsbuch wird deutlich, dass Kracauer den Film nicht als Abbildspeicher begreift, sondern als deutungsbedürftige Quelle, die von den Rändern her zum Sprechen zu bringen ist. Der Zuschauer muss nur ein «Amateur der Weltgeschichte», ein Hobby-Historiker werden und auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu lesen beginnen: «Das ‹Genuine›, das in den Zwischenräumen der dogmatisierten Glaubensrichtungen der Welt verborgen liegt, in den Brennpunkt stellen und so eine Tradition der verlorenen Dinge (lost causes) begründen; dem bislang Namenlosen Namen geben.» (239)

 

Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen (Werke Band 4) (Suhrkamp Verlag 2009)