essay

Plädoyer für das Spiel

Von Nicolas Wackerbarth

Opening Night (1977)

© Faces Distribution

 

«I’m getting older. What are we going to do about that?»

(John Cassavetes als Maurice Aarons zu Gena Rowlands als Myrtle Gordon in Opening Night)

 

Laie / Profi

Es gibt im zeitgenössischen Kunstkino die Tendenz, einen Menschen, der noch nie im Kontext einer Filmproduktion vor der Kamera gestanden ist, zum höchsten Gut zu erklären. Dabei wird das Gesicht meist aus einem räumlichen Zusammenhang extrahiert, zum Beispiel vor einer weißen Wand gefilmt. Durch das Beobachten des Laien und seiner authentischen Regungen soll dem Zuschauer ein Raum eröffnet werden, der Profidarstellern mit ihrem bewusst ausgeführten Gestenspiel verstellt zu sein scheint. Die Unmittelbarkeit des Augenblicks, die Unschuld der Gesten und das unbekannte Gesicht werden «benutzt». Was geschieht aber, wenn mit diesen Menschen wiederholt vor der Kamera gearbeitet wird? Wären diese Laien nach dem zweiten Film «verbraucht»? Besteht die Gefahr, dass auch nach ihnen der Narzissmus seine Fühler ausstreckt – so wie es Kleist in seinem Essay Über das Marionettentheater ausgeführt hat? Würden sich auf einmal die Laien in der Nachahmung und im faden Abklatsch ihrer selbst wiederfinden?

Im Gegensatz zu dem expressiven Gestus, der in den 50ern mit den jungen Rebellen aufkam und seinen Höhepunkt in der Psychopathen-SchauspielerInnen-Generation der 70er fand, wird heute ein exaltiertes Spiel der Mimik auch im amerikanischen kommerziellen Zweig der Filmproduktion vermieden. Das Starsystem Hollywoods erschafft nun seine Ikonen mit einer Schauspielmethode, die den minimalistischen Ausdruck und die Konzentration auf das Wesentliche bevorzugt. Eine Projektionsfläche wird zur Verfügung gestellt, die Identifikation mit der Protagonistin oder dem Protagonisten soll durch nichts gestört werden. Der Heiligenschein strahlt dabei umso heller, je mehr in den Production Value und in die Körperoptimierung investiert wurde. Es regiert das professionalisierte Kamera-Acting, das sich seiner Wirkung nicht nur bewusst ist, sondern die Gesetzmäßigkeiten der Fotografie (Lichteinfall, nahe oder weite Einstellung, Raumtiefe, etc) voll auszuschöpfen weiß. Bei dieser Art von Schauspielern wird immer das Augenlicht gesucht, um maximale Präsenz zu erreichen. Die DarstellerInnen sprechen gerne mal so leise, dass sie sich später selbst nachsynchronisieren müssen.

Spiel

Ich frage mich, warum in beiden Bereichen, dem Autorenfilm und dem kommerziellen Kino, so wenig damit gearbeitet wird, was SchauspielerInnen tatsächlich zu leisten vermögen, nämlich zu spielen. Der Mensch ist doch ein soziales Wesen. Er ist kommunikativ, chaotisch und unstet. Warum dürfen das SchauspielerInnen nicht vor der Kamera sein? Warum müssen sie gerade stehen, sich präsentieren, ja «bessere» oder intensivere Versionen ihrer selbst performen? Warum sich perfektionieren, sich idealisieren? Ich versuche SchauspielerInnen in meiner Arbeit von dieser angestrebten Neutralität zu befreien. Anstatt ihnen die Last einer deterministischen Vorstellung von Authentizität zuzumuten, die sich im «reinen» Gesicht offenbaren soll, ermuntere ich sie im Gegenteil dazu, zu lügen. Mit der Lüge beginnt die Fiktion. Ich möchte ihnen einen Raum für ihre Fantasie ermöglichen, völlig gleich, ob herausragend oder mittelmäßig, albern oder ernsthaft. So versuche ich Schauspielende auf das offene Feld der Laien zu führen. Denn: Wie ist das überhaupt mit den Laien und deren «Authentizität»? Wenn ihre Beschränkungen als höchstes Gut gehandelt werden, dann verdamme ich sie doch zur Passivität. Ihr Reichtum an vielfältigen Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Gefühle werden als störend empfunden. Ich, der Autor des Films, halte sie dann eingeschlossen in meinen eigenen Vorstellungen. Ist es interessant, wenn in einem Film nur meine Autorensichtweise auf die Welt gezeigt wird, anstatt verschiedene, sich widersprechende Anschauungen? Warum wird ein emotionaler oder verbaler Austausch der MitspielerInnen unterbunden? Könnten nicht Laien vielmehr dazu verführt werden, auf Augenhöhe von SchauspielerInnen zu agieren und somit selbst Autoren werden? Wenn Schauspielende und Laien zu einem gemeinsamen Spiel herausgefordert werden, könnten, so meine ich, ganz andere Potentiale abgerufen werden. Ich plädiere mit meiner Arbeit für das Spiel. Ein Spiel, das natürlich von allen Beteiligten ernst genommen werden muss, ein «authentisches Spiel».

