Unruhiger Geist Der Gropius-Bau blickt in die Fassbinderfabrik

Rainer Werner Fassbinder ist nicht erst seit seinem 70. Geburtstag, den wir gerade begehen, keine terra incognita. Während die anderen deutschen Regisseure des 70er Jahre-Booms heute zu ihren Ehren-Bären diskursfrei und kritiklos durchgewunken werden, gibt es zu Fassbinder eine ernstzunehmende Literatur, die von den theoretischen Werken von Thomas Elsaesser bis zu dem Berlin Alexanderplatz-Buch Manfred Hermes’ reicht, aber natürlich auch immenses anekdotisches und Klatsch-Material umfasst, zuweilen von legendärer High Gossip-Qualität wie in Kurt Raabs/Karsten Peters’ Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder. Die Ausstellung im Gropius-Bau musste sich also entscheiden und erteilte erstmal dem Meister selbst das Wort: Zur Begrüßung sieht man RWF auf neun Monitoren in sehr unterschiedlicher Verfassung und zu ganz unterschiedlichen Zeiten den unterschiedlichsten BRD-Zeitgenossen antworten.
Aber jedes dieser, leider immer wieder abgebrochenen und auf dem nächsten Monitor, mit dem nächsten Talkfetzen fortgesetzten Gespräche hätte man gerne länger gehört. Selbst ein intellektueller Künstler wie Fassbinder war damals noch kein Diskursprofi wie heute jeder Fußballspieler; ähnlich wie man es auch bei alten Rudi Dutschke- und Ton Steine Scherben-Interviews erleben kann, paraphrasiert er zu Beginn seiner Antwort trotzig bis muffig die Frage, bevor er auf ihren Formulierungen widerwillig rumkauend manchmal gar nichts sagt, manchmal in grandiose Gedankenkaskaden gerät. Am besten ist er mit Freunden (Christian Braad Thomsen) oder wenn er beleidigt ist: Noch bei der Verfertigung der ersten beantwortenden Beiwörter sieht man, wie er sich überlegt, wie aggressiv er es diesem Trottel aber gleich zeigen wird; lohnt es sich noch bei aller Genervtheit das Gespräch fortzusetzen oder sollte man so derbe zurückbeleidigen, dass das Gegenüber die Wahl hat, entweder als Depp weiterzuleben oder sich vom Acker zu machen. Dann flackert wieder etwas in ihm und es siegt doch so eine nachsichtige Höflichkeit. Ein unruhiger Geist. Sehr sympathisch.
Dominant waren aber spätestens seit seinem Tod die Rezeptionszwischensummen Fassbinder I und Fassbinder II: zwei eng mit einander verknüpfte Konstrukte deutschen Geniekultes. Fassbinder I ist der unerschöpfliche Großkünstler, das Naturereignis, unerklärlich, nicht von dieser Welt, so viel Kaffee kann man gar nicht trinken, so viel Kokain gibt es in ganz Südamerika nicht. Und anders als Pollock, James Dean und Jimi Hendrix wird er in diesem Narrativ nicht direkt zum unglücklichen Opfer der Begleitumstände seiner Arbeit (schnelle Drogen, schnelle Autos), sondern seines Genies selbst. Er war zu genial für seinen Körper. Fassbinder II, in seinem Verschleiß von Körper durch Geist eng mit dem ersten verwandt, ist der Missbrauchs-Fassbinder, der Quäler seiner Schauspieler, der vampirische Kunstverrückte, der für eine gute Heulszene denjenigen, die ihn doch liebten, rücksichtslos Verletzungen beibrachte und absaugte, bis sie dem Personal seiner Melodramen glichen. Diese beiden mythologischen Charaktere haben bisher den Zugang zum planenden, kalkulierenden Künstler, aber auch zu Rainer Werner Fassbinder, dem dezidierten Vertreter politischer Inhalte in Die dritte Generation, in AchtStundensind keinTag, aber eben auch in Der Müll, die Stadt und der Tod nicht gerade leicht gemacht.
