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Gruppenaufstellungen Denn so lief es in der DDR: Harf Zimmermanns Hufelandstraßenfotos im C/O Berlin

Von Simon Rothöhler

Als Genre wird die Straßenfotografie meist mit urbaner Dynamik, Schnappschussepiphanien und der medientechnischen Evolution hochmobiler Kleinbildkameras in Verbindung gebracht. Momentaufnahmeästhetiken frieren fotografisch ein, was au trottoir in ständiger Bewegung, Augenblick für Augenblick radikal veränderlich ist. Als Harf Zimmermann Mitte der 1980er Jahre mit einer hölzernen Linhof-Plattenkamera aus den 1930er-Jahren auf die Ostberliner Hufelandstraße ging, galt der anachronistische Apparatgestus keinem Eugène-Atget-Reenactment-Kunstprojekt, sondern einem historischen Zustand, in dem geschichtliche Zeit auch außerhalb fotografischer Fixierung einigermaßen eingefroren schien: «Ich erinnere mich genau, ein Tag gegen Ende der 1980er Jahre, ich befand mich in meiner Einraumwohnung in der Hufelandstr. 31, Hinterhaus, 5. Stock, und war, wie man heute sagen würde, schlecht drauf. Die Liebe meines Lebens hatte mich verlassen, mein Antrag auf ein Telefon war wiederholt abgelehnt worden, meine Anmeldung auf ein Auto würde weitere 15 Jahre brauchen, und von den großen Wohnungen im Vorderhaus würde mir in absehbarer Zeit auch keine zugewiesen werden. Denn so lief es in der DDR: Uns wurde immer etwas zugewiesen, zugesprochen, eine Wohnung beispielsweise, oder etwas wurde aberkannt, abgesprochen, die Bewegungsfreiheit zum Beispiel. Von einer Behörde, einem Gremium, von einem staatlichen Organ, von der Partei, von irgendeiner linientreuen Null, welche die Macht hatte, einem nach Belieben in die Suppe zu spucken.»

Zimmermann hatte bei Arno Fischer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Fotografie studiert und war auf den Staat, der ihm diese verleidete Realsozsuppe eingebrockt hatte – «so kannten wir schließlich unsere Diktatur» –, nicht sonderlich gut zu sprechen. Die Hufelandstraße war andererseits aber Beleg für dissidente Spielräume auf der Ebene alltäglicher Lebenspraxis: ein Mikrokosmos mit geringerem Anpassungsdruck, voller sub-und gegenkultureller Energien. Als Bühne und Anstifter fungierte hier ein «kapitalistisches Erbe»: die noch nicht durch «Fickzellen mit Fernheizung», wie Heiner Müller die DDR-Plattenbauten nannte, ersetzte Gründerzeitarchitektur des Bötzowviertels, einer «Enklave des Bürgerlichen», weiß der Programmtext zur Ausstellung im C/O Berlin zu berichten.

Im aufmerksamkeitsökonomischen Windschatten der etwas überproduziert wirkenden (und dennoch sehenswerten) William Klein-Ausstellung wird nun im Obergeschoss des Charlottenburger Amerika-Hauses – gleichsam als Gegenpol zum nervös-subjektivistischen Stil der Street Photography des US-Amerikaners – eine Auswahl jener rund 100 Hufelandstraßenfotografien präsentiert, die Zimmermann an der HGB 1987 als Diplomarbeit eingereicht hatte. Ausdrücklich inspiriert war die Serie durch Bruce Davidsons East 100th Street (1966–68), eine Dokumentararbeit, die die Bewohner eines Blocks in Harlem über zwei Jahre hinweg fotografisch porträtierte.

Ost-Berlin war jedoch nicht New York – und das nicht nur, weil hier keine Coca Cola-Neonreklame blinkte und die diversity bis in die gentrifizierte Gegenwart hinein eher nicht den Standards internationaler Großstädte genügt (es ist allerdings keine gute Idee des Katalogs, in diesem Zusammenhang von einem «Austausch der Bevölkerung» zu sprechen – wie auch immer man die städtebauliche Wohnungs-und Sanierungspolitik Berlins im Einzelnen bewerten mag).

Ein Jahr lang zog Zimmermann vor dreißig Jahren von Haus zu Haus, dokumentierte Architektur und Bewohner des «Kurfürstendamms des Ostens». Eine mikroethnografische Serie, deren Episodentitel Hausnummern sind: von «Das Ehepaar Bremer vor ihrer Zoohandlung, Nr. 1» über «Die Angestellten der HO-Fleischerei ‹Wilde Geflügel›, Nr. 10» und «Frau Krause mit Tochter, Enkelin und Hund vor ihrem Lotto-Laden, Nr. 12» bis zu «Familie Böck, Vater, Mutter und Sohn, vor ihrer Schuhmacherei, Nr. 32». Auffallend viele familiengeführte Geschäfte, die nicht über die Handelsorganisation (HO) oder die Konsumgenossenschaft verstaatlicht worden waren, sondern als private Betriebe mehr oder weniger inoffiziell weiterexistierten. Gerade auch diese behördlich offenbar geduldete Infrastruktur der Alltagsversorgung trug, so sagen Zeitzeugen, nicht weniger zum alternativen Lebensgefühl bei als die hier wohnenden Künstler, Intellektuellen und sonstigen schrägen Vögel.

Geduldig lassen sich die Händler, Fleischer, Bäcker, Friseure, Imbissbudenbetreiber zur Gruppenaufstellung arrangieren. Kleine Kollektive, in die widerständige Haltungen hineingelesen werden können. Ein lebensfrohes Lächeln ließ sich hier jedenfalls nicht fotografisch aufzeichnen. Das hat auch mit der aufnahmetechnischen Schwerfälligkeit der Großbildkamera zu tun, die ein anderes Zeitmaß mit sich bringt. Deren Verfahrenstechnik überführt das Soziale in eine bildästhetische Stasis, in der die erforderliche Starrheit der Positionierung potenziell in einen ungeschützteren Ausdruck umschlägt, was Zimmermann als Strategie entdeckte:  Es dauert. Keiner kann über einen langen Zeitraum sein Sonntagsgesicht halten, irgendwann gibt es einen Moment der Entspannung, des Loslassens. Das ist es, was mich interessiert, nicht das Spontane.»

Trüb ist das Licht auf der Straße, Braunkohle liegt in der Luft. Sehr schön auch die kleine Binnenserie «Meine Telefone» – über öffentliche Münzfernsprecher und Fernverbindungen, die auf der Straße liegen. Während die Gruppenaufstellungen auf den Bürgersteigen in Schwarzweißfotografien verewigt wurden, explodieren in den Innenräumen hin und wieder private Farbwelten. Darunter tatsächlich auch die ein oder andere bürgerliche Enklave. Man richtet sich ein, auch wenn die Titel der Aufnahmen biografische Brüche andeuten – «Imma (freiberuflich), vormals Lehrerin» – oder ganze Zimmerwände einer Südseesehnsuchtsinsel gewidmet sind: «Daniela vom Wachschutz und ihr Freund Bernd vom Fahrdienst in ihrer Einraumwohnung». Im Katalog wird Harf Zimmermann von einem Interviewer mit Blick auf Arno Fischer und Christian Borchert gefragt, wie ihn die «Ostfotografie» beeinflusst habe. Antwort: «Gegenfrage: Gibt es eigentlich eine Westfotografie?»