medienwissenschaft

20 Minutes into the Future Theorie unter den Bedingungen von Social Media: Über Hito Steyerls Duty Free Art. Art in the Age of Planetary Civil War

Von Roland Meyer

Junktime, relational photography, corporate animism – fast jeder der fünfzehn Essays, die Hito Steyerl in Duty Free Art versammelt, etabliert mindestens einen Begriff, den man sich sofort aneignen möchte. Als theoretische catchphrases bringen sie Phänomene auf den Punkt, die unseren digitalen Alltag bestimmen: die von immer komplexeren Mikrologistiken fragmentierte, in permanenter Mobilität verbrachte, durch Social Media-Konsum auf dem Smartphone aufgefüllte junktime; relational photography, bei der jedes Bild noch vor seiner Entstehung mittels algorithmischer Optimierung an Standards und Formate angeglichen wird, die zuvor durch unzählige andere Bilder generiert wurden; ein von Google, Amazon und Apple befeuerter corporate animism, der vermeintlich intelligente Maschinen hervorbringt, die menschliche Absichten und Vorlieben als Muster im Rauschen unendlicher Datenmengen aufspüren sollen. Wie Ausrufezeichen punktieren und beschleunigen diese Neologismen einen Strom von scharf konturierten Gegenwartsanalysen, der, zumindest ging es mir so, einen beinahe rauschhaften Zustand gesteigerter Wachheit, ja Aufgekratztheit hervorruft. Man fühlt sich bei der Lektüre direkt angeschlossen an einen individuell gefilterten und kommentierten newsfeed, der einen die Welt mit den Augen von Hito Steyerl sehen lässt.

Es ist, so viel verrät schon der Untertitel, keine schöne Welt, auch wenn Steyerl sie mit grimmigem Humor und Sinn für Absurditäten schildert. Es ist eine Welt, in der die globale Zirkulation digitaler Daten Ökonomie und Politik, Kunst und Alltag gleichermaßen vollständig durchdringt, eine Welt spekulativer Finanzströme, entgrenzter Bilddistribution und kontinuierlicher Überwachung – und zugleich eine Welt nie endender militärischer Verwüstung ganzer Weltregionen, der wachsenden Ungleichheit und des Siegeszugs neofaschistischer Regime. Und mitten drin und mit alldem aufs Engste verflochten ein Kunstsystem, das wohl nur von wenigen seiner prominenten Akteur*innen je als so korrupt gezeichnet wurde: Museen und Biennalen für zeitgenössische Kunst, die von Waffenproduzenten gesponsert und von Diktatoren zur Imagepflege genutzt werden; Kunststudent*innen, die sich für ihr Studium auf Jahre hinaus verschulden, um hinterher in unterbezahlten Galerienjobs PR-Mails mit pseudo-kritischem Theorievokabular aufzuhübschen; ein globalisierter Kunstmarkt, angefeuert durch spekulatives Kapital von Hedgefonds, Oligarchen und Warlords, auf dem digital produzierte Werke auf Basis von Handybildchen ihre Besitzer*innen wechseln und als Datenpakete rund um den Globus geschickt werden, um schließlich in künstlich limitierter physischer Form in irgendeinem Freihafen zwischen Genf und Singapur zu landen, in Klimakisten sicher vor den Blicken der Öffentlichkeit wie dem Zugriff der Steuerfahndung verwahrt.

Ein Rezensent hat beklagt, Steyerls Essays glichen Echokammern, die die zynische Wahrnehmung eines spezifischen Segments des Kunstbetriebs zum geschlossenen Weltbild abdichten würden. Das ist nicht nur ungerecht, weil es eine der wenigen prominenten Künstler*innen trifft, die ihre eigene Position in einem tatsächlich zunehmend zynischen Kunstsystem öffentlich reflektiert, sondern weil es auch eine irreführende Metapher ist. Wenn diese Essays bisweilen das Gefühl vermitteln, Zugang zu einer sehr speziellen filter bubble zu gewähren, dann handelt es sich doch um keine geschlossenen Hallräume. Vielmehr öffnen sie sich auf spezifische Weise auf Phänomene der digitalen Gegenwart – von Spam-Mails über Wikileaks bis zu Deep Learning –, lassen sich davon anregen und irritieren, geben aber fast nie der Versuchung nach, sie bloß zur Bestätigung vorab verfasster Thesen heranzuziehen. Darin hebt sich Steyerl wesentlich von anderen, ausschließlich männlichen und zutiefst kulturkritischen Theoretikern ‹des Digitalen› ab, die sich derzeit nicht nur im Kunstbetrieb einiger Beliebtheit erfreuen. Und anders als auf solchen Schwundstufen der Merve-Kultur üblich, begnügt sie sich auch keineswegs damit, dem seit Baudrillard, Virilio und anderen allzu Bekannten neue, feuilletontaugliche Labels zu verpassen.