Takte der Seriousness
Die Ausstellung «Fassbinder – Jetzt» versucht diese beiden Typen und die Frage nach Fluch oder Segen deutschen Charismas bei Fassbinder und seinen Verehrern zu umgehen und die Rezeption zu versachlichen. Das gelingt, wenn auch teilweise um den Preis neuer Mythenstiftung, teilweise auch um den der Entschärfung dessen, wovon der Geniemythos zwar ungenügend und verdreht, aber eben auch nicht ganz grundlos redet: die historisch spezifische Explosivität eines Künstlers.
Wendet man sich von den Monitoren nach rechts, begegnet einem Fassbinder als apollinischer Kinokünstler. Dies ist sicher eine wenig behandelte Dimension seines Werkes. Formalisten findet man unter den großen Fassbinderverehrern wenige. Aber auch integraler denkende Cinephile seiner Generation haben ihn zu seiner Zeit nie sonderlich gemocht. In der Filmkritik kam er kaum vor; für deren Autoren war er zu Lebzeiten eher ein Ereignis erst des Theaters und eines abzulehnenden theatralen Kinos, dann des Mainstreams und des Fernsehens. Ohnehin hat er unter den 15 bis 20 Jahre Jüngeren mehr Fans. Hier wird uns nun zunächst die kreisende Kamera zum allerersten Charakteristikum von RWFs Filmkunst erklärt und anhand von zahlreichen Ausschnitten exemplifiziert. Ein weiterer Saal nennt (und zeigt) die klaustrophoben Räume und andere typische Settings. Aufwendig und eindrucksvoll schließlich die Präsentation der Roben und Ballkleider, die die Ausstellung ausdrücklich als Requisiten gesellschaftlicher Mobilität (nach unten) gefeiert wissen will. Fassbinders Geschichten sind Geschichten des sozialen Niedergangs.
Ein Grund für diese fast schon nüchternen Expositionen formaler Eigenheiten ist, dass man sich vorgenommen hat, Fassbinder mit zeitgenösssischer, von RWF inspirierter Kunst zu konfrontieren. Dafür braucht man dann vor allem formale, auch ein paar Stoff-Präferenzen um die Vergleichspunkte setzen zu können. In ihrer Abstraktheit generieren die aber so manche Beliebigkeit: Man muss schon sehr weit ausholen, um Jeff Wall und Fassbinder zusammenzuspannen, Ming Wong schlüpft halt immer in Figuren aus bekannten Spielfilmen – geht auch mit Fassbinder. Und Rirkrit Tiravanija steht wie viele Leute auf die so treffend missglückte Grammatik des Satzes AngstessenSeele auf– mehr auch nicht. Eher kann man bei den Mandarin Ducks, einer Art RWF-Soap von De Rijke/De Rooij – im Katalog von Anna Fricke schön auf den Begriff der «realistischen Künstlichkeit» gebracht –, das Spezifische eines Fassbinder-Bezugs in Gegenwartskunst produktiv werden sehen. Und natürlich bei Runa Islam, die darauf spezialisiert ist, Kamerabewegungen als solche zu dramatisieren, aus ihrer dienenden, demarkierten Funktion herauszuemanzipieren und auf der zentralen Bühne zu zelebrieren. Sie nimmt sich dafür die frontale Nichtbegegnung in symmetrischer Kunstlandschaft von Karlheinz Böhm und Margit Carstensen in Martha vor: sehr schön – okay, das Material hätte auch nicht unbedingt eine Fassbinder-Szene sein müssen.
Der lohnende Katalog hängt diesen Aspekt – Fassbinder als Komponist ganz bestimmter Bilder – noch etwas höher und fährt noch ungleich mehr und still haltendes Material mit typischen und prototypischen Setfotos auf. Die Ausstellung hat sich indes auf der anderen Seite, links von den begrüßenden Interviews noch einen anderen Fassbinder ausgedacht: Seine wahnsinnige Produktivität wird hier aus der Genie-Ecke heraus ein paar Zentimeter ins Bürokratische verschoben. Es sind detailversessene Drehpläne, handschriftliche Genauigkeitsexzesse von Robertwalserscher Verrücktheit, aber auch komplizierte Gehaltsberechnungen, die aussehen wie die Lohnlisten des Dr. Mabuse: Wieviel Prozent müssen wir den Schauspielern sofort zurückzahlen, wieviel Geld fließt in das Vermögen einer Firma, die erst dann den Rest auszuzahlen beginnt, wenn der Film Geld einspielt? Und so fort. Fassbinder ist auch hier derjenige, der «schlafen kann, wenn ich tot bin», aber wachend hat er anscheinend nicht nur Darsteller angeherrscht und in der «Deutschen Eiche» gekokst, sondern war ein echter Chef einer Firma, in der das Licht nie ausging.