Präsens

Als ich THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE sah, hatte ich zum ersten Mal eine konkrete Erfahrung von Gegenwart im Kino. Wohl aus einem ähnlichen Grund bezeichnete der Kritiker Georg Seeßlen die Filme von John Cassavetes als «magische, cineastische Events». Damals hatte ich mich damit beschäftigt, auf welche Weise Cassavetes diese Wirkung zu erzeugen vermag. Mir fiel auf, dass er konkrete Situationen erschafft, in denen sich die Charaktere zurechtfinden müssen. Dies mag banal klingen, ist aber eine Prämisse, die sich in den wenigsten Filmen wiederfinden lässt. Vielmehr herrscht eine Travestie von Situationen im Kino und Fernsehen, die jeder Zuschauer als Verabredung bereits zu kennen scheint und somit nur noch angedeutet werden müssen – im Kunstfilm sieht das dann «abstrakt» aus, da die Meta-Ebene inszenatorisch betont wird, im Arthouse-Kino «realistisch», indem sich alle ästhetischen Entscheidungen dem Fluss der Narration unterwerfen. Je mehr Regieanweisungen in einem Drehbuch zu finden sind («Sie atmet schwer, kann ihre Tränen kaum zurückhalten»), desto sicherer kann man sich sein, dass diese Emotionen nur einem Wunschdenken des Autors entsprungen sind und sich in der Umsetzung niemals aus der Situation selbst begründen lassen, sprich unspielbar sind. Das ist vielen bekannt. Aber warum bleiben die Situationen doch meist Behauptungen? Warum wird darauf so wenig Arbeit verwendet? Warum findet eine Interaktion, eine Auseinandersetzung widersprechender Sichtweisen kaum statt?

Nun, die Situation ist unsichtbar – im Gegensatz zum Ort, von dem aus die Bilder für Filme gedacht (und auch verkauft) werden, denn 80 Prozent der Kameraarbeit ist ja bereits durch die Auswahl der Locations definiert. Die Situation dagegen lässt sich ästhetisch vorab nicht greifen, sie findet erst beim Drehen zwischen den agierenden Menschen statt – oder eben nicht. Cassavetes ging es immer um Beziehungen, oder genauer gesagt um das Fluide zwischen den Menschen, um den Stream. Denn die Liebe, sie fließt.

 

The Killing of a chinese bookie (1976)

© Faces Distribution

 

Situation

Gegen Ende von THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE zeigt Cassavetes ausführlich eine Cabaret-Show. Aufgrund der Dauer der Szene fällt eine Deutung schwer. Hier werden keine Schwerpunkte gesetzt, es wird keine Richtung vorgegeben. So stellt sich das Gefühl ein, dass man tatsächlich in diesem Nachtclub mit Nackttänzerinnen sitzt. Durch eine erzählerische Setzung kann sich Cassavetes alle Zeit der Welt nehmen, ohne Spannung zu verlieren: Sein Protagonist Cosmo wurde angeschossen, und die Frage steht im Raum, ob er diesen Schuss überleben wird.

Als Mr. Sophistication (ein Laie? ein Schauspieler? ein Selbstdarsteller!) eine Sinnkrise hat, redet Cosmo, gespielt von Ben Gazzara, ausführlich mit ihm und dem Ensemble. Mr. Sophistication fühlt sich überflüssig, denn alle Zuschauer würden nur auf die großen Brüste der Tänzerinnen schauen, auf die eigentliche Show «A Day in Paris» könne man verzichten. Doch Cosmo geht es nicht um billigen Striptease, sondern um Glamour und stilvolles Entertainment. Er ist stolzer Besitzer eines Nachtclubs und nicht einer Absteige. Er redet Mr. Sophistication ins Gewissen. Sie verhandeln miteinander und überwinden gemeinsam die Sinnkrise, sodass die Show weitergehen kann – während Cosmos Wunde weiterblutet. Der Respekt, den Cosmo, der Besitzer des Clubs, den Nackttänzerinnen und seiner doch ziemlich dilettantischen Show entgegenbringt, ist herzzerreißend. Cassavetes filmt das alles in halbnahen Einstellungen, die eine lakonische Wirkung entfalten, distanziert und nah zugleich. Eine große Kunst, die man auch bei Maurice Pialats Kameraarbeit feststellen kann.