Was sie vielmehr in ihren Texten vorführt, die meist schon zuvor online auf e-flux veröffentlicht wurden, ist Theorie unter den Bedingungen von Social Media: gegenwartsgesättigt und pointenstark, hyperalert und non-linear, experimentell, explorativ und voller Links und Verweise, denen man am liebsten sofort nachgehen möchte. Doch wie nach Stunden im Netz stellt sich bei fortgesetzter Lektüre ein leichtes Gefühl der Benommenheit ein. Während es immer schwieriger wird, im Rückblick den genauen Zusammenhang der Thesen und Argumente zu rekonstruieren, brennen sich einzelne Bilder umso stärker ins Gedächtnis ein. Gleich der erste Essay, «A Tank on a Pedestal», steigt mit einer solchen Szene ein. 2014 wird der titelgebende sowjetische Kampfpanzer aus dem Zweiten Weltkrieg, nachdem er fast 70 Jahre Teil eines Kriegerdenkmals im ost-ukrainischen Donezk war, von pro-russischen Separatisten erneut in den militärischen Einsatz geführt. Was musealisiertes Artefakt war, wird als tödliche Waffe reaktiviert: «Apparently, the way into the museum – or even into history itself – is not a one-way street. Is the museum a garage? An arsenal?», fragt Steyerl, mit einem beiläufig-ironischen Verweis auf die Venedig-Biennale wie auf ein einschlägiges, von Roman Abramowitsch finanziertes Moskauer Museum für zeitgenössische Kunst. Mit dem Panzer setzt sich auch Steyerls Text in Bewegung, um dann auf nur wenigen Seiten gewaltig Fahrt aufzunehmen und die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Musealisierung wie der Rolle der «Kunst im Zeitalter des Weltbürgerkriegs» ins Visier zu nehmen.

Seine stärksten Momente entfaltet das Buch allerdings dort, wo es seinen Blick von zeitgenössischer Kunst und ihrer Theorie löst und sich den technischen und sozialen Bedingungen gegenwärtiger Bildproduktion und -distribution widmet. Diese, das unterschlägt der eher aufs Kunstpublikum hin formulierte Titel, bilden auch den Dreh- und Angelpunkt nicht nur der künstlerischen, sondern auch der theoretischen Arbeit Steyerls. So lassen sich viele ihrer Videoinstallationen wie ihrer Texte als Fortsetzung jener Befragung operativer Bildlichkeit verstehen, die Harun Farocki in den späten 1980er Jahren begonnen hat. Diese Fortsetzung, sofern sie denn eine ist, knüpft allerdings nicht ungebrochen an Farockis Perspektive an – vielmehr gibt sie dieser einen radikalen spin, der in mehrfacher Hinsicht signifikant für die Verschiebungen im Verhältnis von Realität und technischen Bildmedien ist, die sich seit einigen Jahren, unter Bedingungen ubiquitärer vernetzter Bildproduktion, mobiler sozialer Medien und selbstlernender Algorithmen beobachten lassen.

Deutlich wird dies an einer Stelle, an der Steyerl direkt auf Farocki Bezug nimmt. Als geradezu paradigmatisch für den damals neuen Typus technischer Bilder, den Farocki «operative Bilder» getauft hat, können bekanntlich jene Aufnahmen des Golfkriegs von 1991 gelten, die aus den Zielerfassungssystemen der US-Raketen gesendet wurden. Farocki hat von «Selbstmord-Kameras» gesprochen, die sich in ihr Ziel stürzen und dabei Bilder ihrer eigenen Zerstörung senden – bis schließlich nach dem Aufprall nur mehr Rauschen den Bildschirm füllt. Steyerl ruft dieses Bild gleich zu Beginn eines Essays auf, um zugleich lakonisch zu behaupten, die Kamera sei beim Aufprall gar nicht zerstört worden, sondern vielmehr in Milliarden winzig kleiner Splitter zerborsten, die nun als allgegenwärtige Smartphone-Kameras unseren Alltag begleiten würden. Statt isolierbare militärische Zielobjekte zu identifizieren, sind sie Teil einer entgrenzten Infrastruktur der Verdatung alltäglichster Handlungen, Bewegungen, ja selbst Affekte geworden. Im fiktiven Bild der wirbelnden und in alle Richtungen auseinanderstiebenden Kamerasplitter, das man sich unmittelbar als ebenso krude wie witzige CGI-Animation in einem von Steyerls Videos imaginieren kann, verdichten sich, so scheint mir, drei Motive, die Steyerls Nachdenken über den gegenwärtigen Stand operativer Bildlichkeit über die einzelnen Texte hinweg bestimmen: die räumliche Entgrenzung digitaler Bildproduktion, die Allgegenwart des Rauschens und die Ununterscheidbarkeit von Dokumentation und Spekulation.

