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Und Trotzdem Notizen zu zwei frühen Filmen von Maurice Pialat

Von Rainer Knepperges

L’enfance nue (1968)

© Eureka Entertainment / Janusfilms

 

«Im Gedächtnis und in den Filmen sammeln sich die Dinge, die nicht länger zu begreifen sind», heißt es am Anfang von L’amour existe, Pialats Kurzfilmessay über den Pariser Stadtrand, von 1960. Wütende Bestandsaufnahme und zärtliche Beobachtung, mit stummen, verzaubernden Kamerafahrten und Musik von Delerue, darüber die Worte: «Palais, Palace, Eden, Magic, Lux, Kursaal. Die schönste Nacht der Woche begann am Donnerstag Nachmittag.»

Ein Kind wünschte sich gestern im Radio «Wir sind die Roboter, von Kraftwerk» und grüßte seine Großeltern. Ich aß dabei Hummersuppe, die ich vor Jahren in Hamburg als Würfel gekauft hatte, und deren kaum lesbares Verfallsdatum endgültig erreicht war. Eine Hornisse kam durchs Küchenfenster, laut wie ein Staubsauger, sicher ohne mir Angst machen zu wollen. Aber erst als das Insekt, das ich wegen seiner Größe gerechterweise «Tier» nennen möchte, wieder am blauen Himmel verschwand, konnte ich weiter über Maurice Pialat nachdenken.

Tiefe Heiterkeit

In die Abstände zwischen Tätigkeiten und Ereignissen murmelt das Leben die Worte «und dann». Der einigermaßen geschickte Erzähler verwendet lieber «und deshalb». So verwandeln sich Ereignis und Tätigkeit in Lohn und Strafe, im besten Fall Arbeit in Abenteuer. Das selten erreichte Ideal in Geschichten ist überraschende Zwangsläufigkeit. Maurice Pialat war schon 42, als er anfing Spielfilme zu drehen. 10 Stück füllten lose die zweite Hälfte seines Lebens, das 1925 begann und 2003 endete. In seinen Filmen hat er den Mut besessen, als «ungeschickter» Erzähler zu gelten, indem er «deshalb» durch «trotzdem» ersetzte. Diese Abweichung vom Ideal ist eine zwangsläufige Überraschung. Und man kann wohl sagen, dass sie zwei Generationen von Kritikern ins Rätselkoma stürzte.

L’enfance nue (1968) erzählt, wie ein kleiner Junge die schlimmsten Sachen anstellt und trotzdem die Zuneigung von Pflegeeltern erfährt und trotzdem noch Schlimmeres verbricht und trotzdem geliebt wird. Oft wurde der Film interpretiert als Fabel von Einem, der die Zuneigung der Anderen auf die Probe stellen will. Und deshalb der ganze Ärger. Der Irrtum dieser Deutung ist noch größer als der Unterschied zwischen Psychologisierung und Sympathievergabe. Gut erklärt und gut erzählt wird immer böse verwechselt. Also heißt es, Pialats Filme seien voller Risse und Brüche, sie bestünden aus unverbundenen Blöcken. Doch es rumpelt nur für den, der im Nachhinein solides trotzdem gegen mürbes deshalb tauscht. Der Irrtum ist wohl zu verstehen, denn in einer, wenn auch nur vorgestellten Welt der Belohnungen und Strafen, der Konsequenzen und Verdienste zu leben, ist leichter, als in unserem ungerechten Universum, nach dessen Formel Pialat seine Filme baut: ein Leben in nackter Einsamkeit oder in unverdienter Liebe.

Van Gogh (1991) zeigt nicht das Leid eines unverstandenen Malers sondern das Glück eines Mannes, der sich dann trotzdem umbringt. In Loulou (1980) prügeln sich zwei Männer wegen einer Frau, und nachher werden schüchtern drei Bier bestellt. In La gueule ouverte (1974) liegt eine Mutter im Sterben, und trotzdem benimmt sich ihr alter Mann wie ein lüsterner Greis. Und trotzdem verhält sich der erwachsene Sohn nicht viel anders. Um die Stimmung in Pialats Filmen zu beschreiben, fällt mir nichts besseres ein als: tiefe Heiterkeit.

Aus-der-Rolle-fallen

In Loulou sieht man, wie Isabelle Huppert, gerade noch geohrfeigt, anfängt zu lachen, nicht aus Spott. Sie muss einfach lachen. An anderer Stelle des Films ist auch Depardieu amüsiert – über die Lächerlichkeit eines Messerstichs. Mein Verdacht, ob Pialat hin und wieder das Aus-der-Rolle-fallen eines Darstellers als Natürlichkeit im Film beließ, wird mir zur Gewissheit, wenn der grandiose Hubert Deschamps in La gueule ouverte versucht, ein ungewolltes Lachen (über die Weitschweifigkeit seines Besuchers) hinter einer Geste zu verbergen. Und sieht es nicht aus, als wende sich Leotard im Hintergrund ab, weil auch er sonst lachen müsste?

Chabrol hat voller Bewunderung nach L’enfance nue sehr treffend prophezeit, Pialat werde mit professionellen Schauspielern genauso arbeiten wie mit Laien, die selbe verblüffende Echtheit erzielen. Wie? Ich muss dabei an Cukors My fair Lady denken, wo Rex Harrison darauf beharrt, ein Blumenmädchen wie eine Lady zu behandeln – und eine Lady wie ein Blumenmädchen. Das demokratische, also komödiantische Herz Pialats ist unmöglich zu übersehen, wenn in L’enfance nue das Lust-Heftchen am Küchentisch von Hand zu Hand wandert, von der Jugend zum Alter. Ein Märchenschauplatz, kein Idyll, aber ganz meine Welt. Als ich Anfang der 90er «für mich», wie man so sagt, Pialat «entdeckte», da galt meine Bewunderung, zufällig, auch Ford und Brynych und Schneider. Wie Phillip Leotard nach einem Schäferstündchen mit Nathalie Baye sich beim Anziehen sein Hemd in die Unterhose steckt und staunt: «Jetzt stecke ich schon das Hemd in die Unterhose!» Da sage ich doch: Pialat und Ford und Brynych und Schneider; kein Zufall, eine Linie, ein Quadrille!

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