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Ein großartiges Schauspiel Anton Holzer dokumentiert anhand von dutzenden, zum größeren Teil zuvor unveröffentlichten Fotografien ein bis heute kaum bekanntes Kriegsverbrechen: die Massenhinrichtungen des Ersten Weltkriegs

Von Stefan Ripplinger

Am 6. April 1928 liest der Schriftsteller Lu Xun in der Zeitung Shen pao einen Bericht über die Festnahme und die Hinrichtung eines Provinzkomitees der Kommunistischen Partei: «Da drei der Verhafteten weiblichen Geschlechts waren – Ma Shu-chun (16), Ma Chih-chun (14) und Fu Feng-chun (24) –, war am Tag der Hinrichtung die ganze Stadt auf den Beinen, um das Schauspiel zu erleben.» Noch Tage danach wühlt ihn der Artikel auf, nicht so sehr die Hinrichtung von Frauen und Kindern, sondern das darin beschriebene Verhalten der Menge, die sich nicht satt sehen kann an den Leichen.

«Ich könnte mir noch mehr Details ausmalen», notiert Lu Xun, «die wilde Begierde auf den Gesichtern der einen, die andern voller Befriedigung. Ich bin noch nie auf so eine eindrucksvolle Schilderung gestoßen in all der ‹revolutionären› oder ‹realistischen› Literatur, die ich gelesen habe.» Seine Notiz über diesen Fund überschreibt er mit «Die Ausrottung der Roten – ein großartiges Schauspiel».

Dass Hinrichtungen Schauspiele sein können, begegnet einem seit den Tagen des Circus Maximus, der Scheiterhaufen und der Französischen Revolution, auf den «Desastres» von Goya ebenso wie in Carl Theodor Dreyers vredens dag oder Arthur Penns the missouri breaks. Anton Holzer hat dieser grausamen Geschichte ein weiteres Kapitel angefügt. Es besteht hauptsächlich aus Fotografien. Einige von ihnen waren zuvor schon hier und da, die meisten aber noch nie zu sehen. Sie zeigen Hinrichtungen, mit denen die k.u.k. Armeen Österreichs und Ungarns während des Ersten Weltkriegs die Zivilbevölkerung, auch die eigene, terrorisiert haben. Sie zeigen den Galgen als Spektakel, die Begierde auf den Gesichtern der einen, die Befriedigung auf denen der andern, sie zeigen den Fotografen als – wie Susan Sontag schrieb – «Henkersknecht hinter der Kamera».

Solche Bilder sind verflucht, denn sie machen jeden Betrachter zum Mittäter, nicht erst, wenn er sich an ihnen delektiert, allein schon, weil es seiner Pietät überlassen bleibt, ob er in diesen preisgegebenen hängenden Bündeln Menschen erkennen will. Sontag, selbst alles andere als eine Ikonoklastin, hielt fest: «Man kann es für eine Pflicht halten, Fotos zu betrachten, auf denen Grausamkeiten und Verbrechen festgehalten sind. Man sollte es in jedem Falle für eine Pflicht halten, darüber nachzudenken, was es heißt, solche Bilder zu betrachten.»

Holzer, der viel darüber nachdenkt, wie die Zeitgenossen diesseits und jenseits der Front seine Bilder betrachtet haben, legt sich nicht die Pflicht auf, darüber nachzudenken, was es heißt, sie heute zu betrachten. Muss, was die Opfer demütigt, nicht selbst den unschuldigen Betrachter beschämen? Der Autor rechtfertigt nicht die Veröffentlichung, obwohl er eine ausgezeichnete Rechtfertigung hätte: Seine Bilder gehören zu den wenigen Dokumenten, die von einem fast vergessenen Kriegsverbrechen überliefert sind.

«Geisel justifizieren. Orte niederbrennen»

Auf ihrem Rachefeldzug marschierten am 11. August 1914 die österreichisch-ungarischen Truppen in Serbien ein und trafen auf unerwarteten Widerstand. Am 13. August meldete der bereits nervös gewordene Kommandant der Zweiten Armee, seine Leute seien «von rückwärts angeschossen» worden. Er lasse alle Zivilisten, deren er habhaft werde, «niedermachen», also abschlachten, oder «justifizieren», also hängen, sehe sich aber von Zivilbehörden in seinem Morden behindert. Noch am selben Tag erhielt er ein Telegramm von höchster Stelle: «In allen serbischen Orten auch diesseits der Grenze Geisel ausheben. Bei Zwischenfällen Geisel justifizieren. Orte niederbrennen. Dies allgemein publizieren. Armeeoberkommando.»

