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selten gehörte musik

Von Peter Praschl

Mitte Mai las ich in der New York Times vom Tod Glenn Brancas, eines Mannes, an den ich mindestens 25 Jahre nicht gedacht hatte, doch nun war er sofort wieder da, obwohl ich nicht einmal mehr weiß, wo ich ihn gesehen habe (entweder in Wien bei Töne Gegentöne oder in Linz bei der Ars Electronica), & auch immer noch nicht, wie man sich an die Musik Brancas erinnern kann. Ich hatte damals gelesen, dass viele seiner Zuhörer schon bei den allerersten Tönen fliehen würden, weil es so laut sei, was er mache, viel zu laut, als dass man es ertragen könne, falls man es aber aushielte, würde man nach einiger Zeit die Obertöne zu hören beginnen und eine Art Erleuchtung erleben, & so wartete ich, zusammen mit den anderen, die das hören wollten, in diesen Outfits der ersten Hälfte der 80er, mit dieser Aufregung der ersten Hälfte der 80er, ob es tatsächlich so sein würde. Die Musiker kamen auf die Bühne und legten aus der Stille mit einer Musik los, die schon in der ersten Sekunde so laut war, dass man sich von ihr regelrecht geschlagen fühlte, eine Musik so gewalttätig wie nichts, das ich seitdem erlebt habe, ich glaube, weil sie meinen Körper nicht akzeptierte, sondern ihn neu konfigurierte: Du hast dir bisher nur eingebildet, dass du Ohren hast, sagte diese Musik (obwohl sie selbstverständlich nichts sagte), ich aber zeige dir, dass dein ganzer Körper Ohr ist, dass du Organ bist statt welche zu haben. Und wirklich standen sofort Menschen auf und liefen aus dem Saal, aber nicht ich, weil ich wissen wollte, was sich in der Branca-Musik zu erkennen geben würde, aber bis heute weiß ich nicht, was ich gehört und ob ich gehört habe, was man hören sollte, falls man standhielt, und falls ich es gehört habe, wie ich es beschreiben könnte – zum Beispiel, ob es noch ein Werk war, was ich hörte (weil ein Werk Distanz zum Hörer voraussetzt, einen Körper mit Organen [vielleicht aber ist Folter ein Werk, auch sie macht aus einem Körper mit Organen einen, der ein Organ ist …]), oder: ob ich die Branca-Musik wirklich gehört habe (sie war ja etwas, das nicht nur die Ohren angriff, sondern auch an ihnen vorbei im Körper herumfuhr, seinen Puls aus dem Tritt brachte und dergleichen mehr). Und blieb so zusammen mit anderen, die auch standhielten (wie in der Dialektik der Aufklärung Odysseus den Sirenen, nur dass es hier darum ging, nicht abzuhauen, statt sich vom Sirenengesang anziehen zu lassen), und mit denen ich keine einzige Sekunde ein Publikum, eine Gemeinschaft, ein Wir wurde, auch das verhinderte diese Musik, man blieb alleine, man hatte viel zu viel mit sich selbst zu tun, um noch Kraft und Platz für andere zu haben, eine Stunde vielleicht, ich weiß es nicht mehr. Als es zu Ende war, bilde ich mir ein, applaudierte niemand, aber vielleicht hörte man es bloß nicht, weil wir alle taub geworden waren und unsere Ohren nichts mehr hören konnten, ging nach Hause, zurück in mein Leben zurück, in dem eine Erinnerung an Branca weiterlebte, bis ich von seinem Tod las und mir auf Youtube Videos von Branca-Auftritten ansah. Scheißkrebs, dachte ich. Und dass es so etwas sofort wieder geben müsste.