spielfilm

Warten auf den Ausbruch Der Schauspieler Georg Friedrich ist am Besten zwischen den Worten

Von Hannah Pilarczyk

Helle Nächte (2017)

© Piffl

 

Wenn die Stille fast unerträglich wird, ist Georg Friedrich am besten. Es tut dabei nichts zur Sache, ob die Stille entstanden ist, weil schon alles gesagt wurde und die Gesprächspartner nun über die Konsequenzen des Gesagten nachdenken müssen, oder ob die Stille gleich gestört werden muss, weil sich das zu Sagende nicht länger aufschieben lässt. In beiden Fällen versteht es Friedrich, die Spannung zu halten. Bereits geführte Konflikte lässt er nachklingen, noch nicht geführte erahnen, meist reicht dafür ein schneller, streifender Seitenblick, der durch seine bullige Stirnpartie auch noch halb verstellt und deshalb noch weniger deutbar wird. Bei Friedrich wird Stille zur Latenz, zur Auffächerung von Möglichkeiten, was als nächstes kommen mag. Dieses Spiel beinhaltet seine eigene Potenzierung: Je mehr Filme man mit Friedrich gesehen hat, desto vielfältiger erscheinen einem diese Möglichkeiten. Schließlich hat man ihn schon als widerwillig väterlichen Bestatter (Atmen), in komplizierte Missbrauchskonstellationen verstrickten Türsteher (Hundstage), zweifelnden Dieb antiquarischer Bücher (Über-ich und du) oder als eifersüchtigen Kommunarden (Sommer in Orange) gesehen.

Auch wer nur wenige von Georg Friedrichs vielen Filmen gesehen hat, weiß, dass, wenn der zweite Fall eintritt, also die Stille irgendwann doch gestört werden muss, schließlich diese Stimme kommt. Und auch wenn man sie schon zur Genüge kennt, ist man immer wieder davon überrascht, wie hoch Friedrichs Stimme ist, wie gepresst und brüchig. Sie scheint verschlissen zu sein von reichlich Leben, Anstrengungen, Erfahrungen, die seine Figuren noch nicht einmal geschrieben bekommen haben müssen, damit er sie in den Film mit einbringt. Wahrscheinlich ist Georg Friedrich auch deshalb über die Jahre ein so viel beschäftigter Schauspieler geworden: durch Spiel und Stimme verleiht er seinen Figuren eine erzählerische Tiefe, für die Buch und Regie denkbar wenig tun müssen. Ist ja alles schon da, wenn er kurz von der Seite einen Blick rüberwirft und gleich etwas zu sagen wollen scheint.

Geschichten lassen sich rückwärts gewandt immer am besten erzählen, aber die Konsequenz, mit der Friedrichs bald 30 Jahre andauernde Karriere auf seinen neuen Film Helle Nächte und seine Auszeichnung auf der Berlinale 2017 als bester Hauptdarsteller hinauszulaufen scheint, ist schon bemerkenswert. In Helle Nächte macht sich Thomas Arslan (Buch und Regie) Friedrichs Schweigen nicht nur bei der Inszenierung von dessen Figur Michael zu eigen. «Lang nichts von dir gehört», lautet der erste Satz, der an Michael gerichtet wird. Latenz ist vielmehr Erzählprinzip des gesamten Films.

Der Vater, mit dem Michael und seine Schwester sich vor langer Zeit überworfen haben, ist in seiner Wahlheimat Norwegen gestorben. Die Schwester weigert sich, mit Michael nach Norwegen zu fahren, die Beerdigung zu veranlassen und den Haushalt aufzulösen. Stattdessen kommt Michaels pubertierender Sohn Luis (Tristan Göbel) mit, der bei seiner schon längst von Michael getrennten Mutter lebt. Als die wichtigsten bürokratischen Aufgaben erledigt sind, fahren Michael und Luis für ein paar Tage mit dem Mietwagen durch Norwegen, schlafen in kargen Unterkünften, in denen Luis die Bekanntschaft mit einem Mädchen macht, bleiben mit dem Auto liegen, weil ihnen das Benzin ausgeht, schlagen ihre Zelte unwissentlich an einem See auf, der auch junges Partyvolk anzieht, machen Wanderungen, die für Luis’ Geschmack viel zu lang sind und auf denen er deshalb Streit mit dem Vater sucht.

All diesen Situationen, die Arslan äußerst zurückhaltend aufbaut, tragen Konflikte und Eskalationen in sich. Man kennt ihre Iterationen aus verschiedenen Genres, dem Roadmovie genauso wie dem Familiendrama, und wie Friedrich sein Schweigen kostet Helle Nächte den Moment vor der Auflösung, für welche Iteration er sich entscheidet, kunstvoll aus. Im Gegensatz zu Friedrich kann Arslan aber den Bruch des Schweigens nicht produktiv machen, ihm misslingt konstant die Überführung der Spannung in eine neue Szene. In gewisser Weise ist Helle Nächte deshalb ein parasitärer Film: Er bedient sich bei den Arbeiten von anderen, ohne ihnen etwas zurückzugeben, ohne neue Bilder oder neue Figurenkonstellationen hinzuzufügen und die Genres zu erweitern. Einmal fängt Friedrichs Figur während der Autofahrt plötzlich an, sich vor dem Sohn zu erklären. Damals einfach zu jung für ein Kind, dann auch andere Frauen, ist jetzt in jedem Fall besser so für alle: Wenn so viel hundert Mal Gehörtes hinter der grimmigen Stille steckt, die die meiste Zeit während der Autofahrten herrscht, wünscht man sich sofort die Stille zurück. Nur wenn sie erst einmal so enttäuschend gestört wurde, verliert die Stille ihre Verheißung. Helle Nächte erholt sich von dieser Szene nicht mehr.

Umso klüger ist, wie Nicolette Krebitz Friedrich in Wild einsetzt, seiner anderen Erfolgsrolle aus jüngster Zeit, die ihm den Deutschen Filmpreis als bester Nebendarsteller eingebracht hat. Wieder verkörpert Friedrich einen Mann mit Geschichte, die kaum erzählt werden muss: Er ist Boris, der Chef von Lilith Stangenbergs Ania, verbunden mit seiner Arbeit, integriert in die Gesellschaft. In der Erzählung von Wild kann er kaum mehr als eine Chiffre sein, da ihr Interesse der Beziehung zwischen Ania und dem Wolf gilt. Trotzdem muss Boris glaubhaften Anreiz für Ania bieten, sich noch nicht ganz von ihrem alten Leben zu lösen, denn die Alternative erscheint zunächst zu radikal, als dass sich Ania ihr umstandslos verschreiben könnte. Friedrich bietet diesen Anreiz mit viel Nachsicht, Freundschaftsdiensten und verständnisvoll mahnenden Blicken. Was Ania letztlich doch aufgibt, um ihr Leben mit dem Wolf zu verbringen, drückt sich wohl am nachhaltigsten darin aus, dass sie und der Film Boris opfern. Es ist eine Loslösung, die auch das Publikum schmerzen muss, damit sie in aller Konsequenz spürbar ist, und das könnte kaum besser gelingen als mit Friedrich. Ist er aus dem Weg geräumt, ist die Stille wirklich unerträglich. 

Helle Nächte (Thomas Arslan) D 2017 | Kinostart am 24. August 2017