Nochmal, nochmal, verdammt nochmal

«Realisten» wie Mike Leigh warfen Cassavetes das Theatralische in seiner Schauspielinszenierung vor. Klar, die Nähe zum Theater, einem Medium, dessen Reiz darin besteht, dass es jede Sekunde gegen seine eigene Vergänglichkeit ankämpfen muss, ist in seinen Filmen omnipräsent. Der Vorwurf der «Realisten» geht aber weiter: Cassavetes würde – ausgenommen in seinen frühen Filmen – nur exzellente Schauspieler bei der Arbeit zeigen, nicht Charaktere, die in einer «realen» Welt, einer Geschichte agieren. Das beschreibt für mich exakt die Qualität seiner Filme oder den Mechanismus, der seine Filme zu Ereignissen macht. Erst dadurch, dass der Spielvorgang sichtbar wird, kann beim Zuschauer das Gefühl von Gegenwart entstehen. Aber anders als bei Brecht liegt das Hauptaugenmerk weniger auf den ökonomischen Bedingungen als auf der Suche nach Liebe, Anerkennung, Erfüllung, Selbstachtung, zwischenmenschlicher Nähe. Jeder der Beteiligten darf bei Cassavetes spielen, ohne etwas Richtiges erfüllen (und sich damit verstecken) zu müssen. Hier wird nicht das Ideal eines mündigen (über alle dramaturgischen Entscheidungen informierten und politisch bewussten) Schauspielers angestrebt, sondern hier wird manipuliert, und die SchauspielerInnen werden als das, was sie sind, ernst genommen und umarmt: wahnwitzige Alltagsringer; nach Liebe und Nähe suchende Narzissten, die versuchen Spaßzu haben, etwas zu spüren; Menschen, die mit ihren Frustrationen zurechtkommen müssen, um leben zu können. Cassavetes fordert von den agierenden Laien (seiner Mutter und Freunden) ein, etwas aktiv zu leisten, nämlich zu spielen. Diese Forderung der Regie ist Teil der Filme. So werden Handlungen, wie Takes bei den Dreharbeiten, einfach mehrmals wiederholt: In A WOMAN UNDER THE INFLUENCE versucht Mabel dreimal, ihre Kinder ins Bett zu bringen. Doch die Kids lassen sich nicht bändigen und laufen lieber immer wieder die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Erst nach diesem dritten Versuch verwandelt sich das Sehen in eine Erfahrung. So verschiebt sich der Fokus von der Unfähigkeit Mabels, die Mutterrolle auszufüllen, hin zu der Kindererziehung, die eine riesige, für jedermann und jede Frau schwer zu bewältigende Aufgabe ist. In OPENING NIGHT zwingt Cassavetes durch Wiederholung des Wortes «fear», das er komödiantisch übertreibt und verzerrt, sich selbst dazu, die Angst vor dem Sterben auszutreiben. Gefilmt wird ein Theaterstück über das Älterwerden, das er gerade mit seiner Lebensgefährtin Gena Rowlands durch ein paar silly routines aufzusprengen versucht. Ausgeschlossen wird durch dieses Aussteigen aus dem Stück eine sentimentale Einfühlung oder eine romantische Überhöhung, integriert stattdessen die Transparenz des Spielvorgangs während der Filmaufnahme. Jeder Darsteller kämpft darum, zumindest einen guten Augenblick, einen guten Joke, einen Kontakt zu sich und seinem Gegenüber, ja zum Leben zu erhaschen. John Cassavetes schaut dem Tod bei der Arbeit zu. Über die vergeblichen Bemühungen, diesem entrinnen zu wollen, kann er zwar schallend lachen – wie er das am Ende von LOVE STREAMS unvergleichlich schön tut, als im Leben seine Lebererkrankung bereits weit fortgeschritten war –, aufhören kann er damit aber nicht. In seinen Filmen geht es zu wie in der Geschichte von den zwei Fröschen, die in einen Milchbottich gefallen sind. Hysterisch fängt der eine an zu strampeln, was der andere mit Spott kommentiert. Es scheint keine Chance zu geben, dem Bottich zu entkommen. Doch durch das unermüdliche Strampeln wird die Milch zu Butter und der Frosch springt aus dem Napf. So hüpfen Cassavetes und sein Schauspieler-Laien-Menschenensemble über die Leinwand hinaus in die Gegenwart.