Nimmt man das Bild der verstreuten Splitter einstigen High-Tech-Militärequipments nämlich ernst, dann deutet es vor allem darauf hin, dass die Einbettung von Bildern in Prozesse der automatisierten Auswertung heute nicht mehr an spezifische soziale Räume gebunden ist. Solche Räume, und die Bilder, die in ihnen und für sie produziert wurden, standen in vielen Arbeiten Farockis im Zentrum – neben militärischen Schauplätzen etwa das Gefängnis, die Fabrik, das Stadion oder das Einkaufszentrum. Steyerls Gegenwartsbeschreibungen gehen dagegen von einer ebenso allgegenwärtigen wie unspezifischen Operativität der Bilder aus. Operationen der Filterung, Analyse und Verkettung von Bildern dienen nicht mehr nur benennbaren Interessen in klar lokalisierbaren und eingrenzbaren sozialen Kontexten, sondern sind gleichsam in die digitale Infrastruktur vernetzter Bildproduktion eingelassen.

Das hat, wie Steyerl in einem der brillantesten Essays des Bandes, «Proxy Politics: Signal and Noise», ausführt, auch darin seinen Grund, dass die vermeintlichen High-Tech-Splitter in den Smartphone-Kameras kaum mehr als billiger Schrott sind. Die üblicherweise verbauten Linsen, so schreibt sie unter Berufung auf einen anonym bleibenden Ingenieur, seien nämlich so schlecht, dass sie fast zur Hälfte bloß digitales Rauschen produzieren. Den Rest erledigen Optimierungsroutinen, die aus unbrauchbaren Sensordaten jene Bildqualitäten generieren, die den visuellen Erwartungen der Konsument*innen entsprechen. Aufzeichnung wird damit ununterscheidbar von Postproduktion, die bereits einsetzt, noch bevor überhaupt etwas sichtbar wird. Zugleich wird Mustererkennung mit sozialer Anerkennung kurzgeschlossen. Wo Algorithmen darüber mitbestimmen, wer wie im Bild erscheint, wessen Gesicht ausgeleuchtet und scharf gestellt wird und wer im Rauschen der Daten verschwimmt, zeigt sich der eminent politische Charakter scheinbar bloßer Bildoptimierung.

Doch solche Diagnosen bilden für Steyerl nur den Auftakt, um der Frage nach dem Verhältnis von Signal und Rauschen eine ganze eigene Wendung zu geben. Denn auch wenn sich kaum sagen lässt, auf welche Weise genau die proprietären Algorithmen im Inneren der black box Smartphone jene Bilder errechnen, die schließlich auf dem Screen landen, so lässt sich doch vermuten, dass sie die Formate und Standards, die dabei implementiert werden, aus der statistischen Auswertung unzähliger anderer Aufnahmen ableiten. Braucht es da überhaupt noch eine Aufzeichnung von Lichtimpulsen, damit die Kamera ein Foto produziert, oder wäre allein auf Basis der im Smartphone und den mit ihm vernetzten Social-Media-Profilen bereits verfügbaren Aufnahmen eine Annäherung an das mit größter Wahrscheinlichkeit passende Bild errechenbar? «The Result might be a picture of something that never existed, but that the algorithm thinks you might like to see.» Steyerl, das macht ihr Schreiben so irritierend wie anregend, formuliert diese Möglichkeit nicht einmal mehr im Konjunktiv, vielmehr beschreibt sie eine Welt, in der Smartphones schon jetzt kaum etwas anderes machen als Googles «DeepDream»-Algorithmus: eine gleichsam autonom gewordene Mustererkennung, die nicht mehr spezifische Objekte im Bild lokalisiert und identifiziert, sondern aus sinnlosem Rauschen neue Bildobjekte spekulativ generiert. Die Kamera wird so zum «social projector» von unzähligen, in digitalen Bilddatenbanken aggregierten vorgängigen Entscheidungen und Präferenzen, die sich zu visuellen Mustern verdichten.

Spielt es eine Rolle, ob das eine faktisch zutreffende Beschreibung ist? Im spekulativen Charakter vieler dieser Essays, in denen präzise Gegenwartsanalyse nahtlos in hyperbolische, aber stets empirisch grundierte Fiktion übergeht, nähert sich Steyerl, so könnte man sagen, ihren Gegenständen an. Sie richtet ihre Filter auf das Rauschen der Informationssplitter, die täglich auf uns einstürmen, den sich überbietenden Erfolgsmeldungen aus den Entwicklungslaboren des Machine Learning, den Datenleaks von Snowden oder auch den Textfluten der Spammails, und sucht nach Mustern und Korrelationen, aus denen sich ebenso spekulative wie einprägsame Bilder generieren lassen. Wenn schon der technische Stand digitaler Bildmedien die Unterscheidung zwischen Dokumentation und Fiktion, Analyse und Spekulation prekär werden lässt, dann kann vielleicht nur ein solch zugleich analytisches wie spekulatives Schreiben ein wenig Licht ins Dunkel jener black boxes werfen, die mittlerweile unseren Alltag bevölkern. 

 

Hito Steyerl: Duty Free Art. Art in the Age of Planetary Civil War (Verso 2017)