Danach setzte ein allgemeines Massakrieren ein, Vergewaltigungen, Plünderungen, Brandschatzungen griffen um sich, je mehr das k.u.k. Heer in Schwierigkeiten geriet. Sein Vorstoß in Serbien scheiterte in den Wochen darauf. Auch um sich dem mächtigen deutschen Verbündeten als ebenbürtig zu erweisen, richtete man nun einen Angriff gegen die sowohl zahlenmäßig als auch technisch weit überlegene russische Armee. Die Front verlief in Galizien. Wieder fürchteten die Truppen, von «Spionen» bespitzelt und beschossen zu werden. Es war eine Furcht, für die es kaum einen Grund gab, die sich aber zu einer kollektiven Psychose steigerte.

August Urbanski von Ostrymiecz, zu dieser Zeit k.u.k. Kommandant an der Ostfront, erinnerte sich: «Windmühlen, brennende Objekte, harmloser Rauch, der aus ärmlichen Hütten aufstieg, flüchtende Viehherden, Lichter wurden im Fieber der Spionitis zu feindlichen Signalen.» Die Hinrichtungen von Ruthenen (Ukrainern), insbesondere Popen, aber auch von Juden, selbst von Frauen und Kindern, nahmen in der Folge ein vorher nicht gekanntes Ausmaß an. Belastbare Spuren dieses Mords sind die Fotografien, die Soldaten aufgenommen und verbreitet haben. Etliche trugen sie wie Talismane in ihren Taschen.

Dass das Verbrechen geschah, ist also beweisbar, aber nicht genau, wo, wann und wie oft. Holzer gibt die Zahl der Hinrichtungen in Galizien mit zwischen 11 400 und 36 000 an. Das sind Ziffern, die bereits Karl Kraus, der seine Informationen oppositionellen Zeitungen entnahm, in seinem dokumentarischen Drama Die letzten Tage der Menschheit anführt. Während einer Parlamentssitzung berief sich der ruthenische Abgeordnete Elias Ritter von Semaka auf Angaben von Offizieren und schätzte die Gesamtzahl der Opfer auf 30 000. Das würde aus diesen Massenhinrichtungen das zweitgrößte Kriegsverbrechen des Ersten Weltkriegs machen. Das größte war ohne Zweifel der Genozid an den Armeniern, der Hunderttausende das Leben kostete.

Jäger mit Beute

Holzer, der darüber klagt, dass die Historiker sich bis heute nicht mit den Exekutionen in Galizien befasst haben, neigt dazu, andere Verbrechen dieses Krieges zu verkleinern. Er behauptet, in deutschen Kriegsgebieten sei es «offenbar nicht zu Massenhinrichtungen ohne Gerichtsverfahren» gekommen. Doch wie er an anderer Stelle erwähnt, waren auf dem Vormarsch des deutschen Heeres in Belgien Massenerschießungen keine Seltenheit; Tausende Zivilisten starben, 674 allein in dem Ort Dinant. Die Deutschen waren nicht nur für Gräuel verantwortlich, sie deckten auch die ihrer Verbündeten. Reichskanzler Bethman Hollweg erklärte: «Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.» Dass auch die Bevölkerung Verbrechen begangen hat, insbesondere gegen Ende des Krieges an Juden in Galizien und anderswo, steht auf einem anderen Blatt.

Nicht nur eines, alle Verbrechen dieses lange verharmlosten Krieges sollten zur Sprache kommen. Was die Hinrichtungen in Galizien anbetrifft, hat Holzer wichtige Dokumente beigesteuert. Aber das Verstörende an seinem Buch ist nicht, dass es einen weiteren der Massenmorde aufdeckt, von denen das Jahrhundert so viele gesehen hat. Verstörend ist das «Lächeln der Henker», das Posieren der Täter und Schaulustigen, die Befriedigung auf den Gesichtern, die sich Lu Xun nur vorgestellt hat und die hier zu studieren sind, wie übrigens auf ähnlichen Fotos, die aus dem Zweiten Weltkrieg bekannt wurden.

Es lässt sich eine Wald-und-Wiesen-Psychologie bemühen, die auf die Genugtuung des Jägers über seine Beute verweist, auf das stolze Verwahren und Vorzeigen des Bildes als einer Trophäe, die von Macht kündet und Macht zu verleihen scheint. Aber derlei Erklärungen steigern nur noch das Staunen über diese unheimliche Wiederkehr des Archaischen in der Moderne. Dass Fotografien Fetische sein können, ist keine Neuigkeit, aber was das bedeuten kann, liegt hier ausgebreitet. Fotografie ist in mancher Hinsicht eine neolithische Technik.

Anton Holzer: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918 (Primus Verlag 2008)