Dieser unerschöpfliche Arbeiter der kreativen wie administrativen Baustellen ist natürlich auch die passende Aktualisierung des sich verzehrenden Genies für die heutigen Opfer der allgemeinen Selbstausbeutungsökonomie. Nicht nur der Creative Director, auch der Kontakter und der Mediaplaner sind jetzt Fassbinders Erben, wenn sie mit Herzrhythmusstörungen aus der Agentur getragen werden. Natürlich ist dieser Blick in die Fassbinderfabrik auch eine nötige Korrektur von Klischees. Beim zweiten Hinsehen fällt allerdings auf, dass die Hälfte der Listen und Tabellen von treuen Mitarbeitern wie Harry Baer und anderen verkannten Borderline- Buchhaltern des Clans stammen: Der Chef konnte auch delegieren.
Nichts reicht indes an die Eindrücke heran, die von hier gezeigten Original-Szenen wie der Ausspähung einer Kneipe in Rio Das Mortes ausgehen, eine der kreisenden Kamerafahrten zu der zarten Country-Tristesse «Ruby, Don’t Take Your Love to Town» von Kenny Rogers & The First Edition. Man hat dann wieder ganz andere Fragen, die keine Ausstellung beantworten kann. Niemand erklärt mir, warum diese Ansammlung von leicht aufgepeitschten, teils angeschickerten, als Schauspieler erkennbaren, ihre ironischen Stimmungen nicht versteckenden, platt oder auch sexy posierenden, frisch kostümierten Figuren, die auch gleich loslachen könnten, so massiv und überdeutlich als ernst herüberkommen, als komplett unrelativierbar ernst gemeint – so ernst wie der Abgrund von Macho-Verzweiflung in dem leisen Liedchen des gelähmten Vietnam-Veteranen, der seine junge Frau Abend für Abend ausgehen sieht? Oder wie man es schafft, so eine dichte Packung von Text, einander überlagernder Action samt Bresson-Film im Fernsehen und Panorama-Stadtlandschaft von Westberlin, in eine Szene wie die Eröffnung der DrittenGenerationreinzustopfen, ohne auch nur eine Sekunde aus dem eleganten Takt dieser Seriousness zu kommen?
Man konnte sich die Zeichen, die Atmosphären, die Songs, den Fummel noch einfach greifen. Nichts gehörte jemand, nichts ist belegt. Ein Fummel und ein Song hat zwar Kontext und Herkunft, aber die sind noch so locker einsortiert, dass man massiv in sie hineinschlüpfen und ihnen neue Kontur geben kann. Fassbinder hatte bei aller Melancholie und allem Sarkasmus einen starken Glauben an gesellschaftliche Veränderung. Er starb noch vor der postpolitischen Wende des Helmut Kohl, wenngleich auch ihn schon die Regierung Schmidt ziemlich desillusionierte, und verschob – wie man sehr schön von Christian Braad Thomsen in seiner nicht überall laufenden, dafür deutlich besseren Fassbinder-Doku erklärt bekommt – seinen Fokus von erkennbar gesellschaftlich verursachtem Leid zu metaphysischen Schmerzen, zu Tod und Wahnsinn. Dennoch ist die Aussage in einem gar nicht so frühen Interview, er wolle mit seinen Filmen zu einem Land beitragen, in dem er gerne leben würde, so weit weg und von den Einlassungen heutiger politisierter Kunst deutlich weiter entfernt als Fassbinders Mutter Küster (1975) von Piel Jutzis Mutter Krause (1929).
«Fassbinder – Jetzt» noch bis zum 23. August 2015 im Martin-Gropius-Bau